Archiv der Kategorie:
Erster Weltkrieg

Die christlichen Kirchen Europas und der Erste Weltkrieg: Die christlichen Kirchen in Europa nahmen drei verschiedene Haltungen zum Krieg ein.

09/2015

Vortrag im Landesmuseum Braunschweig am 4. Dezember 2014
von Dietrich Kuessner

Die christlichen Kirchen in Europa nehmen also drei verschiedene Haltungen zum Krieg ein:
Die einen rechtfertigen ihre Haltung als Teilnahme an einem Verteidigungskrieg, sie behaupten, sie führten einen heiligen Krieg und Gott sei auf ihrer Seite. Sie glorifizieren ihre Toten, sie verwechseln den Willen ihrer Heeresleitungen mit dem Willen Gottes.
Andere verweigern sich der Teilnahme am Krieg und bleiben neutral. Das wirft unweigerlich die Frage auf: warum war das keine Möglichkeit für das Deutsche Reich und für die evangelische Kirche. …
Eine dritte Möglichkeit war, wie Belgien gezeigt hat: Widerstand im Krieg…

Die christlichen Kirchen befanden sich zwischen Irrsinn und Versöhnungsbereitschaft.
In dieser Situation noch zwei Lichtblicke zum Abschluss:
Papst Benedict XV. hatte bereits zu Beginn seiner Tätigkeit im November 1914 in seiner Antrittsenzyklika erkennen lassen, dass sich der Vatikan zur Neutralität verpflichtet fühle und hatte die kriegführenden Länder zum Ende der Kriegshandlungen aufgefordert. Der Papst wiederholte seinen Aufruf im Sommer 1917 und fügte praktische Vorschläge an, nämlich Rückzug auf die territorialen Ausgangspositionen vom Juli 1914, dazu u.a. Rüstungsbeschränkung und Freiheit der Meere. Das war für das Deutsche Reich eine sehr günstige Ausgangsposition, zumal der Reichstag im Juli seine Friedensresolution beschlossen hatte, die im Grund ähnlich war. Die Aktion des Papstes löste auch einige diplomatische Verhandlungen vor und nach der Veröffentlichung aus, fand aber keine Mehrheit, weil die deutsche Regierung keinen Verzicht auf Belgien zu Beginn der Verhandlungen aussprechen wollte, eventuell am Ende von Verhandlungen.
Der deutsche Generalgouverneur v. Bissingen hatte bereits Wiederaufbaupläne für die zerstörten belgischen Städte in Auftrag gegeben und drucken lassen, in der Überzeugung, dass Belgien dem Deutschen Reich angegliedert werde…
Die Initiative des Papstes zeigte dagegen: : Friede war denkbar und machbar. Man wollte ihn nicht.
Man befand sich auf der Seuchenstation.
Einen weiteren Lichtblick bildeten die Friedensbemühungen in den angelsächsischen Ländern.
Unter Beteiligung der USA hatte sich in England die Church Peace Union gebildet, die im August 1914 eine gemeinsame Konferenz in Konstanz veranstaltete, zu der am 2. August 70 Personen aus den verschiedenen Ländern Europas und der USA erschienen waren. Aus dieser ging in London der „Weltbund für Internationale Freundschaftsarbeit durch die Kirchen“ hervor, der noch ím Herbst 1914 von Friedrich Siegmund Schultze und dem englische Quäker Henry Hodgkin begründete worden war. Dieser setzte seine Arbeit 1915 in Bern fort, gab sich eine Verfassung und einen Ausschuss, dessen Mitglieder aus neun europäischen Ländern stammten. Er kümmerte sich insbesondere um die Kriegsgefangenen aller Länder und erinnerte durch Interventionen an ein Ende des Völkerabschlachtens.
Kirchen im Ersten Weltkrieg zwischen Irrsinn und Versöhnung, zwischen Verrantheit und offen gehaltenen Türen.
1919 war dieser Versöhnungsbund der erste, der ein Treffen in der Nähe vom Den Haag ( in Oud Wassenaar) mit Teilnehmern aus den verfeindeten Ländern organisierte. Unter ihnen auch Nathan Söderblom und der deutsche Prof. für Altes Testament, Adolf Deißmann, der den unsäglichen Aufruf an die Kulturwelt mit unterzeichnet hatte. Sie begegneten sich in der Erkenntnis der Schuld und fanden auf diesem Wege einen Anfang für ein neues Miteinander.

Der vollständige Text.

Leonhard Ragaz (1868 – 1945) – Pazifist, Sozialist, Theologe. Von Pfarrer i. R. Hans Dieter Zepf

07/2015

Eine Lebensskize

Der Theologe, religiöser Sozialist, Pazifist und Pädagoge Leonhard Ragaz wurde am 28. Juli 1868 in Tamins, einem kleinen Bergdorf im Kanton Graubünden (Schweiz), als fünftes von neun Kindern geboren. Wie alle Bewohner des Dorfes gehörte auch die Familie Ragaz zum Bauernstand (es gab keine Industrie). Der Vater hatte eine Reihe politische Ämter inne. Die Dorfgemeinschaft war demokratisch strukturiert. Eine Besonderheit stellten die Eigentumsverhältnisse dar. (1) Ungefähr 80% des Bodens war Gemeinbesitz; viele Aufgaben wurden gemeinsam bewältigt. Dieser „Dorfkommunismus“ hat Ragaz geprägt. Hier ist der Hintergrund seiner späteren Sozialismusvorstellung. In seiner Autobiographie schreibt er: „Jedenfalls ist mein Glaube an eine Gemeinschaftsordnung der Wirtschaft, überhaupt der menschlichen Dinge, und in diesem Sinne an den Kommunismus, stark auch in diesem Erleben meiner Kindheit und Jugend begründet.“ (2)

Ragaz studierte Theologie (3) in Basel, Jena, Berlin und wieder in Basel. Nach Beendigung seines Studiums wird er 1890 Pfarrer in drei Bergdörfern (Graubünden). Hier im ersten Pfarramt erschloss sich ihm die Bibel in ganz anderer Weise als in der liberalen Theologie, durch die er geprägt war. Sie wurde ihm lebendig. (4) Aus gesundheitlichen Gründen wechselte Ragaz nach drei Jahren an die Kantonsschule in Chur, wo er als Lehrer für Religion, Deutsch und Italienisch tätig ist. 1895 wird er Stadtpfarrer von Chur. In dieser Zeit engagierte er sich vielfältig in sozialer Hinsicht. Er wurde städtischer Schulrat, Bündner Kirchenrat und Präsident des Armenvereines, außerdem kämpfte er gegen den Alkoholismus. Er wurde selbst abstinent und gründete einen Abstinentenverein. Zur Bekämpfung des Alkohols gründete er das „Rhätische Volkhaus“, das der Wirtshausreform und der Volksbildung dienen sollte.

