Archiv der Kategorie:
Reformfolgen – Reformschäden

„Qualität muss immer wieder neu überprüft werden“. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Kirche der Freiheit“ zieht EKD-Vizepräsident Gundlach Bilanz.

07/2016

10 Jahre Impulspapier „Kirche der Freiheit“. Aus diesem Anlass melden sich derzeit immer wieder frühere Verfechter oder Opponenten wie Prof. Isolde Karle zu Wort. Auch Thies Gundlach hatte sich in anderem Rahmen schon deutlicher ausgedrückt, als im folgenden Interview :

Die EKD hatte sich „Wachsen gegen den Trend“ zum Ziel gesetzt. In welchen Punkten ist das geschafft worden?
Gundlach: …Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gültig bleibt: Wir werden kleiner, ärmer und älter.

…Im Papier „Kirche der Freiheit“ wurden daher wie in einem Unternehmen Zielgrößen beziffert – etwa wachsender Gottesdienstbesuch oder eine Taufquote. …
Gundlach: Gottes Geist weht, wann und wo er will! Glaube lässt sich nicht erzwingen und auch nicht überprüfen. Insofern sagt genau genommen auch ein guter Gottesdienstbesuch wenig über den rechten Glauben aus…
In Ihrer Abteilung im EKD-Kirchenamt war ein Reformbüro installiert worden. Ihre Mitarbeitenden kümmern sich jetzt aber vor allem um die Vorbereitung des Reformationsjubiläums. Ist die weitere Umsetzung der Reformziele für die EKD kein Thema mehr?…  Mehr dazu.

Aus Anlass des 10 Jahrestages wieder gelesen zum Thema Umbauprozess „Kirche der Freiheit“: Angst und Ausblendung. Begann mit dem Papier „Kirche der Freiheit“ ein Irrweg? Von Dr. Dieter Becker

06/2016

Die Publikation von „Kirche der Freiheit“ jährt sich zum 10. mal. Das ist Anlass, in den Wort-Meldungen frühere Artikel noch einmal neu aus der zeitlichen Entfernung zu lesen. Denn manches versteht man im Nachhinein und im Abstand besser.

Begann mit dem Papier „Kirche der Freiheit“ ein Irrweg?

Zu erinnern ist daran, dass das „Kirche-der-Freiheit-Papier“ und der Reformprozess nachhaltig vom  „Arbeitskreis Ev. Unternehmer“ AEU beeinflusst wurde. Der AEU… hatte sich um die Jahrtausendwende eine neue strategische Zielbestimmung gegeben,  … sollte nun eine aktive Beteiligung in den Kirchengremien erfolgen. Als Theologe, Betriebswirt und Mitglied des AEU seit Mitte der 90iger Jahre begrüßte ich diesen strategischen Wechsel. Doch inzwischen ist bei mir der Verdacht entstanden,  dass das AEU- Engagement in Verbindung mit gleichgesinnten EKD-Kräften einer Art von kirchlichem Reformbürokratismmus Vorschub geleistet hat, der für die Kirche eine einzige, alternativlose und zentral gesteuerte Lösung zu etablieren sucht… Dabei scheint mir mit Angstszenarien und systematischer Ausschaltung kritischer Stimmen gearbeitet zu werden…

Der vollständige Text aus „Zeitzeichen“ 2012.

Warum die Kirche keine Pfarrer mehr braucht. Von Pfr. Dr. Christoph Bergner.

06/2016, hier zur pdf-Version mit download des Artikels (mit den entsprechenden Literaturangaben).

Als Bischof Hermann Kunst 1977 aus seinem Amt ausschied, ließ es sich die Bundesregierung nicht nehmen, einen Empfang für den Bevollmächtigten des Rates der EKD am Sitz der Bundesregierung auszurichten, der seit 1947 die Arbeit in Parlament und Regierung begleitet hatte. In seiner Laudatio sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Ich sehe das Scheiden eines persönlichen Freundes aus dem Amt, eines Seelsorgers, eines innerlich reichen Menschen, wie man selten einen trifft, aus dem Bonner EKD-Amt, wenngleich nach einem erfüllten amtlichen Leben, so doch, wenn ich das für mich sagen darf, mit einer gewissen Wehmut. Allerdings kann ich mir nicht denken, dass Hermann Kunst der EKD und uns nicht weiter zur Seite stehen werde. Er ist zwar aus dem Amt geschieden, aber Pastor, so denke ich, Pastor, als den er sich immer verstanden hat, Pastor wird er bleiben.“ 1Der Bevollmächtigte, der sich selbst „in erster Linie immer als Pastor“2 verstand, war nicht nur mit Helmut Schmidt, sondern auch mit Gustav Heinemann, Ludwig Erhard, Liselotte Funcke, Eugen Gerstenmeier u.v.a.freundschaftlich verbunden. Als Herbert Wehner seinen 60. Geburtstag beging, forderte Willy Brandt Kunst auf, den offiziellen Glückwunschartikel im zentralen Zeitschriftenorgan der SPD zu verfassen. Kenner der politischen Szene behaupten, dass Kunst in seiner Amtszeit von 1949 bis 1977 eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Bonner Republik gewesen ist.
Fast 40 Jahre nach der Verabschiedung des Bevollmächtigten nahm die Bundesrepublik 2015 Abschied von Helmut Schmidt, der damals den Abschied für Kunst veranlasst hatte. Im Hamburger Michel versammelten sich die Würdenträger der Republik. Es gab viele persönliche Worte, die Olaf Scholz, Angela Merkel, Henry Kissinger fanden. Die Predigt des Hauptpastors lies solchen persönlichen Kontakt vermissen. Seelsorgerische Verbundenheit scheint nicht bestanden zu haben. Das dürfte kein Zufall sein. Denn das Bild des Pastors, das die evangelische Kirche in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, unterscheidet sich gravierend von dem, was Kunst lebte und wofür Schmidt dankte.

