Archiv für den Monat: August 2016

Vertagt, vergessen oder verwirklicht? Zehn Jahre Reformprogramm „Kirche der Freiheit“ Von Reinhard Bingener, NDR Kultur

3. Juli 2016

Gegen „Kirche der Freiheit“ wurden im Wesentlichen drei Einwände vorgebracht. Die
bis heute gängigste Kritik lautete im Kern, Wolfgang Huber wolle mit seiner Reform in
der Kirche nachmachen, was Gerhard Schröder ihm mit der Hartz-IV-Reform im Staat
vorgemacht habe. .. der EKD Ratsvorsitzende wolle die Methoden von McKinsey auf die Kirche übertragen….

Heute, zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Kirche der Freiheit“, kann man
feststellen, dass die angestrebte Kirchenreform nur zu einem kleinen Teil in die Tat
umgesetzt worden ist…. So haben sich die Rahmenbedingungen kirchlichen Handelns ganz anders entwickelt, als es die Autoren des Reformpapiers erwartet hatten…

Besonders deutlich zeigte die Untersuchung, dass gerade die Gemeindepfarrer für die
Bindung der Mitglieder an die Kirche einen weit höheren Stellenwert haben, als ihnen
von den Kirchenleitungen lange zugestanden wurde. Die Ergebnisse legen nahe, dass
die Kirchenleitungen sich bei einem neuen Reformanlauf stärker darum bemühen
sollten, die Pfarrerschaft für ihr Vorhaben zu gewinnen und auch selbst mehr
Bereitschaft zeigen müssten, ihre eigene Arbeit zu hinterfragen…

Das jahrzehntelange Aufblähen der kirchlichen Apparate blieb in der Gesamtschau des
Papiers „Kirche der Freiheit“ jedoch merkwürdig unterbelichtet. An den Beharrungskräften
dieser Strukturen dürfte die von Wolfgang Huber für nötig befundene „zweite
Reformation“ bisher vor allem gescheitert sein. Die fatale Machtkonzentration in den
Verwaltungen und Synoden, in denen die Mitgliederschaft der Kirche nur scheinbarrepräsentiert wird, wurde nicht offensiv genug benannt. …

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EKvW: Die Basis ist gegen die Amtsbezeichnung „Bischof“. „Heikle Lage“. Von Gerd-Matthias Hoeffchen, Unsere Kirche

Aus der Printausgabe – UK 28 / 2016
Gerd-Matthias Hoeffchen | 10. Juli 2016

…Diese Argumente überzeugten im Stellungnahmeverfahren jedoch nur die Abgeordneten von acht westfälischen Kirchenkreisen… In 17 Kirchenkreisen setzten sich dagegen die Befürworter der Präses-Bezeichnung durch, zum Teil mit nur sehr knapper Mehrheit. In den teilweise emotional geführten Debatten beriefen sie sich vor allem auf die Bedeutung der presbyterial-synodalen Grundordnung der westfälischen Kirche, die den Aufbau der Kirche von unten nach oben betont. …
Die Basis aber hat abgelehnt (siehe „Präses“ bevorzugt). Rechtlich verbindlich ist dieses Meinungsbild zwar nicht. Aber ignorieren lässt es sich nun auch nicht mehr…

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vgl. auch hier.

 

Langweilige Theologie. Von Martin Schuck.