Der Kapitalismus widerspricht der Ethik Jesu

Im Jahre 1902 wird Ragaz Pfarrer am Basler Münster. 1903 kam es zu einer Wende in seinem Leben, ausgelöst durch ein persönliches Erlebnis. Seinem Tagebuch vertraut er an: „Nun ist mir ein neues soziales Christentum aufgegangen. Ich datiere vom 2. Februar 1903 (morgens zwischen sieben und acht Uhr) eine neue Periode meines Lebens.“ (5) Und am 21.2.1903 lesen wir in seinem Tagebuch: „Die Heilsarmee, die Methodisten, die Sektierer und die rabiaten Sozialisten – das sind die Menschen, die nach der Zukunft weisen. Aus diesen Ebionim wird das Reich Gottes hervorgehen.“ (6)

Am 5. April 1903 kam es in Basel zu einem Maurerstreik. Am gleichen Tag, als der Streik abgebrochen wurde, predigte Ragaz im Münster über das Gebot der
Gottes- und Nächstenliebe (Matthäus 22,34-40). Es ist seine erste religiös-sozialistische Äußerung. Er führte in seiner Predigt unter anderem aus: „Die soziale Bewegung ist eben doch weitaus das Wichtigste, was sich in unseren Tagen zuträgt. Sie wird immer mehr unserem öffentlichen Leben den Stempel aufdrücken. … Wenn das offizielle Christentum kalt und verständnislos dem Wesen einer neuen Welt zuschauen wollte, die doch aus dem Herzen des Evangeliums hervorgegangen ist, dann wäre das Salz der Erde faul geworden. … Das Eine scheint mir klar zu sein: der Christ hat sich immer auf die Seite des Schwachen zu stellen. … Wir müssen verstehen, um was es sich in der sozialen Bewegung im tiefsten Grunde handelt. … Es handelt sich … um nichts mehr und nichts weniger als um einen Riesenschritt vorwärts in der Menschwerdung des Menschen. … Wie heißt die Macht, die bisher der Erreichung dieses Zieles am gewaltigsten und feindlichsten im Wege gestanden ist? Es ist das Geld, der Besitz. … So ist die soziale Bewegung im tiefsten Grunde eine Verwirklichung der Gedanken, die im Mittelpunkt des Evangeliums stehen: der Gotteskindschaft und der Bruderschaft der Menschen. …Ihr könnet darüber streiten wie weit das Ziel auf Erden erreichbar sei, ihr könnet aber nicht leugnen, dass es zum Wesen des Christentums gehört, für seine Erreichung zu arbeiten.“ (7) Diese Predigtzitate belegen die Solidarität Ragaz’ mit der Arbeiterschaft und sein starkes Engagement für soziale Probleme und Fragestellungen.

Im Jahre 1906 kam es zu einer Zusammenfassung seiner bisherigen Gedanken, in der aus einem Vortrag hervorgegangenen Schrift „Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart“. Hier analysierte Ragaz die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation. Der Kapitalismus, der auf Profit ausgerichtet ist, widerspricht der Ethik Jesu. Der neuen Wirtschaftsordnung, die zur Ethik Jesu passt, gibt er den Namen „Sozialismus“, wobei er bei der Verwendung dieses Begriffes Bedenken formuliert: „Ich könnte sie so nennen (gemeint ist die neue Wirtschaftsordnung – Anmerkung des Vf.) und tue es gelegentlich auch, da ich überzeugt bin, dass der Sozialismus in seinen wesentlichen Zügen die Richtung angibt, die aus dem Kapitalismus heraus auf die nächste Stufe der geschichtlichen Entwicklung führen soll. Aber ich möchte nicht den Schein erregen, als ob nun doch wieder die Sache Jesu mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung solidarisch erklärt werden solle, nur diesmal mit der sozialistischen. Es muss in abstracto durchaus die Möglichkeit zugegeben werden, dass, wenn der Sozialismus seinen Beitrag an die Aufwärtsführung der Menschheit geleistet hat, wieder neue und bessere Regelungen dieses Teiles der menschlichen Angelegenheiten kommen können.“ (8)

Im Jahre 1906 wurde die Zeitschrift „Neue Wege – Blätter für religiöse Arbeit“
gegründet. Diese Zeitschrift war für Ragaz das Organ, in dem er bis zu seinem Tode regelmäßig seine theologischen und politischen Überzeugungen veröffentlichte.

Von 1908 – 1921 war Ragaz Professor für systematische und praktische Theologie in Zürich. Als 1912 in Zürich ein Generalstreik ausbrach, stand Ragaz wieder auf der Seite der Arbeiterschaft. Nun kam es zum Bruch mit der Bourgeoisie. „Mein damaliges Auftreten gegen das Bürgertum und sein brutales Dreinfahren mit dem Militär erregte ungeheures Aufsehen, bis weit ins Ausland hinaus. Es zerstörte für immer meine immer noch große Beliebtheit bei einem Teil des Bürgertums und machte mich zum gehasstesten Mann der Schweiz. Nun, da ich hier nichts mehr zu tun hatte, trat ich (1913) in die Sozialdemokratie ein.“ (9) Als der erste Weltkrieg anfing, begann Ragaz’ Entwicklung zum Pazifisten. In der Maiausgabe der „Neuen Wege“ schrieb er 1939: „Ich habe in den furchtbaren Tagen des August 1914 ein Gelübde getan, diesem Kampf gegen den Krieg mein künftiges Leben zu widmen, und gedenke es zu halten.“ (10)

