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2013_September Postdemokratie

Demokratie als Lebensform

von Martin Honecker

Die heutige westeuropäische Demokratie ist eine Folge historischer Erfahrungen. Damit ist sie veränderbar und reformierbar. Doch auch eine Erosion des bisherigen demokratischen Systems ist nicht auszuschließen. Martin Honecker fragt nach dem Verhältnis der evangelischen Kirche zu Staat und Demokratie und nach den Aufgaben, die sich der Kirche wie einzelnen Christen in einer politischen Kultur der Zukunft stellen. Zum Artikel.

Demokratie ist schön. Aber sie macht viel Arbeit. (Karl Valentin)

Wenn man derzeit das politische Geschehen verfolgt, kann man Karl Valentin nur zustimmen. Wir Bürger müssen schauen, was uns gezeigt wird – und durchschauen, was im Hintergrund eigentlich abläuft…

Politiker wechseln in die Wirtschaft. Lobbyisten arbeiten in der Politik. Solche personelle Platzwechsel gefährden die Demokratie. (Vgl. „Die Unterwanderte Demokratie“).

Solche Platzwechselspiele werden aber nicht allein von Individuen vollzogen, sondern auch von Institutionen. Wir erinnern uns an das Verfassungsgerichtsurteil, das den Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt. Eine Entscheidung, die der frühere CDU- Minister Schäuble lange Jahre zuvor auf politischem Wege herbeiführen wollte, aber immer am parlamentarischen Widerstand scheiterte. Das Verfassungsgericht hat diese Aufgabe für die Politik erledigt. Ergo: eine eigentlich die die Kompetenz der Politik fallende Entscheidung wird an einem anderen Ort – dem Gericht – zugunsten einer bestimmten politischen Interessengruppe entschieden.

 

Ähnliche, kompetenzüberschreitende Vorstöße von Institutionen konnte man auch in den zurückliegenden Monaten feststellen:

Ab dem Jahr 2020 dürfen die Länder wegen der „Schuldenbremse“ nur noch konjunkturell bedingte Schulden aufnehmen.  Baden-Württemberg soll deshalb 30.000 Stellen im öffentlichen Dienst streichen, so der dortige Rechnungshof.

Der Fall des baden-württembergischen Rechnungshofes zeigt: „Angesichts der Schuldenbremse wird es in den nächsten 15 Jahren nur dann möglich sein, Sicherheit und Daseinsvorsorge zu garantieren, wenn die Einnahmen des Staates verbessert werden“.  Mit weniger Beamtinnen und Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst dürfte diese Garantie kaum zu leisten sein.“ Zur Quelle.

Thomas Bernauer et al.: Einführung in die Politikwissenschaft. Studienkurs Politikwissenschaft. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2009, S. 32.)

Die Rechnungshöfe machen also Politik. Was reitet sie dabei?

Was also sind die Aufgaben von Rechnungshöfen? Beispielhaft sei dies anhand des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz dargestellt. In der Selbstdarstellung heißt es:

Aufgabe des Rechnungshofs ist insbesondere die Prüfung

  • der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Landes einschließlich seiner Sondervermögen und Betriebe,
  • etc.“

Entscheidend sind dabei die Prüfungsmaßstäbe. Es heißt weiter:

Prüfungsmaßstäbe sind die Ordnungsmäßigkeit sowie die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Verwaltungshandelns (§ 90 Landeshaushaltsordnung).

Unter Ordnungsmäßigkeit ist nicht nur die buchhalterische Korrektheit, sondern ganz allgemein die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu verstehen.

Unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit wird geprüft, ob

  • das günstigste Verhältnis zwischen dem verfolgten Zweck und den eingesetzten Mitteln sowie
  • die Beschränkung der eingesetzten Mittel auf den zur Erfüllung der Aufgabe notwendigen Umfang

angestrebt und erreicht wurde.“

Die Ordnungsmäßigkeit bezieht sich auf ungesetzliches Verhalten, sog. dolose Handlungen. Sie bleiben hier außen vor. Die Wirtschaftlichkeitsprüfungen stehen heute im Vordergrund. Es geht um die Prüfung der Zweck-Mittel-Relation. Dies wird auf zweierlei Weise präzisiert. Es geht auch im Falle Beschränkung der Mittel auf den zur Erfüllung der Aufgabe notwendigen Umfang um die Prüfung der Angemessenheit des Mitteleinsatzes für die von der Politik definierten Aufgaben.