08/2016

Theologie treiben beinhaltete schon zu allen Zeiten die Aufgabe, das Gott-Welt-Verhältnis der Zeitgenossen zu ergründen, zu reflektieren und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu konfrontieren. Dabei orientierte sich die Form der Theologie meist sehr genau am Zustand ebendieser gesellschaftlichen Verhältnisse.
Brachte das frühe Mittelalter eine lange Periode statischer Verhältnisse, so war die Scholastik legitimer Ausdruck dieser Verhältnisse. In genau dem Augenblick, als diese Statik, verursacht durch die Entwicklung des Städtewesens, durch erste naturwissenschaftliche Forschungen und durch humanistische Bildungsinitiativen, aufzubrechen begann, ging dieser Riss auch durch die scholastische Theologie und Philosophie und es entstand die Scheidung in Nominalismus und Realismus. Die weitere Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse mündete kirchenpolitisch in die Reformation mit ihrer sehr dynamischen Theologieentwicklung, je nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Formationen in eine lutherische (ländlich-feudale) und eine reformierte (städtisch-frühbürgerliche) Variante. Der zumindest in Mitteleuropa misslungene Versuch der physischen Vernichtung der Reformation führte auf der aktiven (katholischen) Seite zur ebenfalls recht produktiven Theologieentwicklung des Trienter Konzils, das als Geburtsort der modernen römisch-katholischen Kirche gelten kann; auf der passiven (reformatorischen) Seite bildeten sich dagegen Strategien zur Sicherung des Erreichten aus, die sich als konfessionell-theologische Systembildungen der lutherischen und reformierten Orthodoxie darstellten.
Die nach der Reformation für die europäische Geistesgeschichte wohl produktivste Periode war die Zeit der Aufklärung; die in ihr sich vollziehenden Transformationsprozesse des Denkens übertrugen sich vollständig auf die Theologie und führten zur Neuformulierung der klassischen Inhalte reformatorischer Theologie unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität. Aber erst die Phase der Restauration nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon und dem Wiener Kongress führte die Theologie mit Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher zu jener Systembildung, die in der Philosophie bereits nach der Französischen Revolution mit den vernunftkritischen Werken von Immanuel Kant abgeschlossen war.
So wie sich die Werke der Philosophen in der Nachfolge Kants, namentlich bei Fichte und Hegel, als Bemühung zur Konsolidierung der Aufklärungsphilosophie durch die Phase des deutschen Idealismus hindurch zu statischen Entwürfen der Restauration lesen lassen, so leitet in der Theologie Schleiermacher diese Konsolidierungsbemühung direkt ein – unter Auslassung des idealistischen Umweges. Das restliche 19. Jahrhundert ist geprägt durch allerlei Ungleichzeitigkeiten, die sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie ihren Ausdruck gefunden haben; in der Philosophie etwa in der doppelten Nachwirkung Hegels sowohl im Marxismus als auch in der preußischen Staatstheorie Friedrich Julius Stahls und in der Theologie in der Abarbeitung des Schleiermacher’schen Systems durch die liberale Theologie ohne direkte Verbindung zur parallel verlaufenden Entwicklung des konfessionellen Luthertums.
Zu einer weiteren Transformation innerhalb der Theologie führte die Abkehr vom landesherrlichen Kirchenregiment nach 1918, und jetzt waren es die in die Selbständigkeit entlassenen Kirchen selbst, die immer mehr zum Gegenstand theologischen Nachdenkens wurden. Eine der letzten Äußerungen, die nicht die Kirchen-, sondern die Zeitbezogenheit der Theologie fordert, stammt von Ernst Troeltsch aus dem Jahr 1913: „Die heutige Dogmatik soll der heutigen Zeit dienen, die keine Zeit der Kirchengründung, sondern der religiösen Unruhe und Krisis, der intellektuellen und ethischen Umwälzungen ist. Da müssen die Kirchen, gerade um dem Leben zu genügen, individuelle Freiheit gewähren und kann gerade eine solche Dogmatik vielen Gläubigen entsprechen, während anderen Gruppen andere dogmatische Leitfäden entsprechen werden. Wenn die Kirchen diese Weitherzigkeit nicht mitmachen wollen oder können, so werden sie in den Hintergrund gedrängt werden. […] Die heutige Krise wird nicht durch kirchliche Neugründungen, sondern durch Ausweitung und Beweglichmachung der Kirchen überwunden.“
