Der Todestrieb als Antrieb der Geschichte Christentum und Psychoanalyse bei Peter Sloterdijk. Von Martin Schuck

07/2017

Peter Sloterdijk, der am 26. Juni seinen 70. Geburtstag feiert, übernimmt seit Jahren die Rolle des derzeit einzigen ernstzunehmenden Religionskritikers aus der Reihe der Philosophen. Natürlich wandelt er dabei deutlich vernehmbar in den Spuren Nietzsches, aber er reproduziert nicht einfach dessen Position, sondern pflegt eine eigene Form von Originalität. Diese besteht in wesentlichen Punkten darin, Erkenntnisse der Psychoanalyse, die er in gewisser Weise als eine säkulare, nicht-metaphysische Schrumpfform des Christentums betrachtet, mit religiösen, was bei ihm immer bedeutet: metaphysisch aufgeladenen, Aussageformen abzugleichen und beider Untauglichkeit zur Bewältigung realer Problemlagen aufzuzeigen.
In einem seiner frühen Bücher, dem 1993 erschienenen „Weltfremdheit“, findet sich folgende Passage: „So scheinen sich Christentum und Psychoanalyse, idealtypisch kontrastiert, zueinander zu verhalten wie zwei rivalisierende Kurssysteme, die zumindest soviel gemeinsam haben, daß sie ihre Erfolge mit potentiell absurden und lebensbedrohlichen Nebenwirkungen erkaufen. Die christliche Kur setzt auf die Heilkraft des Glaubens an das schlechthin Unwahrscheinliche […] und läßt es darauf ankommen, den Kampf um die Chancen des gegenwärtigen Lebens zu versäumen; die analytische Kur hingegen erwartet alles von der Heilkraft des Aussprechens bitterer Wahrheiten – bis hin zum Explizitmachen der unsäglichen Triebtendenz, die den ‚Tod’ als gründlichste Heilung ansieht.“
Die Passage ist Teil eines Kapitels mit dem Titel „Wie wurde der ‚Todestrieb’ entdeckt? Zu einer Theorie der seelischen Endabsichten mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Jesus und Freud“. Findet sich in obigem Zitat die Rolle von Jesus und Freud bereits angedeutet, nämlich als Produzenten von falschem Bewusstsein, so geht Sloterdijk mit Sokrates wesentlich gnädiger um. Zumindest bis zu Nietzsches Dekonstruktion des Platonismus war dieser für Sloterdijk ein gangbarer Weg, „dem philosophischen Wahnsinn ein symbolisches Strombett zu graben“. So besaß Europa dank Platon „für die Tendenz der Losreißung des Seelischen von der Körperwelt eine Hochsprache von epochenweiter Suggestivkraft“, die es ermöglichte, „den Traum vom unendlichen Leben der Seele als rationalen und noblen Todesappetit zu formulieren“.
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist ihm dabei die „Urszene der ‚abendländischen’ Philosophie“, nämlich der Tod des Sokrates durch den „Schierlingsbecher“, wie er sich der Überlieferung zufolge 399 v. Chr. in Athen ereignet haben soll. Dank dem „dichterischen Ingenium Platos“, so Sloterdijk, besitze die europäische Philosophie „von dem Moment ihrer eigentlichen Einsetzung“ an „ein Bild oder vielmehr ein Szenario […], dessen Leuchtkraft und Verkündigungsgewalt es in jeder Hinsicht mit den Passionsberichten der christlichen Evangelien“ aufnehmen könne. Überhaupt habe „die heroische Ära philosophischen Denkens“ nicht vor dem Tod des Sokrates anfangen können, denn erst in ihm komme „ein neuartiger Messianismus der Intelligenz“ zur Entfaltung, in dem sich die „frohe Botschaft von einem beglückenden Streben nach Wahrheit“ mit einer „neugewonnenen Unwiderstehlichkeit“ verbreiten konnte. Mit dem Akt des Sterbens nach dem Austrinken des Giftbechers sieht Sloterdijk „mit einem Mal die Voraussetzungen für eine neuartige Verkündigung der ‚Wahrheit’ über das Streben nach Weisheit“ erfüllt.