Sein Engagement für den Frieden begründete er biblisch. (11) Ragaz war kein doktrinärer Pazifist. Er konnte unter bestimmten Bedingungen für militärischen Widerstand eintreten. (12)

Die Theologie steht dem Reich Gottes im Wege

Die große Wende seines Lebens war der Rücktritt von seiner Professur im Jahre 1921. (13) Seine kritische Haltung zur Theologie, aber vor allem zur Kirche, gaben hierzu den Ausschlag. Die Theologie erschien „mir immer mehr als eine Sache, …welche dem Reich Gottes eher im Wege stehe. Abermals wichtiger aber als die Stellung zur Theologie wurde die zur Kirche. Deren Gegensatz zum Reiche Gottes wurde für mich viel akuter als der zur Theologie. … Zwar hätte ich mit meinen Überzeugungen als Pfarrer mit gutem Gewissen in der Kirche bleiben können, aber es wurde mir immer schwerer, junge, völlig unreife Menschen in den Dienst der Kirche einzuführen. Denn ich stand vor einem Entweder-Oder: Entweder enthüllte ich ihnen meine innerste Stellung zur Kirche und versuchte ihnen das Pfarramt in diesem Lichte zu zeigen, – was ich tatsächlich so hielt! – dann lud ich ihnen eine Last auf, die sie in keiner Beziehung tragen konnten, oder ich verhüllte meine Stellung, … und dann machte ich mich der Heuchelei schuldig. An dieser Stelle musste einmal ein Bruch geschehen.“ (14)

Aber auch die Stellung zur Kirche war nicht die innerste Unruhe für Ragaz,
sondern die Nachfolge Christi. „Und doch war auch meine Stellung zur Kirche
nicht meine innerste Unruhe. Diese war, um es sofort zu sagen: die Nachfolge Christi. Sie gesellte sich konsequenterweise als Forderung immer stärker zu der
Erkenntnis des Reiches Gottes. Und zwar sah ich den Weg der Nachfolge nicht auf der theologisch – kirchlichen Linie, sondern er führte mich, so wie es ursprünglich war und sein soll, abwärts, nach unten zu den Armen im Vollsinn des Wortes. Besonders zum Proletariate. … Es war der Weg des Franziskus, der mich rief, der Weg der Armut.“ (15)

Ragaz hat in seiner geistigen Entwicklung einen langen Weg zurückgelegt. Die Spannweite seiner Entwicklung beschreibt er so: „Was im übrigen meine religiöse Entwicklung betrifft, so könnte ich sie vielleicht am besten durch das Stichwort bezeichnen: vom Reiche Gottes zu Christus; so dass mein ganzer Weg wäre: vom Pantheismus zum persönlichen Gott; von Gott zum Reiche Gottes und vom Reiche Gottes zu Christus, seiner ‚Fleischwerdung’.“ (16)

„Reich Gottes“, „Nachfolge“ und „Neue Gemeinde“ in Ragaz` Denken

Im folgenden beleuchte ich die Begriffe „Reich Gottes“, „Nachfolge“ und
„Neue Gemeinde“ im theologischen Denken von Ragaz.

Der Begriff „Reich Gottes“ findet sich schon früh im theologischen Denken von Ragaz. Ich beschreibe sein Verständnis vom Reich Gottes in seiner endgültigen Ausprägung. Es würde zu weit führen, den gesamten Entwicklungsprozess hier darzustellen. (17)

Die Botschaft vom Reiche Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel, sie ist geradezu der entscheidende Schlüssel zur Öffnung der Bibel. „Und das ist der Schlüssel, der nun unserem Geschlechte gegeben wird: Wir erkennen wieder, ohne jene Botschaft der Freiheit für den Einzelnen zu übersehen, als den großen und … einzigen Sinn und Inhalt der Bibel die Botschaft von dem lebendigen Gotte und seinem Reiche der Gerechtigkeit für die Welt, diese Botschaft, welche schon den Sinn der Schöpfung bedeutet und sich dann in Israel, über Mose, die Richter, die Könige, die Propheten hinweg entfaltet, um sich in Christus zu vollenden und durch die Apostel die große Weltbotschaft zu werden.“ (18)

Das Reich Gottes steht im Gegensatz zur Religion; denn im Reiche Gottes kommt Gott zuerst, während in der Religion der Mensch im Mittelpunkt steht.
„Für das landläufige Christentum gilt, dass der Einzelne und sein Heil im Mittelpunkt steht. Das ist eben die Religion im Gegensatz zum Reiche Gottes. …
Im Reiche Gottes aber kommt Gott zuerst und mit ihm sein Reich. Die zentrale Losung heißt hier: ‚Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit’.“ (19) Natürlich ist das Reich Gottes auch das Heil für das Individuum, aber „es bedeutet nicht bloß das Heil für den Einzelnen, sondern auch das Heil für die Welt; es bedeutet nicht nur die Erlösung des Individuums, sondern auch die Erlösung der Gesellschaft.“ (20)

Das Reich Gottes ist nicht machbar, es kommt von Gott, wir können uns ihm nur zur Verfügung stellen. „Das Reich Gottes ist … primär durchaus Gottes Sache. Es stammt von Gott. Es ist Herrschaft Gottes, dessen Wille allein herrschen soll, der auf Erden gelten soll, wie er im Himmel gilt. Es muss kommen und kann nicht gemacht werden. Es ist Gabe, nicht Verdienst. Aber dieser wesentlichen Bestimmung tritt polar die andere entgegen: Das Reich Gottes ist ebenso, wie es die Sache Gottes ist, die Sache des Menschen. Die Gabe ist ebenso Aufgabe, das Geschenk ebenso Verdienst – man darf sich so zugespitzt ausdrücken. Schon das Kommen des Reiches ist auch Sache des Menschen. Es ist gerüstet, es wird angeboten, aber es kommt nicht, wenn nicht die Menschen da sind, die darauf warten, die darum bitten, die für sein Kommen arbeiten, kämpfen, leiden.“ (21)

