Archiv für den Monat: März 2014

Lehrstuhl für Kriegsverbrecher?

An der Universität Bonn soll ein vom Verteidigungsministerium gesponserter Lehrstuhl für internationale Beziehungen eingerichtet werden. Namensgeber soll der ehemalige Sicherheitsberater und Außenminister der USA Henry Kissinger sein.

Studierende der Universität haben nun eine Petition gegen die Pläne erstellt. Sie befürchten eine Einflussnahme der Politik auf die Inhalte der Lehre.

Auch die Wahl des Namenspatrons wird kritisiert. Immerhin hat Kissinger ein zweifelhaftes Verhältnis zu Völker- und Menschenrechten. Unter anderen Umständen hätte Kissinger als Kriegsverbrecher verurteilt werden können.

Lesen Sie hier einen ausführlichen Artikel und unterzeichnen Sie hier die Petition.

Edward Snowdens Rede anläßlich der Verleihung des Whistleblower-Awards

Auf der Verleihung des Whistleblower-Awards am 30.08.2013 in Berlin, hielt Jacob Appelbaum stellvertretend für den leider abwesenden Edward Snowden eine Dankesrede…

Es ist eine große Ehre, dass mein Whistleblowing als Beitrag zum Allgemeinwohl
wahrgenommen wird. Doch die größere Anerkennung und Aufmerksamkeit gebührt jenen Einzelpersonen und Organisationen in unzähligen Ländern auf der ganzen Welt, die sprachliche und geografische Grenzen gesprengt haben, um gemeinsam das öffentliche Recht auf Information und den Wert der Privatsphäre zu verteidigen. Es bin nicht nur ich, sondern die Allgemeinheit, die von dieser mächtigen Wandlung hin zu der Abschaffung unserer Grundrechte betroffen ist. Es bin nicht nur ich, sondern Zeitungen aus aller Welt, die Gründe haben, unsere Regierungen dafür verantwortlich zu machen, wenn mächtige öffentliche Vertreter versuchen, solche Themen durch Gerüchte und Anschuldigungen kleinzureden. Und es bin nicht nur ich, sondern ganz gewiss auch mutige
Regierungsvertreter in der ganzen Welt, die neue Schutzmaßnahmen und Limitierungen vorschlagen, um zukünftige Angriffe auf unser aller Rechte und unser Privatleben zu verhindern. Den vollständigen Vortrag auf den Seiten 15ff.;

in Hrsg. Markus Beckedahl, Andre Meister, Überwachtes Netz

Nudging – Wie uns der Staat zu Spiessern erzieht

10. März 2014, Claudia Wirz

Bessere Steuermoral, brave Autofahrer, bilderbuchartige Frauenkarrieren: Mit Erkenntnissen aus Psychologie und Verhaltensökonomie versuchen Staaten und Organisationen, Menschen gezielt zu «guten» Entscheidungen zu lenken.

Im Staat existiert der sanfte Paternalismus heute vorab als Theorie oder Experiment. Dass er ins breite politische Denken finden wird, darf man laut Ökonom Jan Schnellenbach, Geschäftsleiter am Walter-Eucken-Institut in Freiburg i. Br., aber erwarten. Und was würde dann geschehen? Eine solchermassen gesteuerte Gesellschaft, meint er, wäre schlicht unerträglich brav, fad, konformistisch und spiessig. Zum Artikel.

Gesundheits“reform“ als Täuschungsmanöver – von Ex- Staatssekretär Wolfgang Lieb

28. März 2014

Inzwischen mussten sich die Deutschen ja daran gewöhnen, dass alles, was die Politik „Reform“ nennt, entweder zu Sozialabbau oder zu einer Mehrbelastung der Arbeitnehmer führt. Mit der „Reform“ der gesetzlichen Krankenversicherung leistet sich die Politik ein besonders hinterhältiges Täuschungsmanöver, um die Mehrbelastung der Versicherten zu vertuschen.

