Schlagwort-Archive: Komplexität

Patentrezepte reichen nicht. Steigende Anforderungen an Organisationen und ihre Führung.

07/2017, von Benedikt Jürgens

…Patentrezepte, Tools und einfache Lösungen helfen Managern und Führungspersönlichkeiten jedenfalls angesichts der rasant steigenden Komplexität nicht weiter. Vielmehr brauchen sie einen weiten Horizont, ein tiefes Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen und damit der Kontingenz der zahlreichen Organisations- und Führungsmodelle. Schließlich benötigen sie vor allem die Fähigkeit und den Mut, eigene Modelle zu entwickeln, die an die jeweilige Organisation und ihr Umfeld anschlussfähig sind, für die Führungskräfte verantwortlich sind. Die Führungskräfte von morgen müssen so sorgfältig wie noch nie auf ihre Aufgabe vorbereitet werden…. Mehr dazu.

Organisationsentwicklung: „Typische Reaktionen auf die gestiegene Komplexität ist die Intensivierung der zentralen Steuerung oder auch von Planung und Kontrolle. Erreicht wird damit das Gegenteil von dem, was eigentlich gesucht wird…“

05/2016, von Detlev Trapp

„…
Wo Dinge nicht mehr nur kompliziert und damit beherrschbar sind, versagen viele der tradierten Steuerungslogiken und Bauprinzipien für Organisationen. Einer komplexen Umwelt kann man nicht mit Lösungsmustern begegnen, die für komplizierte Verhältnisse noch geeignet waren. Gleichwohl reagieren viele Führungskräfte auf die VUKA-Herausforderungen damit, dass sie der neuen Situation mit den ihnen bekannten Lösungsmustern begegnen.

Sie setzen auf die Erfolgsmuster, die sie aus der Vergangenheit kennen und übertragen diese in die Gegenwart. Typische Reaktionen auf die gestiegene Komplexität ist die Intensivierung der zentralen Steuerung oder auch von Planung und Kontrolle. Erreicht wird damit das Gegenteil von dem, was eigentlich gesucht wird: die Binnenkomplexität und das Stresslevel steigen, die Systeme werden starrer, Entscheidungsprozesse werden deutlich langsamer und die Organisation kann mit der Dynamik des Umfelds nicht mehr Schritt halten.

Und es sind weitere Erkenntnisse, die ein Umdenken erfordern. Die jährlich durchgeführten Untersuchungen des Gallup Instituts zeigen eine erschreckend geringe Identifikation der Arbeitnehmer mit ihrem Job. Durchschnittlich 70 % der Mitarbeiter machen Dienst nach Vorschrift, 15 % haben innerlich gekündigt und nur 15 % sind emotional stark an ihr Unternehmen gebunden. …“ Zum Artikel.

Anm. F.S.: Beispiele für traditionelle Reaktionsmuster und Steuerungslogiken kennt man aus den Umbauprozessen der Kirchen.

Kurswechsel in der evangelischen Kirche? Bemerkenswerte Einsichten zum Management in der Kirche bei Bischöfin Ilse Junkermann, EKM

Hier in den Wort-Meldungen kommen Führungskräfte der evangelischen Kirche selten zu Fragen der Führungstheorie (des Managements also) zu Wort. Der Grund liegt darin, dass in besagtem Personenkreis im letzten Jahrzehnt selten ein der Kultur des Protestantismus entsprechender Ansatz vertreten wurde. Leitend war vielmehr ein Reformkonzept der Reduktion auf Kernkompetenzen („sollte sich die bewusst auf Kernkompetenzen… konzentrieren“), der Reduktion von Komplexität („…komplexe Strukturen gehören im Berich der Kirche noch zur Alltagsrealität. Mehr Effektivtät heißt hier das Ziel“). Das alles auf der Basis von „Strukturreformen, Verbesserungen in den internen Abläufen, systematisches Mitarbeitermanagement“.  Alles Zitate, die das inhaltliche Fundament einer auf linearen Wachstumszielen und Reduktion von Komplexität beruhenden Reform beschreiben. Zitate, die entnommen sind einem „Gottes Hände tragen uns“ überschriebenen Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 08.03.2002. Autor: Peter Barrenstein. Inhaltlich kennt man das Konzept vom Impulspapier „Kirche der Freiheit“.

