Vor ein paar Jahren gab es einmal den Vorschlag, am Heiligen Abend in den überfüllten oder zumindest sehr, sehr gut gefüllten Kirchen die Plätze für die ständigen Kirchgänger zu reservieren, damit diese ihren Platz nicht streitig gemacht bekommen von denen, die nur an Weihnachten in die Kirche gehen oder die möglicherweise sogar aus der Kirche ausgetreten sind. Die Weihnachtschristen oder „U-Boot-Christen“, wie es in einem wahrlich gehässigen Wort immer mal wieder heißt, müssten dann eben schauen, wo sie ihren Platz bekommen.
Die Diskussion, die sich an diesem Vorschlag entzündete, war durchaus bezeichnend für den Umgang mit der Frage: Wer gehört eigentlich zur Kirche dazu und wer nicht? Sie macht auch deutlich, wie groß an vielen Stellen die Sehnsucht nach der Kirche immer noch ist. Und sie zeigt ein wahrgenommenes hierarchisches Gefälle zwischen denen, die augenscheinlich dazugehören und denen, die dazukommen oder sich entfernt von der Kirche halten.
Die Gemeinden unserer Kirche, gemeint sind hier vor allem die Ortsgemeinden, die Menschen ihres Wohnortes wegen zusammenbringt, sind ausgesprochen komplexe und umfassende Gebilde. Sie sind eigene Gesellschaften, verwoben aus allen Teilen der örtlichen Bevölkerung. Es gehören Menschen beiderlei Geschlechts, unterschiedlichster Herkunft und Abstammung, unterschiedlichster Bildungsgrade und Lebenseinstellungen, unterschiedlichsten Alters und Berufs dazu. Ein Blick in den sonntäglichen Gottesdienst reicht, um dies auszumachen. Das gilt genauso für die Chöre und Musikgruppen wie für unsere Gesprächskreise und gerade auch für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das gibt es in unserem Land, in Europa, vielleicht in der ganzen Welt nicht besonders häufig, wenn es das so überhaupt noch irgendwo gibt.
Das macht die Gemeinden aus sich heraus so besonders wertvoll und zukunftsfähig, weil in ihr nicht Partikular- oder Einzelinteressen bedient werden, sondern der Individualisierung unserer Gesellschaft eine echte Gemeinschaft aller Menschen entgegengesetzt werden kann und häufig auch entgegengesetzt wird. Die Kirche und der Glaube sind eine Sache aller.
Gleichzeitig wird deutlich, dass sich manche Menschen vermehrt in der Kirche wiederfinden. Andere hingegen nur vereinzelt vorkommen. Da spielen persönliche Vorlieben in Musik und Lebensgestaltung eine Rolle. Da sind auch die berufliche Belastung und die familiäre Situation entscheidend. Wer etwa am Sonntagmorgen den einzigen gemeinsamen Familientermin in der Woche hat, wird sich schwer tun, eine oder eineinhalb Stunden davon für den Gottesdienst zu opfern.
Seit vielen Jahren schon macht sich nun die Kirche Gedanken darüber, wie mit diesem Befund umzugehen ist. Die Bevölkerung wird aus soziologischer Sicht betrachtet. Auch in diesen Untersuchungen wird deutlich, dass es einen unterschiedlich starken Umgang in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus mit der Kirche gibt und dass manche Gruppen in den einzelnen Gemeinden überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein scheinen. Sie gehören nicht dazu. Oder sie fühlen sich trotz Kirchengliedschaft nicht zugehörig. Aber sie sind da. Sie leben in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche. Die Verbindungslinien aber schwinden.
Wer gehört dazu? Wer nicht? Wer will dazu gehören? Wer möchte von der Kirche eigentlich lieber in Ruhe gelassen werden? Wessen Interesse ist schon komplett erloschen?
Es würde den Rahmen des Artikels sprengen, hier die verschiedenen Milieus vorzustellen, mit denen die Wissenschaftler und Kirchenleitungen derzeit arbeiten und versuchen, die Kirche auf neue Füße zu stellen, damit sie auch in Zukunft sein kann. Diese erkannten Milieus sind über die Internetseite http://www.milieus-kirche.de/ einsehbar. Besonders auch die fünfte Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD hat erhellendes beizutragen (http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5.html).
Tatsächlich aber scheint mir in der ganzen Diskussion ums Dazugehören zur Kirche auch der alte reformatorische, von Philipp Melanchthon in seiner Apologie der Augsburgischen Konfession gesetzte Begriff der societas fidei, der Gesellschaft des Glaubens, in Verbindung mit neuen Erkenntnissen über die Zusammensetzung unserer Gemeinden viel zielführender und für die kirchliche Arbeit hilfreicher zu sein.