Spätestens mit dem Siegeszug des Barthianismus als wirkmächtiger Kirchentheorie Nachkriegsdeutschlands wurde die von den Barthianern gerne im Mund geführte Zeitbezogenheit der Theologie immer mehr zum reinen Postulat, denn es ist jetzt die Kirche, die selbst sowohl zum Produzenten als auch zum Adressaten der Theologie mutiert. Exemplarisch für diese neue Kirchentheorie stehen Sätze aus Barths Vortrag „Offenbarung Kirche Theologie“, der 1957 im dritten Band der „Gesammelten Vorträge“ abgedruckt wurde: „Theologie ist wie alle anderen Funktionen der Kirche ausgerichtet auf das Faktum, daß Gott gesprochen hat und daß der Mensch hören darf. Theologie ist ein besonderer Akt der Demut, die dem Menschen durch dieses Faktum geboten ist. Darin besteht dieser besondere Akt der Demut: in der Theologie versucht die Kirche, sich immer wieder kritisch darüber Rechenschaft zu geben, was es heißt und heißen muß vor Gott und vor den Menschen: Kirche zu sein. Existiert doch die Kirche als eine Versammlung von Menschen, und zwar von fehlbaren, irrenden, sündigen Menschen. Nichts ist weniger selbstverständlich als dies, daß sie immer wieder aufs neue Kirche wird und ist. Sie existiert unter dem Gericht Gottes. Eben darum kann es nicht anders sein, als daß sie sich auch selbst richten muß, nicht nach eigenem Gutdünken, sondern nach dem Maßstab, der identisch ist mit dem Existenzgrund, also nach Gottes Offenbarung und also konkret nach der Heiligen Schrift. Und eben dies: die immer wieder notwendige und gebotene Selbstprüfung der Kirche am Maßstab des göttlichen Wortes ist die besondere Funktion der Theologie in der Kirche.“
Kurz vorher reflektierte Barth im gleichen Vortrag über die Wissenschaftlichkeit der Theologie und führte dabei eine Kategorie ein, die verblüffen lässt, nämlich die Kategorie der Langweiligkeit: „Gibt es eine Wissenschaft, die so ungeheuerlich und so langweilig werden könnte wie die Theologie? Der wäre kein Theologe, der nicht von ihren Abgründen noch nie erschrocken wäre oder der vor ihnen zu erschrecken aufgehört hätte.“
Barth zeichnet eine Korrelation von Wissenschaft, menschlicher Wirklichkeit und Wahrheit, deren Pointe darin besteht, dass ästhetische und psychologische Wahrnehmungen darüber entscheiden, ob Theologie ihre Bestimmung erreicht oder eben verfehlt, und nichts anderes als das Verfehlen ihrer Bestimmung lässt das Prädikat langweilig als angemessene Beschreibung erscheinen: „Unter allen Wissenschaften ist die Theologie die schönste, die den Kopf und das Herz am reichsten bewegende, am nächsten kommend der menschlichen Wirklichkeit und den klarsten Ausdruck gebend auf die Wahrheit, nach der alle Wissenschaft fragt, am nächsten kommend dem, was der ehrwürdige und tiefsinnige Name einer ‚Fakultät’ besagen will, eine Landschaft mit fernsten und immer noch hellen Perspektiven wie die von Umbrien oder Toskana und ein Kunstwerk, so wohl überlegt und so bizarr wie der Dom von Köln oder Mailand. Arme Theologen und arme Zeiten in der Theologie, die das etwa noch nicht gemerkt haben sollten. Aber unter allen Wissenschaften ist die Theologie auch die schwierigste und gefährlichste, diejenige, bei der man am ehesten in der Verzweiflung oder, was fast noch schlimmer ist: im Übermut endigen, diejenige, die zerflatternd und verkalkend, am schlimmsten von allen zu ihrer eigenen Karikatur werden kann.“
Da genau an diese Passage die Frage nach der Möglichkeit von Langeweile anschließt und aufgrund der nur rhetorisch gestellten Frage die Antwort gleich mitgesetzt ist – ja, Theologie kann langweilig sein –, entsteht eine inhaltliche Unklarheit, wie genau Theologie beschaffen sein muss, um Langeweile zu vermitteln; das Zitat bietet als Möglichkeiten an: schwierig, gefährlich, in die Verzweiflung treibend, im Übermut endend, zerflatternd, verkalkend sowie zur eigenen Karikatur werdend.
Was also ist langweilige Theologie? Ich wage die Behauptung, dass Theologie genau dann langweilig ist, wenn sie weder in zeitdiagnostischer noch in wirklichkeitserschließender Absicht betrieben wird. Langweilige Theologie wird also vor allem dort getrieben, wo Theologie nachgefragt wird entweder zur institutionellen Selbstrechtfertigung der Kirche oder wo ein scholastischer Umgang mit Bekenntnistexten gepflegt wird, der die Glaubenspraxis der Zeitgenossen ebenso ignoriert wie die Transformationsprozesse der Neuzeit. Der erste Fall ist beispielhaft zu beobachten an der kürzlich vorgenommenen Selbsterklärung der EKD zur Kirche, der zweite geschieht auf geradezu klassische Weise in den ökumenischen Dialogen zwischen evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche.