Das also ist die Aufgabe der Rechnungshöfe/Rechnungsprüfungsämter. Der baden-württembergische Rechnungshof hat also nicht darüber zu entscheiden, ob das Land seinen Beitrag zu Stuttgart 21 streichen soll oder 30.000 Lehrerstellen. Das hat nicht der Rechnungshof, das hat auch nicht das Verwaltungsgericht, das muss, soll und darf das Parlament entscheiden – und verantworten. Der Rechnungshof könnte wohl aber mit seiner Kompetenz darlegen, ob die Zweck-Mittel-Relation etwa bei Stuttgart 21 oder in der Bildungspolitik angemessen sind (s.o.).

Die Demokratie basiert auf Gewaltenteilung. Und darauf, dass die Institutionen die ihnen jeweils innerhalb des Systems zugewiesenen Funktionen wahrnehmen. Rechnungshöfe sollten also bei ihren eigenen Aufgaben bleiben. Da ist wahrlich genug zu tun. Sie würden damit der Demokratie einen guten Dienst erweisen. Und den Bürgern die Arbeit ersparen, über die Einhaltung des Auftrages der jeweiligen Institutionen zu wachen. So lange das nicht geschieht, gilt Karl Valentins: „Demokratie ist schön. Aber sie macht viel Arbeit.“

Friedhelm Schneider

 

 

Die unterwanderte Demokratie – Der Marsch der Lobbyisten durch die Institutionen

von Werner Rügemer

Exakt vier Monate vor der Bundestagswahl sorgte Ende Mai die Mitteilung für Schlagzeilen, dass Eckart von Klaeden, bislang Staatsminister im Kanzleramt und damit Teil des engsten Führungskreises um Angela Merkel, nicht mehr für das Parlament kandidiert, sondern zum Ende des Jahres Cheflobbyist des Daimler-Konzerns werden wird. Dieser Fall ist nur das jüngste Beispiel dafür, wie eine Person aus dem engsten Machtzirkel fast ohne jede Karenzzeit die Seiten wechselt, um für die Wirtschaft auf die Politik einzuwirken. Dieser Vorgang betrifft allerdings nur die herkömmliche, gewissermaßen klassische und zum Glück inzwischen keineswegs mehr unkritische Vorstellung, die wir von „Lobbyismus“ haben. Sie besagt: Lobbyisten wirken von außen in das Parlament, in die Regierung, in die Verwaltung und in die Parteien hinein. Und in der Tat: Diese Art Lobbyismus besteht nach wie vor und expandiert unvermindert weiter.[1]

Weitaus wichtiger ist jedoch eine neue Form des Lobbyismus, die noch gar nicht als solche bezeichnet wird: Diese Lobby sitzt längst im Staat, und vielfach wird sie von ihm sogar bezahlt. Dagegen helfen keine Karenzzeiten und auch nicht das schönste Lobbyregister, wie es gegenwärtig vielfach vorgeschlagen wird.[2]

Zum Artikel in den Blättern für Dt. und Internationale Politik.

 

Das Ende der Nachkriegsdemokratie

Der Klassenkampf ist zurück. Überall im Westen wollen die Menschen wissen, wer für die Krise bezahlt. Dabei ist dies längst entschieden: Bei der Verteilung der Konkursmasse des Schuldenstaats zählen die Ansprüche der Gläubiger mehr als die seiner Bürger. Der europäische Wohlfahrtsstaat ist Geschichte. Der Artikel der SZ über Wolfgang Streeks „Ende der Nachkriegsdemokratie“

 

Die Fiskalkrise der Währungsunion stellt die kontinentaleuropäische Variante einer weltweiten Entwicklung in den reichen Demokratien dar, in deren Verlauf ein zweiter Souverän in Gestalt der internationalen „Finanzmärkte“ zu den Staatsvölkern und mit diesen konkurrierend hinzugetreten ist. Heute ist offenkundig und fast schon selbstverständlich, dass die gewählten Regierungen der Länder des demokratischen Kapitalismus zwei Herren auf einmal dienen müssen, deren Ansprüche oft nicht gegensätzlicher sein könnten.

 

Die Fiskalkrise und die Einheit Europas von Wolfgang Streek, In: Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2012, 7–17.

 

 

Keine Demokratie innerhalb der Kirche?

IV: In der aktuellen Statistikbroschüre der EKD heißt es: »Kirchenleitung zeichnet sich im deutschen Protestantismus auf allen Ebenen durch demokratische Strukturen aus«5. Das Vorwort der Broschüre stammt vom Ratsvorsitzenden, Präses Nikolaus Schneider.

V: Zu Beginn des Jahres 2013 schlug eine von Reinhard Höppner geleitete Kommission der Synode der Evang. Kirche im Rheinland (EKiR) vor, diese Landeskirche möge sich eine neue Kirchenverfassung geben, in welcher der innerkirchlichen Gewaltenteilung künftig mehr Gewicht zukommen solle. Präses Nikolaus Schneider lehnte dies mit Berufung auf die Barmer Theologische Erklärung ab. Die Synode sei in einem gewissen Sinne Exekutive, Legislative und Judikative in einem. Schneider wörtlich: »Damit ist sie im politischen Sinn nicht demokratisch.«6

Was gilt denn nun?