Der Siegeszug der funktionalen Kirche
Was hat sich geändert? Schon Kunst dürfte Mitte der siebziger Jahre für viele reformfreudige Kräfte der EKD ein Relikt vergangener Zeit gewesen sein. Denn damals begann der Siegeszug einer funktional bestimmten Kirche. Was soziologisch, ethisch, gesellschaftlich und politisch gefragt war, sollte in den Strukturen und Angeboten der Kirche aufgenommen werden. Die Differenzierung der Gesellschaft sollte von der Kirche aufgegriffen und die Kirche gerade dadurch für die Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Dem Bedeutungsverlust der Kirche, den sinkende Gottesdienstbesuche und steigende Austrittszahlen vermuten ließen, sollte gegengesteuert werden.
Funktionalisierung heißt zuerst Professionalisierung. Wer ein guter Seelsorger sein will, der sollte eine psychologische Zusatzausbildung erwerben. Als Pädagoge ist ein Pfarrer auch kaum einsetzbar, wenn man seine unzureichende pädagogische Ausbildung betrachtet. Seine Managementfähigkeiten bei der Leitung einer Gemeinde dürften eher gering entwickelt sein. Als Prediger fehlen ihm oft die Bezüge zum modernen Leben, so dass er die Menschen nicht mehr erreicht. Die biblischen Texte sind dem Alltag zu fern und oft zu schwierig, als dass sie sich allein durch theologische Argumentation erschließen ließen. So zeigen sich schon im Kernbereich pastoraler Tätigkeiten Defizite, die dringend behoben werden müssen. Der Pfarrer, der sich in klassischer kirchlicher Tradition als Seelsorger, Lehrer und Prediger versteht, ist eine von tiefen Defiziten geprägte Gestalt. Und wer sich diese Defizite nicht eingestehen mag, dem ist ein weiteres kaum noch zu behebendes Defizit zu attestieren.
Doch die funktionale Bestimmung kirchlichen Lebens und Arbeitens erschöpft sich nicht in den drei pastoralen Diensten Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge, die schon Luther beschrieb. Funktionalisierung heißt auch Spezialisierung. Öffentlichkeitsarbeit, Umgang mit Medien, Umweltfragen, technologische Entwicklungen, Friedenspolitik u.v.a.m.gehören auch zu den Themenfeldern, für die sich die Kirche zu interessieren hat und zu denen sie Stellung nehmen muss. Die Vielfalt der Fragestellungen geht weit über den pastoralen Dienst hinaus. Sie ist schier unerschöpflich. Und je mehr Aufgaben in den Blick kommen, umso weniger werden sie im pastoralen Dienst gelöst werden können. Es ist also nur zu verständlich, wenn die Kirche ihr Personal an den gewandelten Kirchenbegriff oder besser an die gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen anpasst. Unter diesen Gesichtspunkten ist es nur konsequent, dass Pfarrstellen in Stellen für Öffentlichkeitsarbeit umgewidmet und von Journalisten besetzt werden oder die Seelsorge von Psychologen übernommen wird.
Funktionalisierung heißt aber auch Hierarchisierung. Da die Gesellschaft sich ständig weiter entwickelt, muss immer wieder neu darüber entschieden werden, in welchem gesellschaftlichen Feld kirchliche Aktivitäten gebraucht werden. Vor einem Jahr etwa wusste die Kirche noch nichts von den neuen Aufgaben der Flüchtlingshilfe, mit denen sie sich für viele Jahre wird beschäftigen können. Die kirchenleitenden Gremien sind also verpflichtet, ständig die Funktionen zu überprüfen, die sie gerade wahrnimmt, und den finanziellen und personellen Möglichkeiten anzupassen. Das lässt sich nicht ohne einen Ausbau der Hierarchie umsetzen. Es muss der Kirchenleitung möglich sein, kurzfristig personelle Umsetzungen vorzunehmen, finanzielle Umschichtungen zu gestalten, ohne vorher mit allen Kirchengemeinden und Dekanaten zu verhandeln. Es liegt in der Logik dieses Verfahrens, dass z.B. Gemeindepfarrstellen nicht mehr den Gemeinden auf unbegrenzte Zeit zur Verfügung gestellt werden können. Auch sollte die Kirchengemeinde nicht mit den finanziellen Mitteln ausgestattet sein, die verhindern würden, dass die Kirchenleitung sehr schnell ihre Interessen gegenüber den Gemeinden durchsetzen kann. Also sollten möglichst viele Mittel im Entscheidungsbereich der Gesamtkirche verbleiben, um die ständigen Anpassungen an den gesellschaftlichen Wandel auch zeitnah umsetzen zu können. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Kirche kaum noch Personal auf der Ebene der Gemeinden zulässt. Hauptamtliche Kirchenmusiker, Gemeindepädagogen, Küster werden fast ausschließlich auf der Ebene des Dekanats oder Gemeindeverbänden angestellt. Die Kirchenvorstände entscheiden noch über die stundenweise Beschäftigung von Küstern, Hausmeistern, Organisten, Sekretärinnen.
Funktionalisierung heißt Subjektivierung. Die scheinbar objektiven Kriterien sind im konkreten Fall höchst subjektiv. Ob die Kirche sich für Flüchtlinge, für Kinder oder für Religionspädagogik einsetzen soll und wenn ja, mit welchem finanziellen und personellen Aufwand, lässt sich eben nicht objektiv entscheiden. Die Individualisierung der Lebensformen, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft lassen sich nur vordergründig objektiv wahrnehmen. Letztlich sind die Entscheidungen höchst subjektiv, weil sie versuchen menschlichen Befindlichkeiten und Wünschen zu entsprechen.
Funktionalisierung heißt auch Effizienz. Eine Funktion lässt sich genau beschreiben und bemessen. Und so geht mit der Funktionalisierung der kirchlichen Dienste ein sich ständig weiter ausdifferenzierendes Bemessungssystem einher. Eine Gemeindepfarrstelle muss eine bestimmte Anzahl an Gemeindemitgliedern und eine bestimmte Fläche aufweisen oder andere Kennziffern, die in den verschiedenen Kirchen sicher auch voneinander abweichen. Natürlich gilt das auch für Gemeindepädagogen, Kirchenmusiker, Dekane u.s.w. Entsprechend lässt sich auch die finanzielle Ausstattung von Gemeinden und Einrichtungen errechnen. Wichtig ist dabei z.B. die Zuordnung zu den politisch relevanten Größen wie Stadt, Landkreis, Bundesland. Alles soll also in berechenbare Schemata gebracht werden, die schnelle Entscheidungen ermöglichen.

Die Auswirkungen einer funktionalisierten Kirche
Für die Arbeit von Pfarrern und Kirchengemeinden haben die eben beschriebenen Implikationen unmittelbare Wirkung.
Zunächst muss festgehalten werden, dass eine Kirchengemeinde und natürlich auch ihr Pfarrer nicht mehr in der Lage sind, die vielfältigen Ansprüche einer modernen Gesellschaft zu erfüllen. „Auf der Synode der Ev. Kirche von Westfalen zum Beispiel wird kirchenoffiziell davon geredet, dass die Streichung von Pfarrstellen den Gemeinden und Kirchenkreisen zugute komme.“3 Wenn eine Gemeinde aber nicht in den Genuss einer Streichung einer Pfarrstelle kommt, sollte sie sich vom Dekanat und der Landeskirche unterstützen lassen. Unter der Überschrift „Unterstützung der Kirchengemeinden“ wird in §9 der Dekanatssynodalordnung der EKHN festgestellt: „Die Dekanatssynode kann unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips im Benehmen mit der betroffenen Kirchengemeinde die Übernahme von Aufgaben beschließen, die von der Kirchengemeinde nicht oder nicht mehr sachgerecht wahrgenommen werden können.“ Andere unterstützenden Leistungen des Dekanats sind in § 9 nicht vorgesehen. Ob eine Aufgabe sachgerecht wahrgenommen wird, ist im Ernstfall wohl nicht von der Kirchengemeinde zu entscheiden, da ihr die fachliche Qualifikation im Rahmen des funktionalen Kirchenverständnisses ohnehin fehlt. Das Dekanat und die Landeskirche stellt den Kirchengemeinden und Pfarrern also vielfältiges Material und personelle Unterstützung bereit und übernimmt bei Bedarf auch gleich selbst die Aufgaben der Kirchengemeinde. So rät man derzeit den Kirchengemeinden, Kindergärten und Diakoniestationen in gesamtkirchliche Trägerschaft abzugeben. Dafür stellt die Kirchenleitung auch finanzielle und personelle Mittel zur Verfügung. Aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber den Gemeinden, die keine Kindergärten haben, hatte man schon 1997 zunächst finanzielle „Anreize“ gestrichen und dann die Anteile, die einer Pfarrstelle zugute kamen. Eine wichtige Aufgabe des Ortspfarrers ist es nun, die Angebote von Dekanat, übergemeindlichen Einrichtungen und Gesamtkirche weiterzugeben, Plakate zu verteilen, Termine zu veröffentlichen, Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen und Menschen zu mobilisieren, die Angebote in Anspruch zu nehmen. In manchen Fällen überlässt auch die Gesamtkirche den „Profis“ die Arbeit. Etwa wenn die EKHN Impulspost an ihre Mitglieder verschickt. Was theologisch dran ist und wie es aufzubereiten ist, entscheiden inzwischen Marketingexperten einer Agentur.