Worauf es vor Gott ankommt, was sein Wille ist, zeigen die Gleichnisse Jesu, die nach Ragaz vom Wesen und Kommen des Reiches Gottes sprechen. Ihren revolutionären Sinn hat die Auslegungstradition verkannt und sie zu seelsorgerlichen Ratschlägen gemacht, aber „damit hat man ihren wahren Charakter völlig entstellt, ja fast aufgehoben. In Wirklichkeit ist ihr Sinn in erster Linie sozial, d.h.: auf die Gemeinschaft gerichtet. … Das individuelle Moment … fehlt gewiss nicht, aber es ist im sozialen eingeschlossen. … Es gibt nichts Revolutionäreres als die Gleichnisse Jesu. Sie bedeuten ein Umkehrung des Denkens und Seins der Welt wie, nach den Reden der Propheten und neben der Bergpredigt Jesu selbst, nichts sonst. Vor ihnen erscheint das ‚Kommunistische Manifest’ … fast als harmlos.“ (22)

Das Reich Gottes ist auf die Erde gerichtet und nicht auf ein Jenseits. Wenn das Reich Gottes da sein wird, wird auch der Tod besiegt sein. „Das Neue Testament, wie die ganze Bibel, weiß, etwas drastisch gesagt, nichts von einem Jenseits. … Die Bibel aber, und besonders das Neue Testament, weiß bloß von Auferstehung, oder mit anderen Worten, das Neue Testament weiß bloß, wie schon auf seine Art das Alte Testament von einem Kommen des Reiches auf die Erde zur Aufrichtung der Herrschaft Gottes, worin freilich auch der Sieg über den Tod enthalten ist.“ (23)

Es gab und gibt immer wieder Durchbrüche des Reiches Gottes in der Geschichte. Ragaz verweist auf Mose, die Propheten, Christus, Franziskus, die Reformation und ebenso auf die Gegenwart. (24)

Nachfolge und Reich Gottes gehören zusammen; denn „es gibt keine Zugehörigkeit zum Reiche ohne die Nachfolge, und es gibt keine Nachfolge ohne den Glauben an das Reich.“ (25) Nach den obigen Ausführungen über das Reich Gottes, ist dieser Zusammenhang zwischen Reich Gottes und die Nachfolge die logische Konsequenz.

Ragaz’ Verständnis von der Nachfolge ist radikal. Er verbindet sie mit der Selbstverleugnung (Matthäus 16,24). Nachfolge und die Verfolgung privater Interessen schließen sich gegenseitig aus. Die Selbstverleugnung, wie sie Jesus versteht ist „nicht diese oder jene große Selbstüberwindung, diese oder jene Entsagung, sondern es ist die völlige Umkehrung der natürlichen Lebensrichtung, die gänzliche Hingabe des Eigenlebens an Gottes Sache. … Da ist nicht mehr das private Leben hier und Gott dort, sondern das ganze Leben ist von Gott mit Beschlag belegt und hört auf ein privates zu sein.“ (26)

In der Nachfolge kommen in besonderer Weise die Dinge zum Tragen, die im Gegensatz zur Welt stehen. „Es prägen sich aber in der Nachfolge diejenigen Züge besonders aus, welche einen Gegensatz zur Welt bedeuten. Dazu gehört die Liebe, welche im Symbol der Fußwaschung als Dienst am Bruder zum herrlichsten Ausdruck kommt. Sie ist ein gewaltiger Gegensatz zum Stolz und Egoismus der Welt. … Dazu gehört auch der Kampf gegen das Reich der Gewalt, der Weg des Friedens für sich selbst und des Kampfes um den Frieden der Welt. Dazu gesellt sich vor allem auch der Gegensatz zu dem Gott der Welt, dem Mammon. Die Armut in irgend einer Form gehört zur Nachfolge.“ (27)

Die Trägerin des Reiches Gottes ist die Gemeinde. „Die Gemeinde tut als Gemeinschaft das, was in der Nachfolge der einzelne tut: sie übernimmt die Sache Gottes, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als Gabe und Aufgabe und macht sie zu ihrer Sache.“ (28)

Im Gegensatz zur Gemeinde – wie sie Ragaz versteht – ist die Kirche die Trägerin der Religion. Sie vertritt nicht die Sache des Reiches Gottes. (29)

Ragaz’ Kritik richtet sich sowohl gegen die römische als auch gegen die
protestantische Kirche. Zwar sei diese ihrem ursprünglichen Wesen nach
Gemeinde, aber „auch die protestantischen Kirchen sind Trägerinnen der
Religion, nicht des Reiches Gottes geworden. Sie pflegen die Religion.
Sie dienen dem individuellen und unter Umständen, etwa am Bettag … dem kollektiven, ’religiösen Bedürfnis’. Aber sie dienen nicht dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit – dem Reiche Christi. Oder ist es etwas anderes? Hand aufs Herz: Denkt die große Masse unserer Kirchenglieder und getauften Christen etwa im Ernste daran, das Joch des Gottesreiches auf sich zu nehmen, das ‚Gesetz Christi’ zu erfüllen?“ (30)

Ragaz unterscheidet in seinem Gemeindeverständnis die Gemeinde als engerer und als weiterer Kreis. Die Gemeinde im engen Sinn „bedeutet den sichtbaren und in einem tieferen Sinne des Wortes organisierten Zusammenschluss der ‚Gerufenen’, derer, die das Reich und seine Gerechtigkeit als ihre Sache glauben und wollen.“ (31)

Das Vorbild dieser Gemeinde ist die „apostolische Gemeinde“: „Sie muss nach deren Vorbild (nicht Modell) eine wirkliche Gottesgemeinschaft und Christusgemeinschaft, Liebesgemeinschaft, Lebensgemeinschaft werden, muss
laienhaft, demokratisch, staatsfrei werden, muss aus Institution Charisma, Geistesgemeinschaft werden.“ (32) Die neue Gemeinde bleibt nicht auf sich selbst beschränkt, sondern mit ihren Gaben und Aufgaben ist sie für die Welt da. Damit sind wir beim Gemeindeverständnis im weiteren Sinne. Ragaz meint damit alle Menschen, denen es um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit geht. Er bezeichnet sie als „unsichtbare Gemeinde“. Sie geht über alle Religionen und Konfessionen hinaus. Die Gemeinde im engeren und weiteren Sinne ist die „wahre Oekumene“. (33) Gemeinde im Sinne von Ragaz ist genossenschaftliche Gemeinde. (34)

„Vergessen“, weil unbequem

Leonhard Ragaz, der am 6. Dezember 1945 starb, hat es verstanden Theologie und Praxis miteinander zu verbinden, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben dürften.

