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Die Achtundsechziger und der Verlust der kulturellen Hegemonie. Von Martin Schuck

03/2018

Die Vorstellung, menschliche Gesellschaften, die eine Phase der Aufklärung durchlebt haben, würden sich kontinuierlich in Richtung auf humanitären Fortschritt hin entwickeln, gehört zu den hartnäckigsten Mythen der Neuzeit. Diesen Mythos haben bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten „Dialektik der Aufklärung“ destruiert. Man braucht deshalb diesem Mythos nicht mehr anzuhängen und kann die Dinge klarer sehen. Klar sehen kann man deshalb, dass jene kulturelle Innovation, die mit der Jahreszahl 1968 verbunden ist, zwar in weiten Bereichen zur Durchsetzung gekommen ist, aber gegenwärtig von einer erstarkenden Gegenbewegung zurückgedrängt wird.
Wagen wir deshalb eine zweiteilige These. Zum ersten: All diejenigen politischen und kulturellen Vorstellungen der Achtundsechziger, die nicht vom damals verbreiteten kommunistischen Zeitgeist geprägt, sondern an allgemeine Bedürfnisse anschlussfähig waren, sind innergesellschaftlich zum Durchbruch gekommen und prägen das heutige öffentliche Leben einschließlich der politischen Debatten. Dazu gehören die vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter, die Liberalisierung der Sexualität, Demokratisierung auf allen Ebenen sowie der Verzicht auf Diskriminierung von Menschen aufgrund besonderer Merkmale. Diese Errungenschaften konnten in der Nachkriegszeit allenfalls als Forderungen einzelner Personen oder gesellschaftlicher Gruppen vorgetragen werden und bedurften einer kulturellen, weit über das Politische hinausgehenden Bewegung, um den Weg in die Mehrheitsgesellschaft zu finden. Dieses zu leisten, war zunächst die politische Funktion der „außerparlamentarischen Opposition“, weitergehend aber bedurfte es des sog. „Marschs durch die Institutionen“, um es Repräsentanten der Bewegung zu ermöglichen, deren Forderungen in den Machtzentren vorzutragen und in konkrete politische Entscheidungen umzusetzen.
Was in den Jahren nach 1968 geschah, kann als eine Kulturrevolution bezeichnet werden, die deshalb langfristig Erfolg hatte, weil es den Achtundsechzigern gelungen war, eine kulturelle Hegemonie zu schaffen, der ihre Gegner, die nach dem Ende der Adenauer-Ära geschwächten und kurzzeitig orientierungslos gewordenen Konservativen, nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Das Konzept der Schaffung einer kulturellen Hegemonie geht zurück auf die Theorie des italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci. Dieser hatte erkannt, dass jede Bewegung, die auf Hegemonie hinarbeitet, zunächst ihre Ideen im vorpolitischen, vor allem im kulturellen Bereich so in Stellung bringen muss, dass sie auf die Einstellungen einer breiten Masse zwingend wirken und deshalb letztlich auch die politischen Entscheidungen in diese Richtung lenken. Gramsci dachte im Kontext des faschistischen Italiens selbstverständlich an eine kulturelle Hegemonie von links, und genau in diese Richtung sind ihm die Achtundsechziger, für die Gramsci ein wichtiger Theoretiker war, auch gefolgt. So weit der erste Teil meiner These.
Der zweite Teil geht so: Weil die Repräsentanten der Bewegung so erfolgreich waren, dass ihre Forderungen heute zu politischen und kulturellen Selbstverständlichkeiten geworden sind, hat sich die Bewegung in die bestehenden politischen und kulturellen Institutionen hinein verflüchtigt; die Folge war, dass die früheren Repräsentanten der Bewegung in ihrem späteren Leben die Rolle der Repräsentanten des Staates oder der Träger des kulturellen Establishments ausfüllen mussten. Damit erscheinen sie als konservativ, denn es geht ihnen um den Erhalt von Errungenschaften, die zwar das Ergebnis erbitterter kultureller Kämpfe darstellen (beispielsweise die Homoehe), aber durch den Status einer neuen Normativität natürliche Abwehrreaktionen bei denen erzeugen, die eine Weltsicht haben, die dem nachachtundsechziger Zeitgeist entgegensteht.