Zum ersten Fall: In der Debatte um die „Kirchwerdung“ der EKD werden eigentlich keine echten theologischen Argumente gebraucht, sondern ein einziger theologischer Satz wird zum Zwecke der institutionellen Selbstrechtfertigung so ausgelegt, dass sich aus ihm Konsequenzen kirchenpolitischer Art ziehen lassen. Der Satz: Die EKD „ist als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen Kirche“ ist als theologischer Satz dann richtig, wenn er die ebenso grundlegende wie banale Wahrheit ausdrückt, dass die EKD als Bund rechtlich selbständiger Kirchen Teil der einen weltumspannenden Kirche Jesu Christi ist. Dieser Satz bedarf keiner weiteren theologischen Diskussion. Die Diskussion, die sich diesem Satz anschloss, wurde jedoch nicht in theologischer, sondern in kirchenpolitischer Absicht geführt. Das Ziel bestand nicht darin, eine dogmatische Wahrheit auszudrücken, sondern darin, eine kirchenrechtliche Setzung auf den Weg zu bringen, die bei Bedarf ausbaufähig ist und eine Zentralisierung der kirchlichen Verwaltung im Kirchenamt der EKD ermöglicht. Eine solche Absicht muss jedoch offen kommuniziert und ehrlich diskutiert werden. Mit Theologie hat das alles sehr wenig zu tun, und dementsprechend wenige Theologen ließen sich auf diese Debatte ein. Machttaktische Absichten einer kirchlichen Institution in theologische Argumente zu transformieren, mag für die mit dieser Aufgabe befassten Theologen interessant und sogar lehrreich sein. Auf die Rezipienten wirkt diese Art von Theologie einfach nur – langweilig.
Zum zweiten Fall: Seit die römisch-katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil beschlossen hat, sich mit einem eigenen Ökumenismusprogramm an der ökumenischen Bewegung zu beteiligen, führen vom Vatikan eingesetzte Dialoggruppen Lehrgespräche mit Vertretern der evangelischen Konfessionskirchen mit dem Ziel, Schritte auf dem Weg zur sichtbaren Einheit der Kirche zu gehen. Obwohl die sichtbare Einheit die Zielperspektive einzig der römisch-katholischen Kirche ist, wird dieses Programm wie selbstverständlich als Leitperspektive für sämtliche Dialogteilnehmer unterstellt. Die Zielperspektive der evangelischen Kirchen, Kirchengemeinschaft in der versöhnten Verschiedenheit nebeneinander existierender Konfessionskirchen zu praktizieren, findet in den veröffentlichten Texten keinerlei Beachtung.
Die theologische Gratwanderung der evangelischen Teilnehmer in den Dialoggruppen besteht nun darin, Verständigung mit den römisch-katholischen Teilnehmern einzig über einen Bestand an Lehrformulierungen, der in den konfessionellen Bekenntnisschriften aus dem 16. Jahrhundert niedergelegt ist, erreichen zu sollen. Diese Vorgabe ignoriert jedoch die Realität fast aller evangelischer Kirchen, da diese Bekenntnisse zwar einen auch heute noch gültigen Grundkonsens über das Verständnis des Glaubens aussagen, aber ihre Rolle als disziplinierende Instanz im Verhältnis zwischen den Gläubigen und der kirchlichen Obrigkeit seit dem Ende der lutherischen und reformierten Orthodoxie verloren haben. In der römisch-katholischen Kirche wird jedoch gerade diese disziplinierende Wirkung vorausgesetzt, wie die restriktive Zulassung auch der katholischen Christen zur Eucharistie deutlich macht.
Aufgrund der Rolle, die die Lehre innerhalb der katholischen Kirche spielt, kann dort die Einheit der Kirche nur als Gemeinschaft mit einer einheitlichen Lehre, für deren Vollständigkeit und Wahrheit der Papst steht, gedacht werden. Die evangelische Vorstellung von Einheit verwirklicht sich dagegen in einer Gemeinschaft, die sich zwar über die Wahrheit des Evangeliums verständigen kann, aber gerade deshalb eine Pluralität von kirchlichen Bekenntnissen akzeptieren und diese sogar als sichtbares Ergebnis der Freiheit des Evangeliums positiv würdigen kann.
Diese beiden Konzepte sind Ausdruck unterschiedlicher Auffassungen vom Kirchesein, und gerade deshalb ist es für evangelische Theologen eine überaus unbefriedigende Aufgabe, sich in Dialogkommissionen Gedanken darüber zu machen, wie man auf bekenntnispositivistische Weise Formulierungen auf gemeinsame Aussageinhalte hin untersucht, die nur als „differenzierter Konsens“ zur Darstellung gelangen können und keinerlei praktische Konsequenzen haben, weil die ökumenischen Kernfragen wie Kirchen- und Amtsverständnis aufgrund eines nicht kompatiblen Offenbarungsverständnisses unlösbar sind.
Wieder gilt: Die Teilnehmer der ökumenischen Kommissionen mögen ihren Spaß und sogar persönliche Befriedigung an dieser Art des Theologietreibens finden. Beim Lesen der veröffentlichten (und in aller Regel nur einseitig oder gar nicht ratifizierten) Dokumente stellt sich dagegen schnell Langeweile ein.
Vielleicht kann in Zeiten, wo die Kirche sich selbst zum Gegenstand der Theologie macht, Theologie, die sich darauf einlässt, gar nichts anderes sein als langweilig. Das muss aber nicht so bleiben. Ändern wird es sich genau dann, wenn die Vertreter der wissenschaftlichen Theologie selbst merken, dass sie es sind, die für die Themen der Theologie zuständig sind – und nicht die Kirchenämter.