Der klassische Gemeindepfarrer wird immer überflüssiger
Bei der Einführung übergemeindlicher Stellen, den sogenannten Profilstellen im Dekanat und den Dekanestellen, hat die Kirchenleitung bald festgestellt, dass diese Stellen unabhängig vom Gemeindepfarrdienst arbeiten sollten, weil sie durch die unterschiedlichen Arbeitszeiten eines Gemeindepfarrers wie Schule, Kasualien etc. nicht angemessen im neuen Arbeitsfeld präsent sein können. Anders verhält es sich bei den gemeindlichen und seelsorgerischen Stellen. Nach den Berechnungsgrundlagen, die die Kirchenleitung erstellt, sind diese Stellen teilbar, unterschiedlich zuzuordnen und unabhängig von gemeindlichen Besonderheiten zu verteilen. Die Verbindung von Pfarrer und Gemeinde ist Stück für Stück gelöst worden. Befristete Besetzungen, regelmäßige Neubewertungen nach neu entwickelten Kennziffern, Verlust der Wählbarkeit durch den Kirchenvorstand in die Dekanatssynode. Denn nicht mehr die Gemeinden entsenden die Pfarrer in die Synode, sondern die Pfarrer führen unter einander eine Wahl durch. Eine Präsenzpflicht in den Gemeinden ist unter diesen Umständen vielfach nicht mehr durchsetzbar. Neben der Zuständigkeit für unterschiedliche Stellenanteile bedeutet das auch lange Wege und Abwesenheit in der Gemeinde.
Angesichts der Neubewertung des Pfarrberufs ist es verständlich, dass die Kirche bei ihren Planungen davon ausging, dass man gut mit weniger Pfarrern auskommen könne. In der Hierarchie der neuen funktionalen Bedeutsamkeit stehen die Parochie und seelsorgerische Dienste nach allem, was dazu vorgetragen worden ist, ohnehin weit unten. Es gilt daher auch nicht als zumutbar, dass eine kirchenleitende Persönlichkeit, die ihr Amt bei einer Wiederwahl verliert, ins Gemeindepfarramt wechselt. Wirkliche Professionalität wird man in diesem Feld des pastoralen Dilettantismus kaum finden. Auch dies ist ein Grund, warum die Landeskirchen lange nichts unternahmen, um Pfarrnachwuchs zu gewinnen, obwohl die Probleme auch bei nur geringen Kenntnissen der Demographie offenkundig waren. In der EHKN hat man mit viel Gespür für synodale Befindlichkeiten die Probleme von Jahr zu Jahr herausgeschoben. Wenn z.B. die Synode beschließt, dass Werbematerial an die Schulen verteilt werden soll, kann die Landeskirche das Werbematerial zu einem Zeitpunkt fertigstellen, an dem der betreffende Abitursjahrgang schon die Schule verlassen hat. Da die meisten Synodalen keine schulpflichtigen Kinder haben, bemerken sie das nicht. Es kann also erst ein Jahr später zum Einsatz kommen. Wenn dann die Auflage so begrenzt ist, dass in jede Gemeinde bestenfalls zwei Exemplare kommen können, ist die Werbewirksamkeit ziemlich reduziert. Wenn man dann die Exemplare den Dekanaten nur zur Ansicht schickt, damit Gemeinden Exemplare bestellen können, ist schnell das zweite Jahr vergangen. Im dritten Jahr stellt man fest, dass die Broschüre nicht gelungen ist, und nicht weiter verteilt werden sollte. Besonders pikant ist in diesem Zusammenhang das Amtsblatt der EKHN vom Oktober 2011. Dort wird unter dem 24. August 2011 zum Thema Pfarrernachwuchs bekannt gegeben: „Die Schulen werden von uns direkt angeschrieben und mit Informationsmaterial versehen“. Das ist bis heute (Mai 2016) nicht geschehen. Es ist erstaunlich, wenn Klaus Neumeier im Dt. Pfarrerblatt  festhält, dass das Nachwuchsproblem von der Kirchenleitung erkannt sei, allerdings nicht von den Gemeinden und im Kollegenkreis. Er war Mitglied der Synode, als im April 2007 die Stellvertretende Kirchenpräsidentin das Problem erstmals öffentlich benannte.5 Bis zur Vorlage des von Neumeier erwähnten Papiers vergingen also fünf(!) Jahre. Nachdem jahrelang in der Synode auf die Problematik des Pfarrnachwuchses aufmerksam gemacht wurde, nun der Kirchenleitung zu bescheinigen, sie würde hier etwas sehen und vorantreiben, was anderen entgangen sei, ist schon einigermaßen grotesk.
Immerhin wird nun ganz offiziell für den Pfarrberuf geworben. Die kurhesssische Kirche bietet Studenten ein monatliches Stipendium von 500,00€, die badische lockt mit 50.000,00€ für Quereinsteiger. Die hessen-nassauische wirbt mit höheren Gehältern und weist bei ihren Ausschreibungen im Amtsblatt darauf hin, „dass Pfarrinnen und Pfarrer aus anderen Gliedkirchen der EKD, die sich für eine Stelle interessieren, zuerst (fett gedruckt) das Bewerbungsrecht erhalten müssen.“6 Dort ist man bereit, die Gleichberechtigung bei Bewerbungsverfahren aufzugeben. Doch die Bedingungen für die Arbeit sind unattraktiv geworden. Für eigenständige, verantwortlich handelnde, theologisch gebildete Persönlichkeiten, die sich auf Dauer in den Dienst einer Gemeinde stellen wollen, besteht kaum Bedarf.

Die Reduzierung der Kirchengemeinden
Doch unter den gegebenen Voraussetzungen sollte das niemand wundern. Die EKD hat schon 2006 in ihrem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ die Reduzierung von 50% der Kirchengemeinden bis 2030 gefordert. Selbstverständlich müssen auch die Pfarrstellen reduziert werden. Das soll durch ein Netzwerk von Prädikanten aufgefangen werden. Da nur ein geringer Bedarf an qualifizierter Theologie nötig zu sein scheint, können Gemeinden auch von Ehrenamtlichen versorgt werden. Martin Luther sah das noch anders. So sagte er in einer Tischrede: „In Kürze wird es an Pfarrern und Predigern so sehr mangeln, dass man die jetzigen aus der Erde wieder herauskratzen würde, wenn man sie haben könnte. Denn Ärzte und Juristen bleiben genug, die Welt zu regieren; man muss aber zweihundert Pfarrer haben, wo man an einem Juristen genug hat. Wenn zu Erfurt einer ist, ists genug. Aber mit den Predigern geht’s nicht so zu; es muss ein jeglich Dorf und Flecken einen eigenen Pfarrer haben. Mein gnädiger Herr (der Kurfürst zu Sachsen) hat an zwanzig Juristen genug, dagegen muss er wohl an die 1800 Pfarrer haben. Wir müssen noch mit der Zeit aus Juristen und Ärzten Pfarrer machen, das werdet ihr sehen.“7 Zum Reformationsjubiläum steht Luther mit seiner Vorstellung eines qualifizieren Pfarramts in der EKD ziemlich allein da. Wer „Dörfer und Flecken“ mit Pfarrern versorgen will, wird bei den Personalplanern der Kirche nur noch ein müdes Lächeln erwarten dürfen.

Was Kunst als Pfarrer für Regierung und Parlament tat, ist heute in der Kirche nicht mehr gefragt. Er suchte den stetigen Kontakt zu Menschen, für die er da sein wollte. Über Jahrzehnte war er mit politischen Entscheidungsträgern verbunden. So konnte Vertrauen entstehen. Er war dazu ein hoch gebildeter, qualifizierter Gesprächspartner. Deswegen war er gefragt. Gerade weil er Pfarrer, nur Pfarrer, sein wollte, wurde er gehört und geachtet.

