10/2015
(Leseprobe aus dem Buch „Kirche der Reformation?“, Hrsg. Gisela Kittel und Eberhard Mechels, Neukirchner Verlag, 2016)
…Das theologische Grundmodell des Impulspapiers ist nicht die Ekklesiologie der „Kirche für andere“, sondern die Christentumstheorie.1
Was bedeutet „Christentumstheorie“? Es handelt sich um eine theologische Konzeption, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein wurde. Ihr Zentralbegriff ist „das Christentum“ als eine gesellschaftlich – kulturelle Grösse, die kritisch unterschieden wird von der Institution Kirche und ihrer Dogmatik, in der die Kirche, so ist die Theorie, monopolartig und autoritär festlegen will, was Christen zu glauben haben. Das moderne, aufgeklärte Individuum ist aber emanzipiert, es lässt seine Freiheit, auch seine religiöse Freiheit nicht einschränken durch eine Organisation und ihre autoritären Vorgaben.
Ausgangs- und Mittelpunkt der Theorie ist demnach die gesellschaftliche Verfassung des Christentums und die christliche Verfassung der modernen Gesellschaft. Ihre Orientierungsgröße ist „das Christentum“ als neuzeitlich-emanzipatorischer Begriff, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein wird und mit dem der positiven historisch-christlichen Institution, der Kirche und ihrer Dogmatik, das Monopol streitig gemacht wird, allein zu bestimmen, was christliche Religion ist.2 Ihr zentrales Anliegen ist die Integration von christlicher Religion und Gesellschaft, d.h. der Aufweis der gesellschaftlichen Verfasstheit des Christentums bzw. der christlichen Verfasstheit der Gesellschaft. Es geht demnach nicht primär um „Integration“ als Aufgabe oder Projekt, sondern um das Postulat der faktischen Integriertheit von Christentum und Gesellschaft. So ist oft die Rede von der „Christlichkeit unserer Gesellschaft“, 3 vom außerkirchlichen „Christentum in unserer Gesellschaft“4, von der „Welt des Christentums“ 5 als „christlicher Welt“ 6. So kann die Studie der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau konstatieren: Wenn man unter Religion nicht nur ein gedankliches Erlebnis verstehe sondern einen weiteren Religionsbegriff voraussetze, dann werde erkennbar, dass die christliche Religion unsere gesamte Lebenswelt durchdringe. „Der Umgang mit Geld, die Einstellung zur Arbeit, die Gestaltung der Sexualität, das Erleben von Kunst, die Feier von Festen und Lebenshöhepunkten, das politisch-soziale Engagement – all diese Handlungsfelder bewahren christliche Überlieferung.“ 7 Ebenso ist die Individualisierung als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess „eine späte Folge des Protestantismus selbst, für den Individualität (´der einzelne in seinem Gewissen vor Gott ´) eine leitende Kategorie der christlichen Theologie war.“8 Alle diese Beispiele zeigen das Bemühen, die gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung von Christentum und heutiger Gesellschaft aufzuzeigen.
Von da aus wird die Kirche als eine Gestalt des Christentums in die Gesellschaft integriert als das Besondere dieses Allgemeinen. In der Neuzeit habe sich ein neuzeitliches Christentum konstituiert, in deutlicher Selbstunterscheidung vom kirchlich verfassten Christentum, befördert vor allem durch die Renaissance und die deutsche Aufklärung. Die Neuzeit ist „in gleichem Maße aus spezifischen Einsichten und Argumenten des Christentums hervorgegangen, wie sie andererseits durch ihre Entfaltung das Christentum zutiefst beeinflusst hat.“9 Und darum sind die oben genannten drei Gestalten des Christentums in der Neuzeit zu unterscheiden: das öffentliche, das kirchliche und das private Christentum. Und innerhalb des kirchlichen Christentums ist wiederum die Gemeinde eine von sieben möglichen Wahrnehmungen von Kirchenmitgliedschaft.10
Aus dieser christentumstheoretischen Systematik wird bereits ersichtlich, was in den Reformprogrammen von EKD und Landeskirchenleitungen mit Händen zu greifen ist: die entschlossene Marginalisierung der Gemeinden.
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