Weder in der Theologie der Universitäten noch in den Landeskirchen spielt Ragaz eine Rolle. Dass er in der Theologie fast der Vergessenheit anheim fiel, dürfte wesentlich mit seiner Verabschiedung aus der akademischen Welt im Jahre 1921 zusammenhängen. Seine Reich-Gottes-Vorstellung, mit ihren politischen Implikationen spielt so gut wie keine Rolle im Bewusstsein von Kirchen und Gemeinden.

Ragaz ist ein unbequemer Mahner. Wir sollten sein Kritik nicht überhören.
Anhang
1. Anmerkungen
(1) vgl. hierzu MW I, S. 43-51
(2) MW I, S. 50
(3) Ragaz studierte eher gegen seine Neigung Theologie. „Weil meine Begabung nach dieser Richtung wies, wurde ich trotz unserer eher bedrängten ökonomischen Lage zum Studium bestimmt, und zwar zum theologischen … eher gegen meine Neigung, denn ich war früh schon zwar sehr ‚religiös’ gesinnt, aber nicht ‚kirchlich’ oder gar ‚pfarrerlich’; ich liebte Gottes freie Luft zu sehr!“ (Ragaz: „Meine geistige Entwicklung“ in Biographie, Bd. I, S. 240 f.)
(4) “Die Bibel war mir durch das theologische Studium beinahe zerstört worden. Aber nun zog es mich wieder zu ihr hin. Ich beschloss, sie einmal ganz zu lesen, und zwar nicht nur ohne gelehrten Kommentar, sondern auch ohne jede theologische Brille. So stand ich denn im tiefen Winter um fünf Uhr morgens auf und setzte mich bis zum Frühstück über die Bibel. … Und sie erschloss sich mir. Nicht ganz, gewiss nicht, aber zum ersten Mal. Sie wurde lebendig.“ (MW I, S. 161)
(5) Tagebuch IX, 2.2.1903, zitiert in Biographie, Bd. I, S. 82
(6) Tagebuch IX, 21.2.1903, zitiert in Biographie; Bd. I, S. 83
(7) L. Ragaz: Ein Wort über Christentum und soziale Bewegung, in: Schweizerisches Protestantenblatt Nr. 17, 25.4.1903, abgedruckt in: Leonhard Ragaz: Religiöser Sozialist, Pazifist, Theologe, Pädagoge, S. 31-35
(8) Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart, Basel 1906, S. 33, zitiert in Biographie, Bd. I, S. 115
(9) Ragaz: „Meine geistige Entwicklung“ in Biographie, Bd. I, S. 244f.
(10) Neue Wege, Mai 1939, S. 223
(11) vgl. Bibel IV, S. 165 ff.
(12) vgl. Neue Wege, Mai 1939, S. 224 ff.
(13) In einem Schreiben an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich legte Ragaz ausführlich seine Gründe für den Rücktritt von seiner Professur dar, vgl. Neue Wege Juli/August 1921, S. 284-293
(14) MW II, S. 111f.
(15) MW II, S. 114 f.
(16) Ragaz: “Meine geistige Entwicklung” in Biographie, Bd. I, S. 244
(17) vgl. hierzu: Biographie, Bd. I, Kapitel 2 und 3; Jäger Hans Ulrich: Die sozialethische Funktion des Reichgottesglaubens bei Leonhard Ragaz, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 12. Jg., 1968, S. 221 ff.; Rich, Artur: Leonhard Ragaz. Eine Skizze von seinem Denken und Wirken, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 12. Jg., 1968, S. 196 ff.
(18) Bibel I, S. 21
(19) Botschaft, S. 29
(20) Botschaft, S. 29
(21) Bibel V, S. 139
(22) Gleichnisse, S. 7f.
(23) Gleichnisse, S. 25
(24) Botschaft, S. 309
(25) Neue Wege, April 1927, S. 168, vgl. hierzu auch Neue Wege, Oktober 1944, S. 474 f.
(26) Neue Wege, Mai 1927, S. 205 f.
(27) Bibel V, S. 146
(28) Neue Wege, Oktober 1944, S. 477
(29) vgl. Neue Wege, Oktober 1944, S. 476 f.
(30) ebenda, S. 478 f.
(31) ebenda, S. 480
(32) ebenda, S. 481; vgl. hierzu auch Botschaft S. 205 f.; Bibel VI, S. 13-39 und 128
(33) Neue Wege, Oktober 1944, S. 481; vgl. hierzu auch Botschaft, S. 249
(34) vgl. Die Geschichte der Sache Christi, S. 43
2. Literaturangaben

a ) Schriften von Leonhard Ragaz
Die Bergpredigt Jesu (1945), GTB 451, 3. Aufl., Gütersloh 1983.

Die Bibel – eine Deutung, sieben Bände, Zürich 1947-1950.
Als Neuauflage in vier Bänden hrsgb. in Zusammenarbeit mit dem Leonhard-Ragaz-Institut in Darmstadt durch E.L. Ehrlich, M. Mattmüller und J.B. Metz, Fribourg, Brig 1990. In dieser Neuausgabe sind Bandzahl und Paginierung der Erstausgabe beigefügt. (= Bibel; Band- und Seitenzahl wurden nach der Erstausgabe zitiert)

Die Geschichte der Sache Christi. Ein Versuch, Bern 1945 (= Geschichte der Sache Christi)

Mein Weg, zwei Bände, Autobiographie von Leonhard Ragaz, hrsgb. von Cl. Ragaz-Nadig , Zürich 1952. (=MW I, MW II)

Dein Reich komme. Predigten, zwei Bände, 3. Auflage, Erlenbach-Zürich 1922

Die Botschaft vom Reiche Gottes. Ein Katechismus für Erwachsene, Bern 1942. (=Botschaft)