Das war ein Weg mit enormen Risiken. Wir greifen das Beispiel Komplexität heraus, auf das Bischöfin Junkermann in ihrem Bischofsbericht rekurriert. Die Gefahren hier:  „‚Höhere Fähigkeiten erwachsen nur aus mehr Komplexität.’Dieser Umstand wird häufig übersehen. In zahlreichen, einschlägigen Büchern findet man Passagen, die sinngemäß lauten, dass man die Komplexität eines Systems reduzieren müsse, um es unter Kontrolle zu bringen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Selten wird die damit einhergehende Gefahr erwähnt, das System selbst und seine wichtigsten Eigenschaften und Fähigkeiten zu zerstören.“ (Fredmund Malik, Management, S. 46). Genau dies scheint aber in der Kirche eingetroffen zu sein, dass nämlich wichtigste Eigenschaften und Fähigkeiten durch die sog. Reformen zerstört wurden. Denken wir nur an die intrinsiche Motivation der Mitarbeiterschaft. Denken wir an Vertrauen. Vieles mehr wäre zu nennen.

Auf diesem Hintergrund ist der folgende Abschnitt des Bischofsberichts von Bischöfin Ilse Junkermann, EKM, überaus bemerkenswert. Denn dort wird der Frage komplexer Systeme nicht ausgewichen. Und man wird der von ihr entwickelten Theorie folgen können. Leider fehlen Schlussfolgerungen für die Praxis. Als da wären:

1.  eine kritische Haltung  und Abwendung von den bisherigen Kirchenreformen. Das wird so leider nicht offen benannt.

2. die aktuelle Lage der ev. Kirche. Ein Kurswechsel der Kirchenpolitik beginnt leider nicht bei null, sondern mathematisch ausgedrückt, im Minusbereich:  Die Reformen haben bisweilen erhebliche Schäden angerichtet, die Situation ist verfahren.

Was zu tun wäre, beschreibt und fordert die Pfarrvertretung der EKiR dieser Tage. Die Bischöfin sollte sich also der Erklärung der EKiR- Pfarrvertretung anschließen. Denn eine gute Theorie ist nur der erste Schritt. (F.S.)

„In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg!“ – Bericht der Bischöfin Ilse Junkermann vor der Synode der EKM am 19. bis 22. November 2014 in Erfurt

„2.1. Sich bewegen in komplexem Gelände – Der wissenschaftliche Fokus
Was wir im Rückblick erkennen, gilt auch für unser Ausschau halten: Wir können beim Gehen eines Weges nicht vorher wissen, was unterwegs für gute Lösungen entstehen werden. Das mag jetzt in Ihren Ohren wie eine Floskel klingen. Doch darin liegt eine tiefe Wahrheit, die wir nicht ernst genug nehmen können beim Ausschau halten. Vor wenigen Wochen ist mir eine wissenschaftliche Reflexion aus der Prozesstheorie und Komplexitätsforschung begegnet, die diese Wahrheit sehr einleuchtend belegt und die ich Ihnen in der gebotenen Kürze für unseren Ausblick heute darstellen möchte. In ihrem jüngst erschienen Band „Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität“ 5 legt das Gemeindekolleg der Vereinigten Evangelisch- Lutherischen Kirche Deutschlands, das seit 2008 im Zinzendorfhaus in Neudietendorf seinen Sitz hat, ein bemerkenswertes Buch vor. Sein Leiter, Direktor Professor Dr. Reiner Knieling und Studienleiterin Pfarrerin Isabel Hartmann stellen darin die These auf, dass wir in der Kirche sehr häufig Entscheidendes verwechseln. Wir verwechseln, so ihre These, „komplizierte Probleme“ mit „komplexen Problemen“. Deshalb geraten wir mit unseren Problemlösungsstrategien leicht in Sackgassen…