Aus einer Gemeindekirche wurde eine Kirche von oben nach unten
Offenkundig bedeutet die Kirchenreform eine gravierende Änderung. War bislang die Ev. Kirche auf die Gemeinde gegründet und verstand sich in der lutherischen und reformierten Tradition als Gemeindekirche, so wird nun die Kirche von oben nach unten gedacht und organisiert. Lassen wir die theologischen Probleme ausnahmsweise außen vor, so stellen sich praktische Probleme ein:
Die neue Kirche braucht viel Verwaltung und diese Verwaltung hat es immer noch mit den gleichen Menschen, Kirchenvorständen, Gemeinden etc. zu tun, wie vorher. Das führt zu hohen Reibungsverlusten. Aus der Fülle der Erfahrungen seien zwei geschildert:
1. Wir planen eine ökumenische Gemeindefahrt und wollen gern mit Vertretern der Kirchen sprechen. Mein katholischer Kollege kann innerhalb von einigen Tagen einen Bischof für ein Gespräch gewinnen. Ich rufe bei einer ev. Kirchenverwaltung an. Auf der Suche nach meinem Gesprächspartner werde ich mit fünf unterschiedlichen – immer ausnehmend freundlichen Menschen – verbunden, bis ich den persönlichen Referenten der gewünschten Person erreiche. Er hört mich freundlich an und macht den Eindruck, als ob ich ein seelsorgerisches Problem habe. Am Ende erfahre ich, dass auch er für Termine nicht zuständig sei. Ich solle eine Mail schreiben, dann würde ich bald Auskunft erhalten. Mitte Juni schreibe ich die Mail. Ende Juli werde ich telefonisch informiert, dass ich nach den Sommerferien Auskunft erhalte. Pünktlich nach den Sommerferien trifft die angekündigte Mail ein. Eine einfache Terminabsprache hat knappe drei Monate gedauert.
2 Eine Gemeinde bekommt einen Kirchenmusiker, der auf Dekanatsebene angestellt wird. Nach 18 Monaten erhält sie vom Dekanat eine Dienstanweisung zur Unterschrift, die nicht den Verabredungen entspricht und auch nicht die nötige Zahl an Vertragsexemplaren hat. Eine Korrektur ist nötig. Ein Satz muss eingefügt werden. Das dauert 4 Monate.
Von solchen Erfahrungen lassen sich Dutzende erzählen. Die Kirche verstrickt sich in ihren vielen Projekten, Absprachen, Planungen, Evaluationen. Einfachste Abläufe werden zum Problem. Es gibt keine angemessene Kontrolle mehr. Wenn Gemeinden nicht mehr Pfarrer in die Synode wählen dürfen, ist die Verbindung von Pfarrer und Gemeinde gekappt. Da viele Gemeinden nur noch einen einzigen Vertreter entsenden dürfen, können gute Beziehungen und Vertrauen in den wenigen Stunden, die man zweimal im Jahr zusammen verbringt, kaum entstehen. Die Verwaltung hat alles in der Hand. Da die Verwaltungswege und die Entscheidungen immer komplexer werden, überschauen die Synodalen oft nicht mehr die Folgen ihrer Entscheidungen. Ein ernsthafter Diskurs ist kaum noch möglich. Immer weniger Menschen sind daher bereit, in eine Synode zu gehen. Die Fluktuation ist so hoch, dass eine kontinuierliche Beratung und Kontrolle der Kirchenleitung kaum möglich ist.
Wie konnte es dazu kommen?

Macht die Reform als Selbstzweck die Kirche kaputt?
Die Kirche hat sich unter einen enormen Reformdruck gesetzt. Der wichtigste Grund waren jeweils schlechte Prognosen und ein scharfer Blick auf Probleme und Defizite. Aber die funktionale Bestimmung der Kirche offenbart nicht nur vielfältige Defizite, sie ist selbst hoch defizitär. Sie setzt ein Karussell in Gang, das kaum noch zu bremsen ist. Wer z.B. Pfarrstellen an bestimmten Kennziffern festmacht, muss ständig Stellen überprüfen und verändern. Der Zwang zur Reform macht die Reform zum Selbstzweck.
Die funktionale Bestimmung definiert die Kirche aber vor allem von außen, von organisatorischen, gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen her. Wolfgang Schäuble hat jüngst kritisiert, dass der Kirche „der spirituelle Kern“ abhandengekommen sei. „Es entsteht der Eindruck, als gehe es der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der eigene Glaube.“ 8
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob Prognosen der Maßstab sind, an dem sich Kirche orientieren soll. Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ behauptet, eine „wahrsagende Geschichtsschreibung“ sei nur dann möglich, „wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt…Geistliche weissagen gelegentlich den gänzlichen Verfall der Religion und die nahe Erscheinung des Antichrist, während dessen sie gerade das tun, was erforderlich ist, ihn einzuführen.“9 Auch wenn niemand in offiziellen Papieren der EKD den Antichrist erwartet, so ist es in den hochkomplexen Strukturen der Moderne um die Prognosemöglichkeiten noch schlechter bestellt als zu Kants Zeiten.

Am Pfingstmontag in diesem Jahr wurde der Mainzer Kardinal Lehmann verabschiedet. Fast 40 Jahre waren seit der Verabschiedung von Bischof Kunst vergangen. Der Abschied wurde vom Fernsehen mehrere Stunden lang übertragen. Was dort geschah, kann eigentlich gar nicht sein: Lehmann war Bischof eines Bistums mit ca. 790.000 Katholiken. Nach evangelischen Vorstellungen ist ein solches Kirchengebiet nicht lebensfähig. Es liegt in zwei Bundesländern und steht so in der Gefahr, von den betreffenden Regierungen nicht angemessen wahrgenommen zu werden. Es leidet seit Jahren unter eklatantem Priestermangel. Eine gesellschaftlich relevante Größe sieht in der ev. Kirche zur Zeit anders aus. Doch wer Rang und Namen hatte, ließ sich den Festakt nicht entgehen. Zwei Ministerpräsidenten, der Bundestagspräsident, ein komplettes Kabinett, hochrangige Vertreter von Unternehmen, der Präsident des europäischen Parlaments u.v.a.m.
In ihrer sympathischen, zugewandten Art dankte die pfälzische Ministerpräsidentin dem Kardinal für viele gute Gespräche und Beratungen im Kabinett. Oft sei er dort zu Gast gewesen und heute seien alle ihre Minister gekommen, um Dank zu sagen. Was machte den Kardinal so wichtig? Seine persönliche Glaubwürdigkeit. Er belehrte nicht, er beriet. Er wollte nicht der bessere Politiker sein, sondern geistlicher Ratgeber, er wollte kein Manager, sondern Theologe und Priester sein, nicht Psychologe, sondern Seelsorger. Er war auf seine nachdenkliche, beharrliche Weise ein unverwechselbarer Diener seiner Kirche. Was einst Helmut Schmidt überzeugte, hat auch Malu Dreyer und Martin Schulz überzeugt.
Vielleicht entdeckt auch die evangelische Kirche wieder die Bedeutung des Pastors und Pfarrers. Dann würde ihr auch wieder wichtig, was ihren Dienst eigentlich ausmacht und wofür sie in dieser Gesellschaft gebraucht wird. Nicht der funktionale Dienst, sondern die personale Präsenz ist die Voraussetzung für ihre unverzichtbare pastorale Aufgabe.

„Einst selbständige Gemeinden, inzwischen fusioniert, dümpeln vor sich hin, zerfallen, lösen sich auf“. Aus einem Leserbrief im Bad. Pfarrvereinsblatt.

06/2016, 06/2016, Rudolf Wein, Bad. Pfarrvereinsblatt

Lesermeinung zu „Volkskirche oder Kirche ohne Volk” von August Becker (Ausgabe 3-4 / 2016)

Ich erlebe es in meiner unmittelbarsten Umgebung: Einst selbständige Gemeinden, inzwischen fusioniert, dümpeln vor sich hin, zerfallen, lösen sich auf,…

vgl. S. 264

 

Strukturreformen überdenken: Kardinal Marx, München, will Modelle entwickeln lassen, um den Priestermangel aufzufangen.