Der Essener Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem geht davon aus, dass der Zusatzbeitrag (im Schnitt aller Kassen) jedes Jahr um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte steigen werden und schon 2017 bei 1,3 bis 1,5 Prozent – wohlgemerkt nur für die Arbeitnehmer – zusätzlich liegen dürfte. Das Bundesversicherungsamt rechnet sogar mit Zusatzbeiträgen von 1,6 bis 1,7 Prozent.

Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Mikrodaten-Analyse bedeutet eine Erhöhung des Zusatzbeitrages um 1,4 Prozent für den Durchschnittsverdiener mit rund 2500 Euro Einkommen schon 423 Euro und für einen ein Gutverdiener mit 4050 Euro, 680 Euro im Jahr [PDF – 158 KB]. Wenn aber ein durchschnittlicher Haushalt pro Jahr 109 Euro mehr für Strom bezahlen muss, dann gilt das als Katastrophe und führt zu einer Wende in der Energiewende… Zum Artikel.

Zwischen Entwicklungshilfe und Finanzialisierung. Die Mikrofinanz als transnationaler Kapitalmarkt.

Philipp Mader, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Aus der Forschung

„Mindestens seit Anfang der 1980er Jahre sind kleine Kredite in Entwicklungsländern,
etwa für Kleinunternehmer im informellen Sektor, als „Mikrokredite“ bekannt. 2013 jährt
sich die Gründung der legendären Grameen Bank zudem zum dreißigsten Mal. Nicht
zuletzt dank großzügiger Förderung durch die öffentliche Hand sind Mikrokredite heute
eines der beliebtesten und bekanntesten Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit.
Sie bilden aber auch einen eigenen Finanzmarkt, der das Interesse großer Investoren wie
George Soros oder Bill Gates geweckt hat.

Im Zuge der globalen Ausweitung der Finanzmärkte haben Mikrokredite Hoffnungen geweckt, mit den Mitteln des Marktes die Armut im globalen Süden zu besiegen. Doch bislang ist keine positive Wirkung der Mikrofinanz nachzuweisen. Stattdessen werden Arme diszipliniert und es wird Mehrwert  abgeschöpft. Philip Mader erklärt, warum mehr Schulden nicht mehr soziale Gerechtigkeit schaffen werden.

Der Fall der Mikrofinanz legt nahe, dass Finanz­märkte die heute bestehende ungleiche Vermögensverteilung, selbst dort, wo sie unter dem Vorzeichen der Armutsreduktion arbeiten, tendenziell verschlimmern. Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit durch Schulden erweist sich als ein kaum zu erfüllendes Versprechen und als ein äußerst
mangelhafter Ersatz für öffentliche Fürsorge oder umverteilende Entwicklungspolitik.

Zur Projektdarstellung.