Neoliberalismus ist heilbar. Die Kritik an der Globalisierung erreicht die westlichen Mittelschichten – kein Wunder. Von Wirtschaftnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz

16.08.2016

…Einige wichtige Erkenntnisse bietet Branko Milanovics neues Buch Global Inequality: A New Approach for the Age of Globalization. Es betrachtet die großen Einkommensgewinner und -verlierer der beiden Jahrzehnte zwischen 1988 und 2008. Zu den großen Gewinnern gehörten die globalen 1% – die Plutokraten unserer Welt –, aber auch die Mittelschicht in neuen Schwellenländern. Zu den großen Verlierern – die nur geringe oder gar keine Einkommenszuwächse erzielten – gehörten die Armen und die Mittel- und Arbeiterschicht in den hochentwickelten Ländern. Die Globalisierung ist nicht der einzige Grund hierfür, aber sie ist einer der Gründe….

Dass die Globalisierung die Versprechen der etablierten Politiker nicht erfüllt hat, hat das Vertrauen in das „Establishment“ ganz eindeutig untergraben. Und die Tatsache, dass die Regierungen den Banken, die die Finanzkrise von 2008 verursacht hatten, großzügige Rettungspakete anboten, während sie die Normalbürger weitgehend im Stich ließen, verstärkte die Ansicht, dass dieses Versagen nicht bloß eine Frage wirtschaftlicher Fehlurteile sei….
Stattdessen haben sie eine Politik verfolgt, die die Märkte auf eine Weise umstrukturiert hat, welche die Ungleichheit verstärkt und die Wirtschaftsleistung insgesamt untergraben hat, und als die Spielregeln neu geschrieben wurden, um die Banken und Großunternehmen – die Reichen und Mächtigen – auf Kosten aller übrigen zu begünstigen, verlangsamte sich das Wachstum sogar. Die Arbeiter wurden in ihrer Verhandlungsmacht geschwächt. Zumindest in den USA hielt das Kartellrecht nicht mit der Entwicklung Schritt, und die bestehenden Gesetze wurden nur in unzureichender Weise durchgesetzt. Die Finanzialisierung beschleunigte sich, während sich Unternehmensführung und -kontrolle verschlechterten….