31. Mai 2016, Von Jakob Wetzel

Die katholische Kirche ruft ihre Gläubigen zum Experimentieren auf – und lockert dafür umstrittene Vorgaben ihrer Strukturreform…..vorbehalten sein soll, gehört zu den zentralen Kritikpunkten an der 2010 verabschiedeten Strukturreform in der Erzdiözese; denn weil die Zahl der Priester langfristig sinkt…

Die Kirche hat auf die Probleme mittlerweile reagiert: Bereits Ende 2014 kündigte sie an, sie wolle die Strukturreform überdenken, nicht nur wegen des Mangels an Priestern, sondern auch, damit sich haupt- und ehrenamtliche Laien besser einbringen könnten, wie es damals hieß. Weitere Zusammenlegungen von Pfarreien zu Verbänden solle es nicht mehr geben. Wenig später stellte das Erzbistum Verwaltungsleiter ein, um die Pfarrer von Management-Aufgaben zu entlasten und ihnen mehr Zeit für die Seelsorge zu verschaffen. Und erst im März kündigte die Kirche an, Forscher der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn sollten in einer groß angelegten Umfrage die bisherigen Ergebnisse der Strukturreform im Erzbistum auf den Prüfstand stellen. Mehr dazu.

Organisationsentwicklung: „Typische Reaktionen auf die gestiegene Komplexität ist die Intensivierung der zentralen Steuerung oder auch von Planung und Kontrolle. Erreicht wird damit das Gegenteil von dem, was eigentlich gesucht wird…“

05/2016, von Detlev Trapp

„…
Wo Dinge nicht mehr nur kompliziert und damit beherrschbar sind, versagen viele der tradierten Steuerungslogiken und Bauprinzipien für Organisationen. Einer komplexen Umwelt kann man nicht mit Lösungsmustern begegnen, die für komplizierte Verhältnisse noch geeignet waren. Gleichwohl reagieren viele Führungskräfte auf die VUKA-Herausforderungen damit, dass sie der neuen Situation mit den ihnen bekannten Lösungsmustern begegnen.

Sie setzen auf die Erfolgsmuster, die sie aus der Vergangenheit kennen und übertragen diese in die Gegenwart. Typische Reaktionen auf die gestiegene Komplexität ist die Intensivierung der zentralen Steuerung oder auch von Planung und Kontrolle. Erreicht wird damit das Gegenteil von dem, was eigentlich gesucht wird: die Binnenkomplexität und das Stresslevel steigen, die Systeme werden starrer, Entscheidungsprozesse werden deutlich langsamer und die Organisation kann mit der Dynamik des Umfelds nicht mehr Schritt halten.

Und es sind weitere Erkenntnisse, die ein Umdenken erfordern. Die jährlich durchgeführten Untersuchungen des Gallup Instituts zeigen eine erschreckend geringe Identifikation der Arbeitnehmer mit ihrem Job. Durchschnittlich 70 % der Mitarbeiter machen Dienst nach Vorschrift, 15 % haben innerlich gekündigt und nur 15 % sind emotional stark an ihr Unternehmen gebunden. …“ Zum Artikel.

Anm. F.S.: Beispiele für traditionelle Reaktionsmuster und Steuerungslogiken kennt man aus den Umbauprozessen der Kirchen.

Neue Fehlsteuerung, teurer Sparkurs, gefloppte Kirchensteuer auf Kapitalerträge. Ein Kommentar zur Ruhestandsversetzung des EKD- Finanzdezernenten Thomas Begrich von Friedhelm Schneider.

03/2016
Schon 2013 verließ Oberkirchenrat Thorsten Latzel , Leiter des Projektbüros Reformprozess im Kirchenamt der EKD seinen Posten und übernahm die Stelle des Akademiedirektors der Ev. Akademie Frankfurt.  Bald gab es in der EKD innerhäusig kritische Bemerkungen. Diese wurde immer deutlicher und klarer. Im letzten Jahr etwa ließ Thies Gundlach zum Reformprozess wissen: „Denn zum einen kostet das Umbauen viel Kraft,  und zum anderen sind die Einsparergebnisse durchaus überschaubar und jedenfalls nicht geeignet, Plausibilität gerade für
die Skeptiker der Fusion zu schaffen.  Darüber hinaus verbindet sich damit oft eine Arbeitsverdichtung“.  Kurz die Reformen führen zu innerkirchlichem Kräfteverschleiß und Mehrbelastung des Personals ohne nennenswerte Einsparergebnisse. Damit schließt sich Thies Gundlach inhaltlich der  im Wormser Wort geäußerten Kritik an den sog. Kirchenreformen an.

Auf diesem Hintergrund liest sich die Pressemeldung zur Ruhestandsversetzung von Thomas Begrich als zwar verklausulierte, aber letztlich doch unverhohlene Kritik: „In seiner Zeit bei der EKD hat er maßgeblich am Reformprozess der EKD mitgewirkt“. Wenn dann noch diese ganze Reformphase vom Ratsvorsitzenden als Ära Begrich betitelt wird,  dann wird schon etwas vom Einfluss eines Mannes in der EKD- Zentrale sichtbar, den viele noch nicht einmal mit Namen kennen. Doch soll wohl weniger eine einzige Person für die wenig schmeichelhaften Resulate dieser eineinhalb Jahrzehnte stark ideologisch gefärbter EKD- Kirchenleitung verantwortlich gemacht werden, als vielmehr ein Schlusspunkt gesetzt werden. Eine neue, eine Postreformepoche kann und soll mit dem  Ausscheiden von Thomas Begrich beginnen. Der in der DDR sozialisierte und gelernte Diplom-Betriebsökonom bekleidete den Posten des EKD Finanzdzernenten von 2003-2016. Bis 2003 war er Finanzdezernent der Kirchenprovinz Sachsen und zu DDR-Zeiten Finanzchef eines Krankenhauses in Sachsen-Anhalt.

Was assoziiert man mit der „Ära Begrich“ und warum muss sie so schnell wie möglich beendet werden? Man assoziiert: 1. die Ersetzung von richtigem Management durch Langfristprognosen als argumentative Basis der Notwendigkeit eines tiefgreifenden Umbauprozesses der Kirche, 2. die Einführung der kaufmännischen Buchführung in der Kirche, 3. die Sparpolitik und 4. der jüngste Flopp mit der Kirchensteuer auf Kapitalerträge. Der Reihe nach:

1. Ich erinnere mich lebhaft an den Vortrag von Thomas Begrich auf einer Tagung der Ev. Akademie Bad Boll im  Jahr 2008. Das zentrale Chart zeigte die Entwicklung der kirchlichen Finanzen im Jahr 2030. Unterstellt war die Fortsetzung der kirchlichen Arbeit im damals vorhandenen Umfang unter Berücksichtigung einer Verschlechterung der Einnahmesituation (Kirchensteuerrückgang). Das Ergebnis: zu diesem zukünftigen Zeitpunkt hätten die Mittel gerade noch für die Pfarrgehälter gereicht. Also: keine Mittel mehr für Verwaltung, für… Fazit: undenkbar! Da musste gegengesteuert werden, und zwar heute! Das Auditorium, ca. 200 Personen mit Positionen in den kirchlichen Finanzabteilungen lauschten andächtig. Ein Vortrag, den nicht nur diesen Auditorium zu hören bekam. Ich selbst sah die Präsentation nahezu unverändert im Jahr 2011 noch einmal auf einer Tagung des Reformzirkels „Netzwerk Kirchenreform“ in Wiesbaden. Der Inhalt war leicht eingängig. Und viele, viele, beteten die Botschaft bei allen möglichen oder unmöglichen Gelegenheiten nach.  Das also war die Welt und Botschaft des Thomas Begrich, die man in der EKiR ganz ernsthaft, aber treffend „einfache Formel“ taufte.  Sinn  und Zweck liegen auf der Hand: der so erzeugte Krisenalarm war Legitimation und argumentative Grundlage eines bis dato einzigartigen innerkirchlich angestoßenen Abbau- und Umbauprozesses.