Müller, Marx und der kurze Dienstweg in den Vatikan

Von Martin Schuck

Reinhard Marx kokettiert gerne mit seinem Familiennamen. 2008, da war er gerade als Erzbischof von München und Freising eingeführt, veröffentlichte er ein Buch mit dem sinnigen Titel „Das Kapital“. „Statt einer Einleitung“ gab es einen fiktiven Brief „Marx schreibt an Marx“, in dem der Namensvetter Karl über die Vorzüge seines Zeitgenossen Wilhelm Emmanuel von Ketteler aufgeklärt wurde. Ketteler wurde 1850 Bischof von Mainz und ging als „Arbeiterbischof“ in die Geschichte ein. Marx (Karl), auch das erfahren wir bei Marx (Reinhard), fühlte sich durch Ketteler gehörig genervt, denn er schrieb 1869 nach einer Reise durch das Rheinland an Friedrich Engels: „Bei dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und Fahrt den Rhein herauf, habe ich mich überzeugt, dass energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. Ich werde in diesem Sinne durch die Internationale wirken. Die Hunde kokettieren (z.B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage.“
Der Ausgang dieser Geschichte ist bekannt. Das Kokettieren der – nennen wir sie so: Pfaffen – mit der Arbeiterfrage führte zu einigen sehr respektablen Ergebnissen, die sich im katholischen Bereich nicht nur in mehreren Enzykliken und zahlreichen Sozialworten niederschlugen, sondern auch eine katholische Arbeitnehmerbewegung und zahlreiche weitere Organisationen im Laienkatholizismus zuwege brachte. Im außereuropäischen Bereich entstanden Bewegungen wie die Theologie der Befreiung in Lateinamerika, die nicht nur auf das säkulare Wirtschaftsleben Einfluss ausübten, sondern die Kirche selbst zu verändern versuchten.
Als vorläufiges Fazit dieser Entwicklung kann festgehalten werden, dass der Marxismus zwar kurzzeitig das Gesicht der Welt verändern konnte, aber seine Rolle als sozialpolitischer Antreiber verloren hat; die katholische Kirche dagegen konnte mit ihrer Soziallehre nur selten alleine etwas erreichen, gilt dafür aber auch heute noch in zahlreichen Gesellschaften als wichtiger Impulsgeber – und sei es nur für die Sonntagsreden, in denen den vom neoliberalen Reformalltag gestressten Politikern Mut zum Durchhalten gemacht werden soll. Und damit kommen wir zur Rolle, die Reinhard Marx als Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz spielen wird.
In der Führungsetage der römisch-katholischen Kirche wird seit der Wahl von Papst Franziskus vor einem Jahr ein neuer Stil gepflegt. Der Papst selbst trägt eine erkennbare Bescheidenheit als Markenzeichen vor sich her; das verunsicherte zunächst die Würdenträger innerhalb der Kurie, denn es war völlig unklar, wer seine Ämter behalten durfte und wer gehen musste. Spätestens mit der Ernennung des von Benedikt XVI. in das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation beförderten Gerhard Ludwig Müller zum Kardinal ist allerdings ein deutliches Zeichen gesetzt: In den Fragen der kirchlichen Lehre wird Franziskus keinen Deut von der konservativen Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils abweichen, sondern sogar die Müller’schen Zuspitzungen zumindest tolerieren. In den Fragen der Soziallehre jedoch gilt der Weg, den der Papst als Kardinal Bergoglio bereits erfolgreich eingeschlagen hat: persönliche Bescheidenheit und karitative Zuwendung, sozusagen die Pflege der unpolitischen Restbestände der Theologie der Befreiung – eben das, was nach der Zerschlagung des politischen Kerns dieser Bewegung durch die Personalpolitik Johannes Pauls II. übrig geblieben ist. Hier genau passen Bergoglio und Müller zu mehr als hundert Prozent zusammen, denn auch der hierzulande als konservativ bis reaktionär verschrieene Müller hat seine besten Freunde genau dort, wo man sie nicht vermuten würde, etwa beim „Vater der Befreiungstheologie“, Gustavo Gutièrrez, der Müller wegen seines sozialen Engagements in den Armenvierteln von Lima über alle Maßen lobt und sogar mit ihm gemeinsam ein Buch geschrieben hat.
Auch Reinhard Marx passt formvollendet in dieses Profil des lehramtstreuen, sozialkaritativen Katholizismus. Unvergessen ist sein hartes Vorgehen gegen Gotthold Hasenhüttl nach dem Ersten Ökumenischen Kirchentag 2003, als er dafür sorgte, dass diesen seine offene Einladung zur Eucharistie an alle Christen zuerst das Priesteramt und dann die Lehrerlaubnis kostete. Unabhängig davon gilt Marx als mahnende Stimme gegen den enthemmten Kapitalismus und als Kämpfer für eine Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft alter Prägung. In seinem Buch „Das Kapital“ betont er, ein „Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit“ habe „keine Moral und auch keine Zukunft“. Das sind Sätze, die sich nach dem Rheinischen Kapitalismus zurücksehnen, die sich von Franziskus aber auch gut in den südamerikanischen Kontext übersetzen lassen.
Man kann somit feststellen, dass die deutschen Bischöfe, die den kurzen Schock nach dem Amtsverzicht ihres Kollegen überwunden haben, den kurzen Dienstweg in den Vatikan wieder herstellen. Neben Müller ist Marx einer der engsten Mitarbeiter des Papstes; schon zu Beginn seines Pontifikats berief dieser Marx als einzigen Europäer in seinen achtköpfigen Kardinals-Beraterstab, und erst vor wenigen Wochen ernannte er ihn zum Koordinator des neugegründeten vatikanischen Wirtschaftsrates. Schon bevor der Rücktritt Benedikts XVI. absehbar war, kaufte Marx in Rom für fast zehn Millionen Euro eine stattliche Villa, weil das Erzbistum München-Freising schließlich eine Repräsentanz nahe beim Vatikan braucht.
Für die deutschen Bischöfe werden die häufigen Aufenthalte ihres Sprechers in Rom kein Schaden sein. In unsicheren Zeiten können sie darauf bauen, dass Marx dafür sorgen wird, dass die Kirche der Armen, von der der Papst aus Südamerika immer redet, schon nicht so schlimm wird. So etwas wie Limburg geht ja schon heute nicht mehr gut, und für die den Bischöfen wichtigen Fragen wie die Beibehaltung des Status quo beim Priesteramt und der Eucharistie interessiert sich dieser Papst nicht wirklich.