Die Gleichnisse Jesu. GTB 1428, 4. Auflage, Gütersloh 1990 (=Gleichnisse)

Weltreich, Religion und Gottesherrschaft, zwei Bände, Erlenbach-Zürich 1922.
b) weitere Literatur
Neue Wege, Blätter für religiöse Arbeit, 1906 ff. (=Neue Wege)

Leonhard Ragaz – Religiöser Sozialist, Pazifist, Theologe und Pädagoge, hrsgb. vom Leonhard-Ragaz-Institut Darmstadt, Darmstadt 1986

Mattmüller, Markus: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Band I: Die Entwicklung der Persönlichkeit und des Werkes bis ins Jahr 1913, Zürich 1957. Band II: Die Zeit des ersten Weltkrieges und der Revolution, Zürich 1968 (= Biographie)

Solidarische Kirche im Rheinland: Die EKD muss die kirchliche Mitschuld für den Völkermord an den OvaHerero und Nama endlich anerkennen

23. Juli 2015

Wir beklagen, dass die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im Blick auf die konkrete Frage nach kirchlicher Mitverantwortung für den Völkermord im heutigen Namibia schweigt. Das darf nicht so bleiben. Denn nicht nur die damalige deutsche Regierung, deutsches Militär und deutsche Verwaltung waren am Völkermord in Deutsch-Südwest beteiligt, sondern auch deutsche evangelische Kirche. Die Vorgängerinstitution der EKD, der preußische Oberkirchenrat, sandte damals in Verbindung mit der deutschen Regierung evangelische Pfarrer aus, um die dortigen landbesetzenden Siedler sowie die koloniale Schutztruppe geistlich zu begleiten. Durch Seelsorge und Gottesdienste – besonders durch Predigten – sind deutsche Pfarrer und Gemeinde am Völkermord (mit)-beteiligt:…  Mehr dazu.

Der andere Völkermord. Herero in Deutsch-Südwestafrika.

28. April 2015, SZ

Herero Namibia Deutsch-Südwest Bild vergrößern Gefangene Herero – Zehntausende Menschen starben während der Kolonialherrschaft der Deutschen.

Zwischen 1904 bis 1908 ermordeten deutsche Truppen im heutigen Namibia etwa 90 000 Angehörige der Herero und Nama. Auch Frauen und Kinder wurden Opfer der Kolonialherren.

Zum Artikel.

Armenien: Der Papst spricht von Völkermord

14.04.2015, von Thomas Seiterich, Publik Forum

Der Papst spricht von Völkermord Diplomatie auf Samtpfötchen ist nicht seine Sache: Papst Franziskus spricht Klartext. Bei der Gedenkmesse zur Ermordung und Vertreibung von Millionen Armeniern vor einhundert Jahren nannte er den Genozid durch das Regime der Jungtürken im Osmanische Reich »den ersten von zahlreichen Völkermorden im 20. Jahrhundert«. Das kleine Armenien ist begeistert. Um so  zorniger ist das Establishment der Türkischen Republik. Der Artikel.

Am 22. April 1915 setzte das deutsche Militär in der 2. Flandern-Schlacht bei Ypern erstmals in der Welt Giftgas als moderne Massenvernichtungswaffe ein

04/2015

Zu ersten Einsatz von Giftgas als moderne Massenvernichtungswaffe der Fernsehfilm: Clara Immerwahr, Sendetermin in der ARD war am Mittwoch 28. Mai 2014 

Am 22. April 1915 setzte das deutsche Militär erstmals in der Welt Giftgas als moderne Massenvernichtungswaffe ein. Die zweite Flandern-Schlacht bei Ypern ging als Menetekel in die Geschichte ein.
Dazu gibt es den 2014 entstandenen Fernsehfilm „Clara Immerwahr“. Clara Immerwahr war Ehefrau des Chemikers Fritz Haber, der mit seiner Forschung dem Giftgaskrieg den Weg bereitete. Sie war selbst Chemikerin und wurde im Kriegsverlauf zur Pazifistin. Fritz Haber, nach dem das Haber-Bosch-Verfahren benannt ist, entdeckte, wie man aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak macht. Und damit Düngemittel. In Friedenszeiten. Und Giftgas. Für den Krieg….

Der Film: Clara Immerwahr (1870 – 1915) ist die erste Frau, die in Mitteleuropa Naturwissenschaften studieren durfte. Als junges Mädchen lernt sie Fritz Haber (1868 – 1934) kennen, der ebenfalls Chemie studiert. Gemeinsam wollen sie zum Wohl der Menschheit forschen. Clara und Fritz wollen die Welt verändern. Brot aus Luft wollen die brillanten Chemiker machen, gemeinsam, Seite an Seite. Bildung und Studium muss sich Clara Ende des 19. Jahrhunderts hart erkämpfen. Ihre große Liebe trägt die beiden durch dick und dünn. Nach langer Trennung durch die unterschiedlichen Studienorte heiraten sie und Fritz Haber bekommt eine Professur in Karlsruhe. Clara will dort ebenfalls forschen. Doch die Konventionen ihrer Zeit stehen gegen ihr Glück. Sie darf nur unbezahlt „mitwirken“ und Fritz entwickelt sich immer mehr zu einem seiner Zeit entsprechenden Chauvinisten. Langsam zerreiben sich die Eheleute. In der Forschung gelingt es Fritz Haber die „Ammoniaksynthese aus der Luft“ zu erfinden. Die Mitarbeit von Clara schweigt er tot. Ammoniak ist der wichtigste Grundstoff für Düngemittel und für Sprengstoff. Ammoniak kann die Welt ernähren und vernichten. Bisher wurde es hauptsächlich aus Vogelkot in Chile gewonnen, der „Chilesalpeter“. Die Erfindung von Fritz Haber ermöglicht es dem Deutschen Reich überhaupt erst den 1. Weltkrieg zu führen, zumal es durch die britische Seeblockade vom Chilesalpeter abgeschnitten war. Fritz Haber wird dadurch reich und verrät das gemeinsame Ideal zum Wohle der Menschheit zu wirken. Er ist für den Krieg begeistert. Clara als Pazifistin stemmt sich dagegen und muss entdecken, dass Fritz Haber heimlich die Giftgas-Forschung des Deutschen Reichs leitet. Es gelingt ihr nicht, ihn davon abzubringen. Auch ihr Sohn Hermann ist von Krieg und Uniformen und dem „übermächtigen“ Vater fasziniert und wendet sich von ihr ab. Als Fritz in ihrer prächtigen Villa in Berlin-Dahlem am 2. Mai 1915 den ersten erfolgreichen Giftgaseinsatz an der Westfront mit zigtausenden Toten und Verletzten mit einer großen Party feiert, nimmt sie in stillem Protest seine Offizierspistole und erschießt sich im Park der Villa.
Fritz Haber erhält 1918 den Nobelpreis für seine Verdienste um die industrielle Herstellung von Ammoniak. In seinem Institut wird nach Ende des 1. Weltkriegs das Insektenvernichtungsmittel Zyklon B entwickelt …  Zur Quelle.