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Terror und Technokratie. Ein Interview mit Mathias Burchardt

9. August 2016

Herr Burchardt, die letzten Wochen waren überschattet von Attentaten und Amokläufen. Der Terror ist allgegenwärtig, wie es scheint. Die Menschen leben in Angst. Was erleben wir hier?...

Mich interessiert das Thema vor allem insofern, als dass es eine ebenso interessante wie bedenkliche Zeitdiagnose ermöglicht: Noch erschreckender als die jeweiligen Ereignisse selbst ist meines Erachtens nämlich die Sprach- und Deutungslosigkeit der sonst so forschen Meinungsführer im öffentliche Raum. Stellt man die Ereignisse der letzten Wochen zusammen, treten doch erhebliche Erklärungslücken und Deutungsunsicherheiten zutage, die nicht einmal durch Propagandameldungen verdaulich gemacht werden konnten: Amokläufe, Rassismus in den USA, Brexit, Bankenkrise, Flucht, Krieg in EU-Nähe, Banken- und Finanzkrise, Putsch in der Türkei.
Krise der politischen Narrative? Wie meinen Sie das?

Unter „Narrativ“ verstehe ich eine interessengeleitete Erzählung, die Ereignisse in eine Sinnklammer einbettet und dadurch das Denken, Handeln und Wahrnehmen von Gesellschaften lenkt. Narrative haben dabei weniger Wahrheitswert als vielmehr eine Steuerungsfunktion. Sie funktionieren, weil sie permanent wiederholt werden und virale Ausbreitung finden, ohne dass die Frage nach der Autorenschaft und den blinden Flecken gestellt würde. Die Verfänglichkeit der Narrative resultiert dabei aus dem legitimen Bedürfnis der Menschen nach Sinnzusammenhängen…

Damit ich das verstehe: Ihre Grundthese ist also, dass es inzwischen keine „großen Erzählungen“ mehr gibt und der neoliberalen Ideologie, nachdem sie all diese und ihre Sinnzusammenhänge erst entstellt und schließlich verschliffen hat, inzwischen selbst die Legitimation wegbricht, sie an Glaubwürdigkeit verliert? In dem Sinne, dass man das Irrationale kaum mehr vernünftig und rational zu begründen vermag – oder wie ist das gemeint?…
Die funktionale Inklusion aller Lebensbereiche, mit anderen Worten der ökonomische Totalitarismus, hat mittlerweile alle gesellschaftlichen Einrichtungen zersetzt und hinterlässt eine Wüste aus toxischen Spaltprodukten. Von welchem Ort, von welcher Institution könnten da noch heilsame Impulse ausgehen?

Die Wissenschaft beispielsweise hat sich im Zuge von Ökonomisierung und Bologna längst von den Leitideen der Bildung und Wahrheitsfindung losgesagt, die Kirchen haben durch Unternehmensberatungen das ökonomistische Regime importiert und konterkarieren die gelegentliche Kapitalismuskritik von den Kanzeln durch Ausbeutung der eigenen Angestellten und manageriales Steuern. Die Gewerkschaften sind längst hierarchische Apparate, die im Zweifel in ihrer Breite doch jeden Sozialabbau oder Krieg mitzutragen bereit sind und – wie etwa die IG Metall – dann eben eigene „Privatrenten“ als Lösung der allumfassenden Misere an ihre Mitglieder offerieren… Mehr dazu.

 

Islamforscher im Gespräch. „Radikalisierung ist keine Folge gescheiterter Integration“. Interview mit Olivier Roy in der FAZ.