Das liegt vor allem daran, dass dieser Begriff keinen trennenden, sondern einen sehr stark verbindenden Charakter hat und deswegen die Menschen nicht ausdifferenziert, sondern in einer Einheit sieht bei allen Unterschieden, die wir Menschen haben. Dass es diese Unterschiede gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Dazu muss man nur die verschiedenen Lebensformen und Wohnorte innerhalb unserer Gemeinden betrachten, mit offenen Augen und Ohren durch die Dörfer, Städte oder Stadtteile gehen, die Menschen wahrnehmen und sehen, wie diese geprägt sind und wie ihr Leben ist.
Societas fidei taucht bei Melanchthon zuerst auf, um den Begriff der Versammlung zu verdeutlichen, den er in der Augsburgischen Konfession (CA) benennt. Diese Versammlung der Heiligen (congregatio sanctorum) führt er weitergehend als Gesellschaft des Glaubens aus und stellt damit selbst einen umfassenden und in die Soziologie hineinführenden Begriff ein. Nachdem er den Kirchenbegriff in der CA durch die Nutzung des Wortes Versammlung einen Inhalt der Bewegung gegeben hat (die Kirche ist da, wo sich Menschen um Gottes Wort versammeln), verweltlicht er den Begriff in gewisser Weise, löst die Kirche damit aus der hierarchischen Umklammerung des Papsttums und entmystisiert sie dadurch. Er gibt ihr eine klare Grundlage bei jeder und jedem Einzelnen. Es geht in der Kirche um die Menschen des Glaubens.
Der Glaube wird also zum entscheidenden Begriff des Kircheseins und damit auch des Dazugehörens zur Kirche. Wer glaubt, der gehört dazu. Wer nicht glaubt, eben nicht. Aber Richter über den Glauben kann niemand sein als Gott allein. Nicht einmal ich selbst.
Der Glaube aber unterliegt durchaus unterschiedlichen Ausformungen und Lebensweisen. Das heißt für die Kirche, dass sie sich darum mühen muss, für diese unterschiedlichen Menschen einen Platz in ihr zu finden und sich offen zu zeigen, ohne diese Grundlage des Glaubens zu verleugnen. Die Kirche muss immer wieder deutlich machen, dass und wie der Glaube an Jesus Christus etwas mit dem Leben der Menschen zu tun hat. Die Anforderungen sind gewaltig. Das macht der Blick in die Gesellschaft klar.
Zugleich ist es nötig, um diesem umfassenden Bild der Gesellschaft des einen Glaubens zu entsprechen, den Anspruch, ein Dach und eine Verbindung für alle Menschen zu sein, nicht fallen zu lassen. So wie die Liebe Gottes allen Menschen gilt, ist der Ort dieser Liebe für alle Menschen herzustellen und zu gestalten. Vielleicht werden gerade aus diesem Grund die Weihnachtsgottesdienste so gut besucht, weil sie eben als solche Orte erfahrbar und lebensnah sind.
Insgesamt gelingt das über das Jahr aber nur, wenn Menschen sich auch als gegenseitig bereichernd und stärkend wahrnehmen und von außen wahrgenommen werden. Das gelingt nur, wenn nicht immer weiter vereinzelt und ausdifferenziert wird. Es gibt in der Kirche nur eine Zielgruppe. Das ist die sich um das Wort Gottes sammelnde Gemeinde.
Da hat die Kirche gerade in ihrem Bewusstsein, eine Gesellschaft nicht der Welt, sondern eine Gesellschaft des einen Glaubens zu sein, die Aufgabe eines Gegenpols. Das hat übrigens auch gesamtgesellschaftlich eine hohe Funktion, weil es deutlich macht, dass eine andere Form des Zusammenlebens möglich ist.
Gelingt das nicht, haben und bekommen wir Gemeinden, die ihren je eigenen Glauben, ihre je eigene Grundlage und letztlich ihr je eigenes Gottesbild pflegen. Da ist es zur Spaltung und Trennung nicht mehr weit, weil der Schritt zum Dienst am je eigenen Gott der nächste ist.
Die Aufgabe heißt: Diejenigen, die kommen, werden angenommen. Diejenigen, die sich am Rand aufhalten, gehören dazu. Diejenigen, die sich gerade nicht zur Kirche bekennen mögen, brauchen offene Türen, durch die sie jederzeit gehen können. Diejenigen, die nichts mehr vom Glauben und der Kirche wissen, müssen eine Chance haben, ihr überhaupt zu begegnen. Diejenigen, die ihre Beziehung zur Kirche pflegen und erhalten, diejenigen, die sich ihres Glaubens bewusst sind, die also auch in ihrem eigenen Selbstverständnis dazugehören, sind dabei nicht nur in der Verantwortung das Haus des Glaubens in Ordnung zu halten, sondern haben auch die Gewähr, dass sie in diesem Haus schon geborgen, beschützt und gemeinschaftlich in Hoffnung und Liebe verbunden sind.
Das aber macht sich nicht an einem Sitzplatz im Heiligabendgottesdienst fest, sondern an dem Bewusstsein, in Gottes Gegenwart durch das Leben zu gehen.
Maximilian Heßlein