Aus: Demokratie innerhalb der Kirche? von Eberhard Pausch.

Verfassungsrecht oder Gnadenrecht ?

In einer früheren Ausgabe des Hess. Pfarrerblattes erschien der Artikel „Protestantismus ohne Partizipation“ von Friedhelm Schneider. Der Artikel bemängelt die Aushöhlung demokratischer Rechte der kirchlichen Basis am Beispiel der Dekanatsfusionen der EKHN. In einem Leserbrief desselben Organs antwortete der Synodale Weißgerber. Er stellt dar, die Synode könne – unabhängig von der Regelung des novellierten Kirchenrechts –  sehr wohl weiterhin auf die Stimme der Dekanate hören und deren Stimmungen in ihre Entscheidungen einbeziehen. Da das Hess. Pfarrerblatt Reaktionen auf Leserbriefe nicht zulässt, erfolgt die Verfassungsrecht oder Gnadenrecht?

Die Agonie einer Kirchenverfassung

Von Hans-Jürgen Volk

Einst war die presbyterial-synodale Ordnung so etwas wie der „Markenkern“ der Ev. Kirche im Rheinland. Spätestens die Presbyteriumswahlen 2012 dokumentieren, dass sich diese einstmals basisorientierte Kirchenverfassung dem Zustand der Agonie nähert. Jeder, dem diese Landeskirche auf Grund ihrer Grundordnung am Herzen liegt, kann über den Ausgang der Wahlen nur betrübt sein. Besorgniserregend ist noch nicht einmal so sehr die magere Wahlbeteiligung von landeskirchenweit 11,5%. Da gab es in der Vergangenheit noch ärgere Quoten (2004: 10,7% oder 2000 10,3%). Bedrückender ist der Tatbestand, dass bestenfalls in 50% aller Wahlbezirke auf Grund ausreichender Wahlvorschläge überhaupt gewählt werden konnte. Lesen Sie den Artikel.

Postdemokratie – jenseits der Nationalstaaten?

 

Claus Leggewie im Gespräch mit Carolin Emcke über seine Vision von Europa rund ums Mittelmeer.

Zur Debatte um die Postdemokratie gehört auch die Frage der Utopielosigkeit. Die politischen Debatten beschränken sich zur Zeit vielfach auf Krisenbewältigung, Sparreformen und das Verhindern des Zusammenbruchs Europas. Aber es dringen kaum mehr europäische Erzählungen in die Öffentlichkeit, die einen neuen Horizont aufzeigen, die ein positives Bild davon zeichnen, wie wir in Europa jenseits der alten nationalstaatlichen Konzepte und Haushalte leben wollen. Dagegen setzt der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie mit seinem neuen Buch eine Vision von Europa rund ums Mittelmeer. Eine Gegend, über die wir momentan vor allem aus Berichten über Flüchtlinge hören, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben riskieren, und die Leggewie stattdessen als Region für ein neues staatliches Modell anbieten will.

Das vollständige Gespräch.

Krise: Wie der Kapitalismus die Demokratie zerstört

Ein Interview mit dem Soziologen Wolfgang Streeck

Nicht nur die Wirtschaft, auch die Politik ist in einer Krise. Die friedliche Koexistenz zwischen Kapitalismus und Demokratie ist zu Ende, meint der Soziologe Wolfgang Streeck.

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau stellt er Inhalte seines Buches „Gekaufte Zeit“ vor und beschreibt darin kenntnisreich die krisenhafte Entwicklung eines Kapitalismus, der zunehmend die Demokratie bedroht.

Lesen Sie das Interview

Wachsende soziale Ungleichheit gefährdet die Demokratie

Serge Halimi, Le Monde diplomatique.

Die sozialen Unterschiede wachsen weltweit. Noch problematischer ist das immer größer werdende Kapitalvermögen in den Händen weniger. Denn dieses Kapital drängt hin zur politischen Einflussnahme, der Regierungen scheinbar ohnmächtig gegenüberstehen. Diese wachsende Unwucht nicht nur in den westlichen Demokratien gefährdet diese und wendet sich gegen die objektiven Interessen der Mehrheit.

In einer gut lesbaren, informationsreichen Analyse aus Le Monde diplomatique thematisiert Serge Halimi dieses Problem. Sein aus globaler Perspektive verfasster Beitrag enthält wertvolle Hinweise auch für WahlbürgerInnen in Deutschland.

Lesen Sie „Der wahre Skandal: soziale Ungleichheit untergräbt die Demokratie“