Heiliges Geld

Die katholische Kirche ist eine gigantische Finanzmacht. Ihr Umgang mit dem Geld war schon häufig der Gegenstand von Kritik. Die Wahl Franziskus zum neuem Papst wertet John Dickie als einen gigantischen Schlag gegen das finanzielle Establishment im Vatikan.

Doch die Neuordnung der Finanzen im Vatikan erscheint eine kaum lösbare Aufgabe zu sein. Vor welchem Problemen und Herausforderungen die neue Finanzaufsicht des Papst steht zeigt Dicke in seiner Dokumentation heiliges Geld eindrücklich.

Ein Hassliebe verbindet die katholische Kirche mit dem Geld. Auf der einen Seite ist sie auf es angewiesen um ihren Auftrag zu erfüllen. Auf der anderen Seite verstrickt dieses Geld die Kirche in Korruption und hindert sie ihren Auftrag zu erfüllen. So steht die Vatikanbank seit langem im Verdacht die Mafia beim Waschen von Schwarzgeld zu unterstützen. Auf der anderen Seite generiert sie einen Fünftel der Einnahmen der Kurie. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, das die ambivalente Beziehung der katholischen Kirche zum Geld zeigt.

In einer globalen Kirche sind auch die Finanzprobleme global. Mangelnde Kontrolle und ein System, das nur auf den eigenen Machterhalt schielt sorgen für eine Reihe von Skandalen. In Slowenien investieren Bischöfe in Pornosender und verzocken Millionen. Gleichzeitig veruntreuen einige wenige Priester kaum bemerkt riesige Summen. Das Erzbistum Milwaukee verschiebt Millionen in eine Stiftung. Kurz darauf meldet es sich gegenüber den Missbrauchsopfern zahlungsunfähig.

Sehen Sie noch bis zum 25.3. die Dokumentation in der Mediathek von Arte, oder nehmen sie am erstem April die Wiederholung auf.