Wir haben als Kinder unserer Zeit alle miteinander durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gelernt, dass viele Probleme aus dem komplizierten Terrain in den letzten Jahren gelöst werden konnten. Deshalb sind wir versucht, alles für ‚kompliziert’ zu halten und damit für prinzipiell lös- und machbar, auch in der Kirche.
Der Dreischritt für die Bewegung im komplexen Gelände nach Hartmann / Knieling ist aber ein anderer. Er lautet: Probieren – Wahrnehmen – Reagieren. Ich zitiere: „Auf komplexem Terrain ist die Lösung nicht vorhersagbar, sondern sie entwickelt sich auf dem Weg. … Auf dem gemeinsamen Weg von Versuch und Irrtum und Reflexion und neuem Versuch und Irrtum tauchen Ideen auf, erwachsen Lösungswege und Handlungen.“  Der Fachbegriff in der wissenschaftlichen Debatte dafür ist „Emergenz“ – von lateinisch: emergere, d. h. „auftauchen (lassen)“ bzw. „entstehen“. Diese Emergenz bedeutet, ich zitiere weiter, „dass das, was sich entwickelt, mehr ist als die Summe der einzelnen Teile, aus denen es besteht“ …

Reiner Knieling und Isabel Hartmann plädieren in ihrem Buch für die „Förderung einer Kultur, in der Lösungen entstehen können, die nicht einfach aus dem Repertoire des Bestehenden generiert werden, sondern aus der Komplexität selbst heraus emergieren.“

Sie beschreiben Aspekte dieser emergenz-freundlichen Kultur. Dazu gehören Dinge, mit denen wir uns erst anfreunden müssen. Es sind Dinge wie:

Zaudern und Innehalten: Ich zitiere: „Zaudern ist ein erster Schritt, die Komplexität als solche ernst zu nehmen. Zaudern hegt Verdacht gegen Lösungen, die den Eindruck der Machbarkeit erwecken. … Zaudern ist eine geistliche Haltung, die aus dem Vertrauen auf Gott erwächst“

Intuition: Durch Gespür den Dingen auf die Spur kommen. Die Intuition hat – auch in der Kirche – häufig keine gute Presse, wer von „Intuition“ redet, macht sich verdächtig, ein Schwärmer zu sein. Die wissenschaftliche Debatte, z. B. in der Bildungsforschung, aber auch in der Ökonomie und in der Philosophie ist hier weiter. Für bestimmte Fragestellungen ist Intuition ein sehr präzises Werkzeug.
Und ein 3. Aspekt: Netzwerkorientierung für die Bewegung im komplexen Gelände: Netzwerke brauchen nicht initialisiert werden, sie sind bereits vorhanden. Netzwerke haben keine Grenzen und keine Formalitäten. Sie basieren auf Vertrauen…“  Zum Bischofsbericht:

‚Nur falsche Prognosen sind gute Prognosen‘ – Das Problem von Prognosen bei komplexen Systemen. Von Wolfgang J. Koschnick.

Eine gründliche und solide Analyse zur Problematik von (Langfrist-) Prognosen bei komplexen Systemen, die auf das komplexe System Kirche übertragbar ist.

21. Mai 2014.

Nur falsche Prognosen sind gute Prognosen und das ist auch ganz gut so. Eine sehr gute Zusammenfassung des Problems von Prognosen.