2. Beschluss zur Einführung der kaufmännischen Buchführung (Doppik/NKF) 2005. Wo die Implementierung der Doppik schon stattgefunden hat, absorbierte dies alle vorhandenen Kräfte der Verwaltungen, und zwar über Jahre. So wurde die Doppik zum Musterbeispel für kirchliche Selbstbeschäftigung. Ehrenamtliche verweigerten die Mitarbeit oder schieden aus.  Gesteigert wurde die Schwierigkeit der Aufgabe, als damit auch die Umstellung der – in der Regel zuvor nicht für den eigenen Bedarf getestete – IT verbunden war. Anstelle einer EKD- weiten Harmonisierung, kochte jede Landeskirche auch noch ihr eigenes Süppchen. In Bayern bspw. wurde die gekoppelte Doppik und SAP- Einführung daher von einem Synodalen als Jahrhundertprojekt bezeichnet, von Mitarbeitern im LKA hingegen stand SAP für „Search And Pray“.  Die EKiR hatte über Jahre keine Jahresabschlüsse, war also letztlich durch einen finanziellen Blindflug gelähmt.

Was kann die Doppik für die Steuerung der Kirche leisten?  Die für das Management entscheidenden Indikatoren wie etwa die Mitgliederbindung werden damit jedenfalls ebenso wenig erfasst wie etwa die Motivation der Mitarbeiter, namentlich der Pfarrerschaft. Was hingegen neu dargestellt wird, ist das finanzielle Vermögen der Kirche. Freilich ist das eine Information, die einen großen Bewertungsspielraum lässt und von daher für die präzise Steuerung kaum tauglich ist.  Zum anderen handelt es sich um Angaben,  mit deren Darstellung die Kirche eigentlich nur verlieren kann. Denn die kirchennahen Mitglieder werden durch diese Angabe, die monetäre Bewertung primär geistlicher Größen (!), irritiert.  Und unter den Distanzierten wird die Kirche den einen zu reich, den anderen aber zu arm sein ( bzw. besser: sich darstellen ). Ergebnis also: man schafft Angriffsflächen. Und das völlig ohne Not. Obwohl es ja schon genug andere Angriffsflächen gibt. Und das Lieblingsargument der Befürworter, die Darstellung des Ressourcenverbrauchs, ist so richtig wie falsch zugleich. Denn selbstverständlich war der Administration das Thema auch vorher schon bekannt. Man war sogar so intelligent, dass man richtige Lösungen nicht nur entwickelte, sondern – weil nur administratives, dienendes Handeln –  daraus noch nicht einmal großes Aufhebens machte. Bsp: Pensionen, Bsp. EKHN. Dort  hatte man das Problem (mit Kameralistik) für die damalige Zeit, im letzten Viertel es letzten Jahrhunderts, nachgerade genial gelöst. Etwa mit der Finanzierung erheblicher Anteile über die BfA, also beitrags- und nicht kapitalorientiert. Warum werden also nicht solche Mitarbeiter geehrt, die aus Managementsicht für die damalige Zeit wirklich glanzvollen Leistungen erbracht und so der geistlichen Leitung der Rücken frei gehalten haben? Man muss nach ihnen keine Ära benennen, aber ihnen die Ehre für ihre Leistung zollen. Die betroffenen Personen, hier der ehemalige OKR Tempel, eine Person frei von jeglichem Narzissmus, würde man auf diese Weise zurecht nach völlig absurder Verunglimpfung durch die „Reformer“ rehablitieren. Das lief in den meisten Landeskirchen gut.  Anders verhielt es sich bei den Bauämtern. Dort war das Management durchaus und durch die Bank verbesserungsbedürftig: Man stattete sie in guten Zeiten einfach so satt mit Finanzmitteln aus, dass nichts anbrennen konnte. Auf Dauer war das nicht zu halten, weswegen es einer präzisen Kostensteuerung bedurft hätte, eines Kirchlichen Immobilienmanagements. Gerade Letzters, eine präzise Kostensteuerung und präzise Ressourcenverbrauchswerte lieferte die Doppik mit pauschalen Abschreibungswerten nun aber gerade nicht.
Dass diese Abschreibungen auf Gebäudewerte zu guter letzt noch dazu verwendet wurden, um Gemeinden oftmals unbegründet arm zu rechnen und damit zu Fusionen zu zwingen, das war denn die letzte Volte in einem zuvor schon unsäglichen Spiel. Den Umbau-Protagonisten hat all das an der Basis wenig Freunde gemacht.

Man wird bei alledem fragen müssen, ob Thomas Begrich die äußerst spärlichen Resultate der Doppik für die Steuerung der Kirchen, den Aufwand der Maßnahme der Implementierung, die Kompetenzen in den landeskirchlichen Verwaltungen und – last not least – die Kosten (!) überschaut und berücksichtigt hat. Und diese in ein Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen der Organisation gesetzt hat. Ich denke: bei einer solcherart ganzheitlichen Sicht wäre das Projekt Doppik  in der Kirche schon in der Brainstorming-Phase erledigt gewesen.

3. Die Leitfigur des Finanzdezernenten war indes die Schwäbische Hausfrau.  In seine Zeit fallen umfassende Sparmaßnahmen der Landeskirchen, die größere Abbauprozesse wie Personalabbau, Gemeindeabbau etc. zur Folge hatte.  Die Frage, ob dabei das vorgegebene und verfolgte Ziel höherer Wirtschaftlichkeit etwa im Falle von Fusionen überhaupt erreicht wurde oder je zu erreichen sein wird. Selbst von der EKD- Zentrale wird dies heute offen bezweifelt (s.o.). Evaluationen zu solchen Sparprogrammen gibt es nicht. Und das hat seinen Grund.

Nun wird Thomas Begrich einwenden, das Sparprogramm habe ja dazu gedient, die Rücklagen für die Pensionen aufzustocken. Und in fernen Zeiten würden  es die Ruheständler schon merken, dass er mit seiner Schwäbischen-Hausfrauen-Finanzpolitik recht gehabt hätte. Auf eine solche Argumentation muss man aber nicht hereinfallen. Andersrum wird nämlich ein Schuh draus: Die Versäumnisse an der jungen Generation, die dort den Entfremdungsprozess von der Kirche fortsetzten, wird den zukünftigen Finanzdezerneten durch fehlende Kirchensteuereinnahmen auf die Füße fallen. Gerade die Jugend wurde der Kirche stark entfremdet, u.a. weil man die Angebote hier besonders rigoros gestrichen hat. Man  brauchte das Geld ja angeblich für die Verwaltung, die Doppik, die IT oder eben die Rücklagen.  Und man muss kein Profet sein, um zu sehen, dass diese selbstverschuldeten Einnahmeausfälle höher sein werden als die Zinsen der mit vergleichbaren Mitteln gespeisten Rücklagenfonds für die Pensionen. Dies gilt selbst für den Fall, dass das Zinsniveau wieder steigt und es den Anlagemanagern gelingt, größere oder Totalverluste bei Crashs zu vermeiden, die deutsche Fonds oder Institute (wie fast sämtliche Landesbanken) doch regelmäßig zu treffen scheinen (wallstreet- Wort: „stupid german money“). Damit soll das Problem des Verlusts der Bindungskraft nicht auf die fiskalische Seite beschränkt werden, auch wenn es hier um den Finanzdezernenten und seinen Sektor geht. Management beinhaltet eben eine ganzheitliche Sicht. und die hat auch hier gefehlt.