Kirche ohne Kurs. Zur Mitgliedschaftsstudie der EKD

Man darf staunen: Der Ratsvorsitzende Schneider hat in einer ersten Stellungnahme zur neuesten Mitgliederstudie der EKD festgestellt, man wolle die Ergebnisse dieser Studie ernst nehmen. Was soll das heißen? Macht die EKD Studien und nimmt sie nicht ernst? Hat sie früher solche Studien gemacht und sie nicht beachtet?
Es gibt guten Grund zu vermuten, dass Schneider einen wunden Punkt benennt. Seit vierzig Jahren nämlich zeigen alle Mitgliedschaftsstudien, dass die Verbundenheit der ev. Christen zu ihrer Kirche in der Kirche vor Ort begründet ist. Wichtig sind Gottesdienste, Kasualien und die diakonische Arbeit vor Ort, das sind die Kindertagesstätten, die Diakoniestationen u.v.a.m. Die Begegnung mit dem Pfarrer vor Ort ist eine der entscheidenden Qualitäten, die das Verhältnis zur Kirche und zum Glauben prägen. Professor Pollack, einer der wissenschaftlichen Begleiter der Studie, weist auf diesen Zusammenhang eindrücklich hin: „Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme ist der Glaube jedoch kein von der Institution Kirche isolierter rein individueller Akt. Er bedarf vielmehr der institutionellen Unterstützung, und er verkümmert, wenn ihm die kommunikative Unterstützung durch Interaktionen im Raum der Kirche, durch Kontakte zum Pfarrer, durch den Gottesdienst fehlt. Das haben unsere Analysen, die repräsentativ sind und höchsten sozialwissenschaftlichen Standards genügen, immer wieder gezeigt: Intensive kirchliche Praxis und das Bekenntnis zum Glauben an Gott korrelieren hoch.“
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Jung resümiert entsprechend: „Bricht personale kirchliche »Interaktionspraxis« ab, so sinkt nicht nur das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche, sondern auch die individuelle Religiosität wird abgeschwächt. Man kann also sagen: Auch die als privat reklamierte, unkirchliche Frömmigkeit lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen hat.“ Wie wichtig die personale Begegnung ist, zeigt auch, dass digitale Medien gemäß der Studie nur eine geringe Bedeutung für die Weitergabe des Glaubens haben.
Thies Gundlach, Cheftheologe der EKD, hat es pointiert zusammengefasst: „Kirche – das ist der Pfarrer vor Ort.“ Wenn das gilt, dann müsste die Kirche alles dafür tun, um vor Ort präsent zu bleiben und noch präsenter zu werden. Doch genau das tut sie nicht.
Als die erste Mitgliedschaftsstudie erschien, zog der Initiator der Studie, der damalige hessen-nassauische Kirchenpräsident Hild, klare Konsequenzen. Damals nämlich schon war die Idee aufgekommen, die Kirche vor Ort ließe sich besser und effizienter gestalten, wenn Pfarrer im Teampfarramt arbeiteten, die Kirche über große Institutionen präsent wäre und das Kleinklein der pastoralen Praxis vor Ort durch qualifizierte großflächige Angebote ersetzt würde. Pfarrverbünde und Auflösung der kleinen Parochien waren damals schon gefordert. Hild brach diese Experimente ab. Einer seiner Nachfolger griff sie wieder auf. Seitdem gilt in der EKHN: Alles, was das Kirche vor Ort schadet, ist gut. So wurden die Finanzausstattungen der Gemeinde in den letzten 20 Jahren deutlich zurückgefahren. Gerade darf die Synode der EKHN mal wieder über ein Zuweisungssystem beraten, das vielen kleinen Gemeinden endgültig die Luft zum Atmen nehmen wird. Die sollen sich dann zu größeren Einheiten zusammenschließen. Dafür freilich wird wieder Geld zur Verfügung gestellt werden, solange bis die nächste Fusionsrunde kommt. Das ist geplant und wird zielstrebig umgesetzt: Weniger Geld für die Gemeinde, weniger Pfarrer in den Gemeinden, Loslösung von Kindertagesstätten und Diakoniestationen aus dem gemeindlichen Umfeld in größere angeblich finanziell sinnvollere Einheiten. Bei der Pfarrstellenbemessung etwa hat man konsequenterweise die Kindertagesstätten ausgeklammert, was dazu führt, dass Gemeinden, deren Pfarrstellen deswegen reduziert werden müssen, die Kindertagesstätten an die Kommunen zurückgeben. Die Ergebnisse der Studie, dass über die spätere Kirchenbindung gerade in der Kindheit und Jugendzeit entschieden wird, ist für die Kirchenleitung kein Problem: Die Kirche muss sich gesund schrumpfen.
Angesichts hoher Kirchensteuerüberschüsse in den letzten Jahren in Hessen weist die Kirchenleitung immerhin nicht fälschlich darauf hin, dass die Kirche leider zu arm sei, um noch ihre bisherigen Verpflichtungen wahrnehmen zu können. Für diesmal hat sich die Kirchenleitung noch geschickter verhalten. Sie verhindert, dass junge Menschen zum Theologiestudium ermuntert werden und stellt nach Potentialanalyse und bestandenem Examen viele Vikare gar nicht erst ein. Damit erhöht sie den Druck auf die Gemeinden, sich von ihren Pfarrstellen zu trennen. Bei weniger Pfarrern ist demnächst auch das Inhaberrecht, das bisher mit Pfarrstellen verbunden ist, in Frage gestellt. Anders wird man nämlich die flächendeckende Versorgung nicht mehr aufrecht erhalten können. Damit kappt man die letzten rechtlichen Bindungen eines Pfarrers an seine Gemeinde. Gemeindearbeit wird zunehmend unattraktiv. Auch das liegt im Interesse der Kirchenleitung. Denn die Zukunft der Kirche liegt in der Region – selbst wenn die Mitgliederstudie das Gegenteil zeigt.
Satt dessen steckt die Kirche ihr Geld z. Bsp. in große Immobilien in guter Lage. Jüngst hat sie z.B. ein Studentenwohnheim in Darmstadt erstanden. Es ist keine 10 Jahre her, da war die lang diskutierte und dann beschlossene Konzeption, möglichst wenige solcher Heime zu besitzen. Das Beispiel ließe sich durch viele andere ersetzen, die alle zeigen, wie munter in der Kirche ein Projekt nach dem anderen – wie das berühmte Schweinchen durchs Dorf getrieben wird – Geld spielt im Ernstfall dabei keine Rolle. Auch das gehört zu den Konsequenzen der Mitgliedschaftsstudie: Wenn man sich auf die Kernaufgaben vor Ort konzentrieren würde, bräuchte man viele der kirchenleitenden Funktionäre nicht, die allenthalben neue Konzeptionen entwickeln und umsetzen müssen. Und damit ist auch klar, warum die Kirchenleitungen auch diese Studie nicht ernst zu nehmen werden. Es gibt inzwischen eine erstaunlich mächtige und gut vernetzte Schicht von Kirchenfunktionären und Technokraten, die verhindern werden, dass die Ergebnisse der Studie auch nur im Entferntesten beachtet werden. Das nämlich würde ihre Bedeutung mindern und ihre Macht beschränken.
Schneider hat sich jedenfalls klug verhalten. Sein Hinweis, dass die Studie möglicherweise nicht beachtet wird, nimmt mögliche Kritik vorweg. Schließlich gehört er selbst zu jenen, die beharrlich und erfolgreich an den empirischen Erkenntnissen solcher Studien vorbeigearbeitet haben. cb.