Bewusst setzt Sloterdijk das Sterben des Sokrates in Parallelität zu Tod und Auferstehung Jesu, denn der Tod des Philosophen gleicht einer Offenbarung an seinen Schüler Platon, dessen Psyche sich angesichts der sokratischen Todesmeisterschaft „entzündet“ mit einer „verkündbaren Evidenz von weittragender Energie“, die Sloterdijk selbst „apostolisch“ nennen würde, wenn der Ausdruck „nicht christlich okkupiert wäre“. Und erst das „Zeugnis dieses philosophischen Abschieds von der Welt gibt dem Schüler die Vollmacht, sich als Meisternachfolger zu etablieren“ und erst als „Mitwisser, Zeuge und Verkünder des meisterlichen Todes nimmt sich der Schüler Plato das Recht, unter dem Namen des Sokrates eine neue Lebensform der Wahrheitssuche zu stiften“. Es ist wohl nicht nur eine ironische Begriffsadaption, wenn Sloterdijk von einem „Neuen Testament der Weisheit“ schreibt.
Sloterdijk betrachtet es als Wirkung dieser von Platon überlieferten Geschichte, dass der Tod seither von den Philosophen „als eine positive Bedingung für den Zugang zur Seinsweise höherer Einsichten“ proklamiert werde. Gestorbensein, so Sloterdijk, stehe von da an „für die faszinierendste der metaphysischen Ideen“. Es vertrete „das Phantasma einer Intelligenz, die als reines seelenhaftes Für-sich-Sein entlastet wäre von der Nötigung zum Körper und zur Sinnen- und Sorgenwelt“.
Mit einem kurzen Schlenker gelangt Sloterdijk von dieser in Parallelität zur christlichen Offenbarung erzählten Geschichte wieder zur Psychologie, indem er konstatiert, deren Anfänge seien auch in einer „Akosmologie“ zu suchen; die maßgeblichen Aussagen über das, was die Seele eigentlich ist, würden „durch das Wegdenken der Welt von ihr“ und durch „die Tilgung der sinnlichen Weltspuren in ihr“ sozusagen auf einer via negativa gewonnen, so dass Seele als „Sein minus Teilhabe am hinderlichen Kosmos“ zu bestimmen sei.
In seinen Ausführungen über den „Todestrieb“ bescheinigt er diesem, über drei unterschiedliche Zugänge die „Menschheit“ (zumindest im „monotheistischen Westen“) zum „Unternehmen Geschichte“ geformt zu haben, „deren Pilotgruppen sich ganz unter dem Bann der Voreiligkeit zum guten Ende in Marsch gesetzt haben“. Aber diese Form von Geschichte sei nichts anderes als „die Projektion ihres Psychofinalismus in die Zeit der politischen Bewegungen“. Das Christentum habe immer die Kraft besessen, „in Individuen und Völkern die Vorstellung zu mobilisieren, mit unüberbietbarem Ernst in Vollendungsdramen und letzte Gefechte verwickelt zu sein“. So lässt Sloterdijk keinen Zweifel daran, dass für ihn das Christentum von Anfang an ein gefährlicher Irrweg der Geschichte war.

Ein Gedanke zu „Der Todestrieb als Antrieb der Geschichte Christentum und Psychoanalyse bei Peter Sloterdijk. Von Martin Schuck

  1. Kühnle, Hans-Martin

    Martin Schucks Artikel zu Peter Sloterdijk fand ich sehr erhellend. Ich habe etwas meine Meinung revidiert, dass Sl. nur originelle Gedanken produziere, aber keine stringente Philosophie vorlege.
    – Insgesamt bin ich über die in „Wortmeldungen“ angezeigten Texte sehr dankbar.
    Hans-Martin Kühnle

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