4. Zur Verlustreichen Sparpolitik kam dann noch der verlustreiche Versuch der Steigerung der Einnahmen, der Flopp mit der Kirchensteuer auf Kapitalerträge. Thomas Begrich agierte hier als sei er Wolfgang Schäuble. Ist er aber nicht, wie auch er jetzt weiß. Das zu lernen brauchte es lange. Denn Thomas Begrich war doch immer  sehr von seinen eigenen Meinungen und last not least seiner eigenen Person überzeugt, dass es ihm oft genug gelang, damit – auch entgegen Erwägungen etwa des gesunden Menschenverstandes, entsthafter Managementeinsichten oder auch theologischer Positionen – auch andere zu überzeugen. Wer so in seinem eigenen Kosmos kreist, verliert den Kontakt zur Wirklichkeit. Wenig andere Beispiele wie die Sache mit der Kapitalertragssteuer belegen so deutlich, wie weit manche Akteure in der EKD- Burg in der Herrenhäuser Straße Hannovers von den evangelischen Kirchenchristen schon entfernt sind. Hier aber haben sie mit einer bis dato nicht gekannten Schärfe durch die Welle der Kirchenaustritte auf solche wirklichkeitsvergessene Kirchenpolitik reagiert. Was war mit den Mehreinnahmen? Mathias Drobinski resümiert in der SZ: „So gesehen hätten die Kirchen besser auf das Geld verzichtet, das ihnen die neue Einzugsform  zusätzlich bringt. Zudem weiß niemand, ob die Verluste durch die Austritte nicht die Mehreinnahmen übertreffen.“

Ich schließe mit zwei Fragen. 1. was wäre richtiges Management, hier: richtiges Finanzmanagement der EKD gewesen? Und 2. Inwieweit herrschte in der Grundausrichtung der neoliberalen Reformagenda  für die Kirche Entscheidungsfreiheit?

1. Was fehlte zum Management beim Diplom-Betriebsökonomen Thomas Begrich ? Es fehlte die ganzheitliche Sicht eines systemischen Managements; es fehlte Ziel und Umsetzung, die Organisation Kirche wieder näher zu den Menschen und ihrer Wirklichkeit zu bringen; es fehlte die Einsicht, dass dazu alle positiven Potenziale der Kirche zu nutzen und zu entwickeln war.   Sein Part als Finanzdezernent dabei: eine entsprechend unterstützende Finanzpolitik.

Richtige Investition: Um näher zu den Menschen zu kommen wäre es vor allem nötig gewesen, in die Kommunikation des Evangeliums  zu investieren um neue Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Demgegenüber wurde in die Strukturen der Organisation investiert. Die danach nicht besser arbeiteten als zuvor – allerdings  infolge Zentralisierung nun allein schon geografisch weiter weg von den Menschen waren als zuvor.

Richtige Kostenreduktion: sehr wohl mussten Kosten reduziert werden, namentlich bei Verwaltung und bei Gebäuden (vgl. den entsprechenden Ansatz des Kirchlichen Immobilienmanagements – s.o.).

Umgang mit den Menschen (Potenzialen): Menschen ernst nehmen und einbeziehen. Und sie nicht durch Expertensysteme einschüchtern und gefügig machen. Kurz: mehr demokratische, mehr synodale Teilhabe auch in Finanzfragen wäre also nötig gewesen. Das wäre möglich gewesen, aber der Weg dahin wäre eben ein ganz anderer gewesen als der des Thomas Begrich.

2. Man wird freilich auch bei einem von sich und seiner Rede überaus überzeugten Menschen fragen sollen, inwieweit Thomas Begrich bei diesen Entscheidungen nur Treiber oder auch Getriebener war. Denn in dieser Zeit Anfang des Jahrhunderts wurde ein gesellschaftlicher Umbauprozess ins Werk gesetzt, der alle Lebensbereiche umfasste: Die Agenda 2010 tat das auf dem Gebiet der Sozialleistungen.  Betroffen waren aber auch alle Institutionen der Daseinsvorsorge. Teile der Institutionen wurden privatisiert oder in die Privatwirtschaft verlagert. Die Leistungen für die Bürger, Schüler, Studenten, Patienten etc. wurden auch dadurch deutlich reduziert oder verteuert. Analog dazu wurde zeitlich leicht verzögert auch der Umbau der Kirchen betrieben. Bei dieser Umgestaltung der Institutionen spielte die Finanzsteuerung eine zentrale Rolle.  Und ja, die Frage stellt sich, ob Thomas Begrich und die EKD diese staatliche Reformagenda teilten oder sich dem von dort ausgehenden Druck auf die doch noch staatsanaloge evangelische Kirche nicht widersetzen konnte? Wir müssen diese Frage hier nicht entscheiden. Das überlassen wir der Forschern der jüngsten Kirchengeschichte.  Und: wir müssen auch Thomas Begrich nicht entlasten. Eine wenig erfolgreiche Ära trägt jetzt seinen Namen. Aber diese Ära ist abgeschlossen. Letzteres wird die EKD auch der Pfarrerschaft, der Mitarbeiterschaft und dem Kirchenvolk offen mitteilen müssen, nicht nur verklausuliert. Sonst könnten Beispiele wie die in Angeln Schule machen.

Wo es an Plausibilität von Umbauprozessen mangelt, muss Leitung lernen mit Widerstand und Pragmatismus umzugehen. Ein aufschlussreiches Fortbildungsangebot von IPOS, Institut für Personalberatung, Organisationsentwicklung und Supervision in der EKHN.

02/2016, Leiten heißt, mit dem Widerstand (um-)gehen
Leitungskräfte sind immer wieder selbst von Veränderungen in Strukturen, Prozessen und Systemen betroffen und haben gleichzeitig die Umsetzung dieser Veränderungen mit den Mitarbeitenden sicherzustellen. Hier geraten sie mitunter an Grenzen: Ein Teil der Beteiligten leistet offen Widerstand gegen die Veränderungen oder hält sich vornehm bedeckt. Ein anderer Teil der Beteiligten ist bereit für die Veränderungen und möchte zügig die Veränderungen vorantreiben. Wie können Leitungspersonen in solchen Situationen verantwortlich mit Widerstand umgehen?

In dieser Fortbildung/diesem Modul werden wir:

Widerstandsphänomenen anhand mentaler Landkarten nachspüren
Über eigene Widerstandserfahrungen nachdenken
Modelle präventiver Widerstandsbearbeitung kennen lernen
Ansätze für ein widerstandssensibles Management erarbeiten
Wir arbeiten aus einer Mischung von kurzen Theorieinputs, Reflektionsphasen, Übungen und kollegialem Austausch.

Leitung: Andreas Klein, Pfarrer und Organisationsentwickler, IPOS, Friedberg
Anja Beckert-Hoss, Juristin und Organisationsberaterin, IPOS, Friedberg
Ort: Haus Friedberg
Termine: 12. Oktober 2016 und 9. November 2016

ZUr Quelle.

Auch in Hessen: Schwere Geburten, Leiden und Lasten von landeskirchlichen Kooperationsverträgen. Viel Aufwand für – …?

02/2016, aus dem Rückblick und Ausblick am Ende der 12. Landessynode
von Präses Rudolf Schulze , Samstag, 20. Februar 2016

„… Als wir vor sechs Jahren an den Start gingen, hatte uns die 11. Landessynode unfreiwillig
einen großen Brocken unerledigt hinterlassen müssen. Das war der mit der EKHN ausgehandelte
Kooperationsvertrag, der wegen hessen-nassauischer Verfahrensfragen in unsere Synodalperiode
hinüberragte. In unserer dritten Tagung haben wir dann im November 2011
den Beschluss zur Kooperation unserer beiden Landeskirchen in den Bereich Mission und
Ökumene sowie Religionspädagogik verabschiedet. Wenn dieser Beschluss damals als „historisch“
bewertet wurde, so klingt darin die Erleichterung nach über den erfolgreichen Abschluss
sechsjähriger Verhandlungen, an deren Ende wir Einverständnis erzielt haben über
die Hälfte des ursprünglich geplanten Kooperationsumfanges. …“

vgl. S. 1

Vgl. dazu die Entwicklung in einem der Kooperationsbereiche von EKHN und EKKW, der Religionspädagogik: Hat die Religionspädagogik in der EKHN und EKKW noch eine Zukunft?

Presbyter Klaus Vitt an die Schwestern und Brüder im Synodalvorstand: „Was braucht die Gemeinde in unseren Ortschaften denn wirklich? Was will und können die für Seelsorgedienst und Predigtamt Tätigen bei 3000 – 3500 Gemeindeglieder noch leisten…?