Von daher gibt es seit der absehbaren Durchsetzung des kulturellen Forderungskatalogs der Achtundsechziger als verbindliche Inhalte politischen Handelns (ein Prozess, der mit dem Beginn der Kanzlerschaft Gerhard Schröders einen gewaltigen Schub nach vorne bekommen hat und unter den diversen Regierungen Angela Merkels nicht gestoppt wurde) eine Gegenbewegung, die ihrerseits nach kultureller Hegemonie strebt und, wenn sie bereit ist von den Achtundsechzigern zu lernen (worauf vieles hindeutet), diese auch erreichen kann.
So weit meine These, deren Stichhaltigkeit ich gerne durch einige Beobachtungen untermauern möchte. Die Existenz einer neuen Bewegung, die nach kultureller Hegemonie strebt, wird vom offiziellen Politikbetrieb der Bundesrepublik Deutschland nicht nur nicht geleugnet, sondern sogar – möglicherweise unbewusst – zum Ausgangspunkt politischen Denkens gemacht. So hat der Politologe Albrecht von Lucke in einem Beitrag in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ eine Bemerkung des CSU-Politikers Alexander Dobrindt aufgegriffen, der im „heute journal“ gesagt haben soll, die CSU müsse, wie es bereits Franz Joseph Strauß gefordert habe, „an der Spitze der Bewegung marschieren“. Das, so von Lucke, sei erstaunlich, denn Strauß habe nie von einer Bewegung gesprochen, sondern folgendes gesagt: „Konservativ heißt, nicht nach hinten blicken, konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren.“
Tatsächlich hat sich Strauß damit in eine Tradition alteuropäischen konservativen Denkens gestellt, die sich durchaus aufgeklärt auf die Seite des Fortschritts gestellt hat, diesen aber so gestaltet wissen wollte, dass herkömmliche Traditionen, Einstellungen und Lebenswelten erhalten bleiben können. Wenn Dobrinth dagegen an der Spitze einer Bewegung marschieren will, hat das wenig mit Konservativismus zu tun, sondern ist eine Handlung innerhalb einer irgendwie beabsichtigten Revolution. Revolutionen, das zeigt die Geschichte, sind aber nicht immer dem humanitären Fortschritt verbunden, sondern können, wie die faschistischen Umstürze im 20. Jahrhundert in einigen europäischen Ländern zeigen, auch in die andere Richtung gehen.
Genau hier befindet sich die Schnittstelle zu denjenigen Kräften, die eine komplette Richtungsänderung der politischen und kulturellen Entwicklung des vergangenen halben Jahrhunderts fordern. Nicht nur der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, seit einiger Zeit beliebter Gesprächspartner hoher CSU-Politiker, sondern auch sich in der „Identitären Bewegung“ sammelnde Rechtsradikale haben es sich zum Ziel gesetzt, erreichte Standards rückgängig zu machen – sei es in der europäischen Flüchtlingspolitik oder im Neueinstieg in völkisches Denken, das in den politischen Diskursen bisher keine Rolle mehr gespielt hat.
Wenn nun Alexander Dobrinth mit dem Gedanken einer „konservativen Revolution“ (auch diese Vorstellung gab es in den 1920er Jahren schon einmal) spielt, gerät er in gefährliche Nähe zu den Vertretern der „Identitären Bewegung“, die gerade dabei sind, Antonio Gramsci in ihre Richtung zu interpretieren und offen nach der kulturellen Hegemonie streben. Wie weit sie damit gekommen sind, zeigt der Fall Dobrinth, der den Konservatismus bereits als Teil einer Bewegung nach rechts versteht.
Schaut man bei einschlägigen literarischen Vertretern der „Identitären Bewegung“ nach, lässt sich feststellen, dass diese wenig Interesse an den Inhalten des klassischen konservativen Denkens haben und konservative Politiker allenfalls als Steigbügelhalter benutzen. Einer ihrer Vordenker, der Publizist Alex Kurtagic, will ganz andere Denktraditionen anzapfen: „Die Rechte muss ihre Träumer und Randfiguren, ihre Exzentriker und politischen Romantiker in Ehren halten und genau beobachten. Der kühne Wurf gelingt nicht dort, wo Vorsicht und Vernunft walten.“ Konservative haben in dieser Weltsicht, die nach dem „kühnen Wurf“ sucht, keinen Platz: „Die Rechte muss sich von den Konservativen lösen. Letztere sind nur anders angepinselte Liberale und verlieren alles – nur eben langsamer.“