„Hellseher, Wahrsager, Kaffeesatzleser, Spökenkieker, Astrologen und Ökonomen haben eine Gemeinsamkeit: Ihre Prognosen gehen meist in die Hose. Und wenn sie das ausnahmsweise einmal nicht tun, ist das reiner Zufall…“

Das hat Gründe:

„… Komplexe Systeme haben einige Charakteristika, die sie deutlich von anderen unterscheiden – auch von bloß komplizierten Systemen:

Sie sind agentenbasiert: Sie bestehen aus einzelnen Teilen (Agenten), die miteinander in Wechselwirkung stehen (Menschen, Konsumenten, etc.) und jeder für sich agieren.
Sie sind nichtlinear: In komplexen Systemen besteht eine große Empfindlichkeit für kleine Abweichungen in den Startbedingungen. Geringfügig veränderte Anfangsbedingungen können im langfristigen Verlauf zu völlig anderen Entwicklungen bei verschiedenen Systemen führen. Veranschaulicht wird das am Beispiel des „Schmetterlingseffekts“ und der Annahme, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. Die Wirkzusammenhänge der Systemkomponenten sind im Allgemeinen nichtlinear.
Sie haben emergente Eigenschaften: Infolge des Zusammenspiels seiner Elemente bilden sich spontan neue Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems heraus. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf isolierte Eigenschaften seiner Elemente zurückführen. Sie lassen sich auch nicht aus der isolierten Analyse des Verhaltens einzelner Systemkomponenten erklären. Sie sind Systemeigenschaften.
Ihre Komponenten interagieren: Komplexe Systeme bestehen aus einer Vielzahl von Einzelkomponenten, die auf vielfältige Weise miteinander interagieren. Die Wechselwirkungen zwischen den Systemkomponenten sind lokal, ihre Auswirkungen in der Regel global. Ein komplexes System ist daher ein System mit multiplen Interaktionskomponenten, dessen Verhalten nicht vom Verhalten der Komponenten hergeleitet werden kann…“

… Fehlprognosen als Regelerscheinung
Deshalb ist der Prognose-Kalauer „Prognosen treffen nur ein, wenn die Leute sich auch bedingungslos an die Prognose halten“ von doppeltem Wert: Als Kalauer ist er lustig und als Beschreibung der Wirklichkeit trifft er den Nagel auf den Kopf. Die Modellrechnungen, die einer Prognose zu Grunde liegen, können die wahre Komplexität der Wirklichkeit nicht annähernd beschreiben. Und daher sind ihre Parameter nur vorsichtige Näherungen. Wenn sie sich anders als in der Rechnung vorgesehen ändern, wird die Prognose falsch. Und wenn sie sich stark ändern, kann sich gar die Richtung der Prognose ändern. Aus prognostiziertem Wachstum wird dann Niedergang.“ Die vollständige Analyse.

 

Alternativen zum Top-down- Management

Prof. Fredmund Malik, Vertreter der St. Galler Schule, skizziert in einem Artikel im Dt. Pfarrerblatt einen alternativen, systemisch-kybernetischen Managementansatz.

Wirtschaft und Gesellschaft gehen durch eine der grössten Transformationen, die es in der Geschichte je gegeben hat. Was sich vollzieht, ist ein riesiger Paradigmenwechsel, der überaus riskante Turbulenzen mit sich bringt. Es ist nichts weniger als ein Übergang von einer Alten Welt zu einer Neuen Welt. Dieser Übergang wird tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen in der Technologie und der Wissenschaft sowie in den sozialen Wertestrukturen der Menschen (insbesondere der jungen Generation), ihrer Weltperspektive und ihres Weltgefühls. Die »Große Transformation 21« verändert fundamental fast alles, was Menschen tun, warum sie es tun, und wie sie es tun…

In den Revolutionen, die die »Große Transformation 21« mit sich bringt, steckt das Potential der Zerstörungskraft einer sozialen Kernschmelze, gleichzeitig aber auch eines neuen Wirtschaftswunders und einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung des humanen Funktionierens. Um diesen Übergang von der Alten zur Neuen Welt bewältigen zu können und die Ressourcen in die kritische Entscheidungszone zu bewegen ist ein revolutionär neues Management notwendig. Herkömmliche Mittel genügen nicht mehr, denn diese haben die heutige Weltkrisenlage maßgeblich herbeigeführt