Denker und Prophet: Vor 150 Jahren wurde der Theologe Ernst Troeltsch geboren.

15.02.2015, Bayerisches Sonntagsblatt

Er gilt als Klassiker der Deutung der Moderne und einer der maßgeblichen protestantischen Theologen am Ende der Kaiserzeit und in den frühen Jahren der Weimarer Republik: Ernst Troeltsch wurde vor 150 Jahren geboren.

..Mit den »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« legte der angesehene Theologe 1912 eine sozialhistorische Darstellung des christlichen Ethos vor. In seinen Schriften zur religiösen Lage der Gegenwart warf er den Landeskirchen eine zu große Nähe zum monarchischen Staat und ein zu enges Bündnis mit den konsverativen Eliten vor. Er warb stattdessen für eine »elastisch gemachte Volkskirche«, die sich unter den Bedingungen des Pluralismus verschiedenen Frömmigskeitsformen – von mystischer Innerlichkeit bis asketischem Rigorismus – öffnen müsse…

In den frühen Jahren der Weimarer Republik gehörte Troeltsch zu den wenigen deutschen Intellektuellen, die sich um die Stabilität der ersten deutschen Republik sorgten. Gelinge es nicht, das protestantische Bürgertum für die Republik zu gewinnen, werde Deutschland in zehn Jahren eine »Diktatur der Faschisten«, warnte er 1922… Zum Artikel

Weihnachten 1914: Weihnachtslieder im Schützengraben lösen kurzen Frieden von unten an der Westfront aus. Journalistische und wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas.

Hamburger Abendblatt, von Michael Jürgs

Dezember 1914, im Westen nichts Neues: Die Truppen des Deutschen Reiches haben sich in Sichtweite ihrer Gegner – Engländer, Franzosen, Belgier – in Schützengräben, bekränzt von Stacheldrahtverhauen, tief in den Lehmboden eingebuddelt. Die anderen halten es ebenso. Die Frontlinie des Stellungskrieges reicht vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze. Wie zwei blutrünstige Ungeheuer liegen sich die feindlichen Heere gegenüber. Oft nur hundert Meter voneinander entfernt. Doch in diesen Todesstreifen des Grauens geschieht Unglaubliches. Frieden bricht aus mitten im Krieg.

Anfangs ist es nur einer, der „Stille Nacht, Heilige Nacht“ vor sich hin singt. Leise klingt die Weise von Christi Geburt, verloren schwebt sie in der toten Landschaft Flanderns. Diesseits des Feldes, hundert Meter von diesem unsichtbaren Chor entfernt, in den Stellungen der Briten, bleibt es ruhig. Die deutschen Soldaten aber sind in Stimmung, Lied um Lied ertönt ein ungewöhnliches Konzert aus Tausenden von Männerkehlen rechts und links, wie einer nach Hause schrieb, bis denen nach „Es ist ein Ros‘ entsprungen . . . “ die Luft ausgeht. Als der letzte Ton verklungen ist, warten die Engländer drüben noch eine Minute, dann beginnen sie zu klatschen und zu rufen „Good, old Fritz“, und „Encore, encore“ und „More, more“. Zugabe, Zugabe…

Den Herren des Krieges auf beiden Seiten in den Generalstäben, weit ab von jedem Schuß, wird nach drei Tagen die weihnachtliche Ruhe unheimlich. Es droht daraus ein Frieden, beschlossen von unten gegen oben, zu wachsen. Das ist oben nicht erwünscht. Der Krieg dauerte noch viele Jahre und kostete rund neun Millionen Menschen das Leben. Das Wunder im Niemandsland blieb bis heute in allen Kriegen einmalig.

Zum Artikel im Hamburger Abendblatt

dazu das Buch:
Der kleine Frieden im Großen Krieg von Michael Jürgs
Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten

„Weihnachten an der Westfront 1914: Inmitten eines erbarmungslosen Stellungskrieges schließen deutsche, französische und britische Soldaten spontan Waffenstillstand auf Ehrenwort. Im Niemandsland feiern sie zusammen Weihnachten. Nach zwei Tagen ist es, auf Befehl von oben, wieder vorbei mit dem Frieden. Die Waffen sprechen wieder und der kleine Friedensschluß gerät im Dauerfeuer des Stellungskriegs bald in Vergessenheit.“ Zur Quelle.

Wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas:
Der Weihnachtsfrieden 1914 und der erste Weltkrieg als
neuer (west-)europäischer Erinnerungsort von SYLVIA PALETSCHEK, Prof. für Neuere und Neueste Geschichte, Freiburg

Originalbeitrag erschienen in: Barbara Korte (Hrsg.): Der ersten Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Essen: Klartext 2008, S. 213-221


Am ersten Weihnachtstag 1914 kam es vor allem an Frontabschnitten in Flandern rund um Ypern zu massenweisen Verbrüderungen von deutschen mit englischen, französischen sowie belgischen Soldaten:‘ es wurde vereinbart, nicht aufeinander zu schießen, gemeinsam wurden Weihnachtslieder gesungen, die Toten im Niemandsland beerdigt, Zigaretten, Lebensmittel und Militärandenken getauscht, Fotos vom Zusammentreffen mit dem Feind gemacht und es wurde sogar Fußball gespielt (Weintraub war; Jürgs 2003; Jahr 2004; Brunnenberg 2006)…

Seit den 1980er Jahren wurde der Christmas truce dann zunächst in Großbritannien immer populärer, wobei hier die Erinnerung an dieses Ereignis vermutlich nie ganz verschwunden war, da es partiell über den literarischen Kanon, beispielsweise über die Erzählung des bekannten Schriftstellers Robert Graves (Graves 2007) oder durch das erfolgreiche Theaterstück und Musical über den Ersten Weltkrieg Oh What a Lovely War (1963) im kulturellen Gedächtnis bewahrt blieb.