Der Kirche geht die Jugend verloren – zur Mitgliedschaftsstudie der EKD

Berlin (idea) – Der evangelischen Kirche geht die junge Generation verloren. Das geht aus der alle zehn Jahre erhobenen soziologischen Untersuchung der EKD zur Kirchenmitgliedschaft hervor. Das Papier mit dem Titel „Engagement und Indifferenz“ wurde am 6. März in Berlin vorgestellt. Für die Studie wurden 3.000 Personen repräsentativ befragt. Danach gelingt es der Kirche immer seltener, jüngere Bürger zu erreichen. Sie könnte daher von einer Volkskirche zur „Seniorenkirche“ werden. Die EKD stehe „vor einem massiven Problem in der Überzeugungsarbeit Jugendlicher und junger Erwachsener“, heißt es.

Viele Junge planen Kirchenaustritt

Lediglich 22 Prozent der 14- bis 21-jährigen Mitglieder fühlen sich ihrer Kirche verbunden; bei den über 66-jährigen sind es 58 Prozent. Entsprechend ist bei jungen Kirchenmitgliedern die Bereitschaft, aus der Kirche auszutreten, am höchsten. 19 Prozent der 14- bis 21-jährigen Westdeutschen bekunden, sie hätten eine feste Austrittsabsicht (Ostdeutschland: zwölf Prozent). Hingegen ist die Bereitschaft, die Kirche zu verlassen, bei den über 66 Jahre alten Westdeutschen mit zwei Prozent am geringsten (Ostdeutschland: sechs Prozent). Schwer dürfte es auch sein, ehemalige Kirchenmitglieder zurückzugewinnen: Zwei Prozent der aus der Kirche Ausgetretenen können sich einen Wiedereintritt vorstellen.
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