11.Januar 2016

Liebe Schwestern und Brüder des Synodalvorstandes,

Ob in unserer Kirche Geld auf die Jahre genug vorhanden ist, da habe ich keine Sorge. Wir haben jetzt mindestens seit 2004/5 ständig um die große Sorge Geld gesprochen. In all den Jahren hat es bis zum heutigen Tag – auch nach Worten des Vizepräsidenten Klaus Winterhoff – immer einen dankenswerten guten Erfolg der Finanzen durch die positive Kirchensteuerentwicklung gegeben.

Dennoch glaube ich, sind wir nicht auf einem guten Weg.

„Kirche der Freiheit“, ein Schriftstück von über 100 Seiten, wurde 2006 von der EKD als Reformprogramm eingeführt. Was bedeutet denn da Freiheit? Ich habe etliches darin gelesen. Diese Schrift handelt von einem tief greifenden Umbau. Und dieser Umbau ist mit dem christlichsten Vokabular bereichert. Man verspürt, dass für die Zukunft unserer evangelischen Kirche eine zunehmende Hierarchie, eine wachsende Zentralisierung, dadurch eine verstärkte Bürokratisierung und eine Ökonomie gewollt sind, die sich komplett den Wirtschaftsunternehmen anpasst.

Das kann nicht unsere Aufgabe, Kirche zu sein, bedeuten. Die Kernaufgabe geht verloren. Wie viel Zeit wurde schon und wird seit Einführung dieses Jahrhundertprojektes für Doppik/NKF (Neues kirchliches Finanzsystem), Fusionen auf allen Ebenen, Kompetenzverlagerungen und der Zentralisierung benötigt. Dafür werden zusätzlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebraucht, die das alles umsetzen müssen. Presbyterien und Synoden sind für dies Projekt stetig in Gesprächen. Gemeinden wissen nur wenig darüber und fühlen sich vernachlässigt. Sie fragen sich auch, was das alles soll. Ist da die Zukunft unserer Kirche zu finden? Was ist zu tun? Wer weiß denn bei allem Planen, wie es im Papier „Kirche der Freiheit“ prognostiziert wird, was wirklich eintritt. Zunächst wird viel Geld für die Umsetzung verbraucht und nicht gering einzuschätzen die Spannung bis hin zur Verärgerung in den Gemeinden.

Jakobus schreibt in seinem Brief diesen Hinweis, nachdem er die Pläne der Menschen für heute oder morgen schon in Zweifel gezogen hat: „So Gott will und wir leben, wollen wir dies oder das tun.“ Die Kirche kann aber schon auf zwanzig Jahre planen. Für mich sehr erstaunlich! Obwohl bis heute ihre Prognosen nicht eingetreten sind.

Was braucht die Gemeinde in unseren Ortschaften denn wirklich?
Was will und können die für Seelsorgedienst und Predigtamt Tätigen bei 3000 – 3500 Gemeindeglieder noch leisten. Was für einen Dienstplan kann man noch von ihnen abverlangen?

Das verstehe ich als Aufgabe der Kirche:
Die Gemeinde braucht Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Zeit und Kraft haben, ihren Gemeindegliedern die großartige Botschaft Jesus Christus zu bieten.
Von unten muss die Gemeindearbeit mit Seelsorgern/Innen so gestaltet werden, das Glaube und Gehorsam mit der Botschaft des Evangeliums den Gliedern unserer Gemeinde verkündigt und gelebt wird. Die Liebe Jesu, der sich zum Sünder neigt und seine begnadigende Botschaft bietet, das gilt es zu bezeugen.

Dazu gehört der Besuch der älteren Gemeindeglieder, die nicht mehr zum Gottesdienst kommen können.

Dazu gehört, dass in den Hauptkirchen jeden Sonntag Gottesdienste angeboten werden und dass in Sonderheit auch in den abseits liegenden Ortschaften die Gelegenheit zumindest einmal im Monat die Gemeinschaft unter Gottes Wort geboten wird.
Dazu gehört vor allem auch die Wertschätzung unserer Pfarrer. Und das muss spürbar werden, indem einer Überbeanspruchung nicht weiter Vorschub geleistet wird.
Wenn immer mehr Pfarrstellen – von der Landessynode beschlossen – in den Gemeinden abgebaut werden, also kein Ersatz nach der Pensionierung erfolgt, kann ich mir vorstellen, dass noch mehr Mitglieder in den Gemeinden sich von unserer Kirche trennen. Was soll man in einer Gemeinde, wo der Hirte keine Zeit mehr hat und nur mehr das Dringendste leisten kann. Wobei sich die Frage stellt, was denn nun das Dringendste ist?
Was ist das für ein Zustand, wenn in Kirchen nur noch alle 14 Tage ein Gottesdienst geboten wird. Damit sagt man Gliedern der Gemeinde, dass die gottesdienstliche Gemeinschaft unter dem Wort nicht unbedingt nötig sei, geschweige denn gefordert wird.

Sicher, man kann die Gemeinde ermuntern, die Gottesdienstangebote im Fernsehbereich zu nutzen. Das wird ja auch heute von vielen genutzt. Dann kann man Gebäude und Kirchen in den Ruhestand stellen oder zum Verkauf anbieten.
Aber das ist nicht die Lösung. Die Apostel hatten reiche Treffen mit ihrer Gemeinde und hatten so Gemeinschaft im Namen Jesu.
Ich freue mich über die Gemeinden, die noch eine Vision haben, ein Gemeindehaus zu erweitern oder einen neuen Gottesdienstraum zu bauen, weil die vorhandenen Gebäude nicht ausreichen.
Auf einem solchen Weg sind wir nicht mehr. Die Sorge um unseren Reichtum lähmt die geistliche und seelsorgerliche Arbeit in den Gemeinden.

Es hört und liest sich in den Medien erschreckend an, wenn Kirchen und Gemeindehäuser, die unter großer Opferbereitschaft und Eigenleistung erstellt wurden, heute für einen „ Apfel und Ei“ auf dem freien Markt feilgeboten werden.
Das fördert noch die in unserer Kirche schon weit verbreitete Neigung, dem Gottesdienst fernzubleiben, und bei den Verantwortlichen den verständlichen Trend, sich bei der Vorbereitung und Durchführung nur auf einige Unentwegte einzustellen, also den Gottesdienst als Mitte der christlichen Gemeinde nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Ganz zu schweigen davon, dass in unserer Kirche kaum noch zum eigenständigen Lesen und Verstehen der Heiligen Schrift angeleitet und anhand von Bibel und Bekenntnis gefragt wird, worauf es im christlichen Glauben und Leben doch ankommt. Der Heidelberger Katechismus weißt auf diese wertvolle Aufgabe in Fragen und Antworten 54 + 55 hin. Dies gehört jedoch zu den ureigensten Aufgaben der zur öffentlichen Verkündigung Berufenen und entsprechend ausgebildeten Pfarrerinnen und Pfarrer, was bei einem Schlüssel von 3500 pro Pfarrstelle aber kaum realisierbar ist. Es fehlt schlicht die Zeit.

Mir macht der jetzt eingeschlagene Weg unserer Landeskirche, der mit aller Gewalt „durchgepeitscht“ werden muss, mehr als große Bedenken und Sorgen. Darum erhebe ich meine Stimme mit diesem Schreiben, weil ich spüre, warnende andere Meinungen prallen in der Synode, als wenn man sie nicht gehört hätte, einfach so ab.
Werden wir uns bewusst, Gemeinde– und Synodalarbeit besteht nicht aus der Gehorsamsleistung gegenüber der Landeskirche, wie erhalte und vermehre ich mein Vermögen. Die Kernbotschaft, was unsere Kirche ausmacht und was ihre Aufgabe ist, muss wieder im Mittelpunkt stehen.

Und das wünsche ich mir und gehe davon aus, in diesem Wunsch haben wir Einigkeit.

Darum gilt es neu aufzuarbeiten, was ist wirklich nötig und was ist überzogen.

In brüderlicher Verbundenheit und Gottes Segen und Geleit für 2016

Ihr Klaus Vitt

Am Oberrain 11
57271 Hilchenbach