… In Deutschland war es der Journalist Michael Jürgs, der mit seinem Ende 2003 erschienenen Buch. Der kleine Frieden im Großen Krieg den Weihnachtsfrieden einem größeren Publikum bekannt machte… Dass die Fachwissenschaft, wie es in Zeitungsartikeln hieß, dieses Ereignis nicht genügend gewürdigt oder sogar völlig übersehen hatte – ein Eindruck, den auch Jürgs in seinen Publikationen erzeugte – stimmte nur teilweise (Brunnenberg 2006: 4). So fanden sich in einer 1994 erschienenen Quellensammlung Texte zum Thema (Ulrich 1994) und auch in Modris Eksteins Rites of Spring (Ekstein 1989) wurde ausführlich darauf eingegangen. Doch kam diesem Ereignis, sicher nicht nur wegen mangelhafter Quellenlage – dies gilt besonders für Deutschland und Frankreich – keine besondere Aufmerksamkeit zu. Es war lange nicht an die den akademischen Diskurs beherrschenden Fragestellungen anschlussfähig, was sich erst mit der kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Wende und dem Aufkommen erinnerungskultureller Fragen zögerlich änderte.

Dass der Weihnachtsfrieden von der populären Geschichtsproduktion zuerst in größerem Stil wieder entdeckt wurde lag daran, dass er eine wundersame Geschichte des so Unvorhersehbaren und nicht zu Vermutenden, des >trotz alledem< erzählt. Die Geschichte hat ein hohes Emotionalisierungspotenzial, in der die Menschlichkeit der >kleinen Leute< triumphiere.

 

Die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg. Zwischen Nationalismus und Friedenswillen

von futur2.org

In diesen Tagen jährt sich zum hundertsten Mal der Beginn des Ersten Weltkrieges. Dies hat der Theologe und Publizist Martin Lätzel zum Anlass genommen, die Rolle, die die Katholische Kirche in dieser Zeit gespielt hat, zu reflektieren.
Der Untertitel „Zwischen Nationalismus und Friedenswillen“ zeigt die besondere Herausforderung an, die für die Katholische Kirche in Deutschland bestand. Nach langen Jahren des Kulturkampfes, in denen die Hohenzollern Herrscher immer wieder die Loyalität der Katholiken gegenüber dem Kaiserreich anzweifelten und das kirchliche Leben stark behinderten, bot der beginnende Erste Weltkrieg den Katholiken in Deutschland die Möglichkeit sich als treue Staatsbürger zu beweisen… Zum Artikel.

1. Weltkrieg: Münklers Lehrstück vom Großen Krieg

Hans Otto Rößer

Vergessener Widerstand

Carl von Ossietzky und all die »vergessenen« und vergessen gemachten Deutschen, ihre Einsichten und Kritik, ihre Vorschläge und Ideen sind in den Diskurs über die Ursachen und Folgen des Ersten Weltkrieges sowie des Dritten Reiches einzubeziehen. Ihr Wirken für ein von militaristischen und nationalistischen Kräften und Politik-Konzepten befreites Deutschland, ihr republikanisch-pazifistisches Engagement für den Aufbau einer sozial gerechten Republik, für eine Aussöhnung mit Frankreich und Polen sowie für ein vereintes Europa auf der Basis der durch den Ersten Weltkrieg geschaffenen Realitäten stellt ein wichtiges Erbe dar. Es spricht für eine Traditionspflege, die all jene als Vorbilder in Erinnerung ruft und als identitätsbildend begreift, die vor und nach 1933 in Deutschland dem Nationalismus, Militarismus und Nationalsozialismus widerstanden, sich der blutigen Gefolgschaft als Pazifisten, Antimilitaristen, »Wehrkraftzersetzer«, Kriegsverräter oder Deserteure versagt und, als einzelne, Verfolgte gerettet oder ihnen geholfen haben. Statt Clark und Münkler im Schloß Bellevue zu hofieren, sollte der Bundespräsident anläßlich des 125. Geburtstages Carl von Ossietzky und mit ihm all die »vergessenen« Pazifisten würdigen. Ehre, wem Ehre gebührt!«
Helmut Donat
Herfried Münkler gilt als Geschichtsrevisionist, der die unter anderem von Fritz Fischer gut begründete Erkenntnis von der Hauptverantwortung deutscher Machteliten an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs aus den Köpfen der Menschen verbannen will. Im Duett mit seinem Bruder im Geiste, Christopher Clark, übernimmt er gern die Rolle des Spaßmachers und schlüpft in die Maske eines »marxistischen Imperialismustheoretikers«. Dieser würde doch mit seiner Marotte, »den Imperialismus der europäischen Mächte als Kriegsursache« herauszustellen, die Verantwortung am Krieg immer schon »allen damaligen Akteuren zu gleichen Teilen« zuweisen. Im Abendprogramm für die Erwachsenen werden Münklers Scherze auch schon einmal deftiger. So gehöre zwar der Eindruck der deutschen Invasionstruppen in Belgien, sie würden dauernd von zivilen Heckenschützen aus dem Hinterhalt beschossen, zu den »Phantasien verunsicherter Soldaten«, die das häufige nächtliche friendly fire nicht richtig einordnen konnten. An den daraufhin erfolgten massenhaften Geiselerschießungen und Angriffen auf Zivilisten trügen aber die Belgier deshalb eine Mitschuld, weil sie es versäumt hatten, ihre Garde civique in ordentliche, das heißt genügend militärisch ausschauende Uniformen zu stecken… Zum Artikel