Nach den Anschlägen von Brüssel warnt Olivier Roy vor einer vorschnellen Verknüpfung von Islam und Terror. Im Interview erklärt der Islamforscher, was das eigentliche Problem des Dschihadismus ist. vom 26.03.2016, von MICHAELA WIEGEL, PARIS, FAZ, hier: 08/2016

Herr Roy, sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Terrorismus und gescheiterter Integration in europäischen Einwanderungsgesellschaften?
Ich glaube nicht, dass die islamische Radikalisierung die Folge einer gescheiterten Integration ist. Das ist ein Scheinproblem. Viele der jungen Leute, die in den Dschihad ziehen, sind integriert. Sie sprechen Französisch, Englisch oder Deutsch. Der „Islamische Staat“ (IS) hat ein frankophones Bataillon gegründet, weil die jungen Franzosen oder Belgier kaum Arabisch können…
Geben Sie dann Premierminister Manuel Valls recht, der eine Debatte über den Nährboden des Terrorismus ablehnt?

Nein, im Gegenteil, ich will zur Debatte über den Nährboden des Terrorismus beitragen. Valls übt sich jetzt in einer Form von Populismus, er hat nur noch wenig von einem Politiker der Linken, er ist autoritär und antiintellektuell. Der Nährboden des Terrorismus muss erforscht werden. Zu meiner eigenen Überraschung arbeite ich viel mit Psychologen und Psychoanalytikern zusammen. Das Risikoverhalten junger Leute und insbesondere die Faszination für Suizid und Gewaltphantasien haben stark zugenommen. Diese Dimension muss stärker berücksichtigt werden.

…  Das vollständige Interview.

Freie Bahn für Hierarchie? Grenzen der Machtkonzentration bei Hochschulleitungen. Von Prof. Wolfgang Löwer

08.08.2016, Professor Wolfgang Löwer, in: Forschung & Lehre,

(Löwer lehrt Öffentliches Recht und Wissenschaftsrecht an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und ist Präsident der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.)

Universitas semper reformanda?

Der Imboden-Bericht zur Evaluation der Exzellenzinitiative ruft neuerlich in Erinnerung, dass die Diskussion um die innere Organisation der Universität ein Dauerthema ist. Der Bericht thematisiert als Erfolgsbedingung für Exzellenz (unter 3.2) die „Governance der Universitäten“;…

Die „interne Steuerungsfähigkeit und das institutionelle Selbstverständnis der Universitäten sei im internationalen Vergleich wenig ausgeprägt.“ Interne Steuerungsfähigkeit heißt aber offenbar: „Starke interne Governance“, wie sie für internationale Spitzenuniversitäten typisch sei. „Stark“ ist solche Governance, wenn sie die Universitäten von oben steuern kann. Kurzum: Die Kommission steht unter dem Eindruck, an den deutschen Universitäten bestehe immer noch ein großes ungenutztes Potenzial und ein substanzieller Nachholbedarf beim Thema universitäre Governance…

In der verfassungsrechtlichen Logik dieses Systems liegt nicht die Ausstattung der Leitungsebene mit weiteren Kompetenzen, wie dies der Kommissionsbericht anzudeuten scheint (ohne eventuell dafür geeignete Zuständigkeiten zu benennen). In der Logik dieses Systems wird vielmehr die Wissenschaftsseite intensiv mit der Erwartung belastet, dass sie sich der Mitgestaltungsverantwortung durch Mitentscheiden und Kontrolle auch stellt. Vom MHH-Beschluss geht die Botschaft an die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus: Kümmert Euch um Eure Hochschule und überlasst sie nicht allein der Hochschulleitung!

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„Art but fair“- Gründer Schatz fordert im Interview mit der SZ ein Gütesiegel für deutsche Theater

20. August 2016.

Die Süddeutsche Zeitung (20.8.2016) interviewt Johannes Maria Schatz – den Gründer von „Art but fair“. Die Künstlerinitiative setzt sich für faire Arbeitsbedingungen und Gagen an Theatern ein. Die SZ zitiert in dem Interview eine Studie, laut der 35 Prozent der Befragten Machtmissbrauch durch Vorgesetzte beklagen. Schatz: „Es geht zunächst um so etwas Simples wie Arbeitszeiten. Die Künstler stecken oft über Tage hinweg in Proben und Aufführungen. Mit einer Familie lässt sich das kaum vereinbaren.“… Mehr dazu.