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Brasilien liebt Jesus. Der Vormarsch der Evangelikalen in Politik, Gesellschaft und Medien

Oktober 2014, von Lamia Oualalou, Le monde diplomatique

‚Übernahme‘ mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Wenn Marina bis Montag nicht klar Position bezieht, bekommt sie die schlimmste Predigt zu hören, die ich jemals über einen Präsidentschaftskandidaten gehalten habe.“ Mit dieser Nachricht, die Pastor Silas Malafaia am Samstag, dem 30. August, auf Twitter postete, begann eine der wichtigsten Auseinandersetzungen in der jüngsten politischen Geschichte Brasiliens. Am Vorabend hatte Marina Silva, die Kandidatin der Sozialistischen Partei (PSB), ihr Programm vorgestellt – und ein Tabu gebrochen: Sie versprach die Ehe für alle.

Laut einem Urteil des Verfassungsgerichts ist die Homoehe bereits seit Mai 2013 möglich. Daran müssten sich Richter aber nicht unbedingt halten, erklärt Jean Wyllys, der einzige offen schwule Parlamentarier: „Solange wir kein Gesetz haben, sind unsere Rechte nicht geschützt.“ Marina Silva, immerhin praktizierendes Mitglied der äußerst wertkonservativen Pfingstkirche „Assembleia de Deus“, wollte offensichtlich zeigen, dass sie bereit ist, ihre angekündigte „andere Politik“ auch wirklich umzusetzen.

Ein paar Stunden nach Malafaias Tweet ruderte sie jedoch zurück, und die Begeisterung schlug in Empörung um. „Sie haben uns angelogen, Sie haben mit der Hoffnung von Millionen Menschen gespielt; Sie verdienen das Vertrauen des brasilianischen Volkes nicht“, schrieb ihr Wyllys. Er hatte zwar eine andere Kandidatin unterstützt, aber das Wahlprogramm von Marina Silva begrüßt. Vielleicht ist Silva doch zu streng evangelikal. Oder sie wollte es sich mit den religiösen Wählern nicht verscherzen. Tatsächlich haben sämtliche Kandidaten, auch die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff, einen sogenannten Evangelikalenausschuss eingerichtet, um die Millionen Stimmen dieser rasant wachsenden Gemeinden einzufangen.

Brasilien macht so etwas wie eine religiöse Revolution durch. 1970 bekannten sich noch 92 Prozent der Bevölkerung zum Katholizismus; 2010 waren es nur noch 64,6 Prozent. „Brasilien ist einzigartig: Es ist das einzige große Land, das in so kurzer Zeit eine so tiefgreifende Veränderung seiner religiösen Landschaft erlebt hat“, meint José Eustáquio Alves, Demografieforscher an der Hochschule für Statistik (Escola Nacional de Ciências Estatísticas, ENCE) in Rio de Janeiro. Die evangelikalen protestantischen Kirchen haben sich extrem ausgebreitet, vor allem die Pfingstgemeinden, während die Mitgliederzahlen der traditionellen protestantischen Gemeinden (evangelisch- lutherisch, baptistisch oder methodistisch) in etwa gleich blieben. Mit 123 Millionen Gläubigen bleibt Brasilien dennoch das größte katholische Land der Welt. „Aber nicht mehr lange“, meint Eustaquio Alves. Nach seinen Berechnungen werden die beiden Konfessionen im Jahr 2030 gleichauf liegen.

Die Umwälzung spiegelt sich auch im Stadtbild wider, etwa auf dem Cinelândia-Platz in Rio de Janeiro, der seinen Namen den großen Lichtspielhäusern verdankt, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Heute sind sie fast alle verschwunden. Anstelle von Filmstars leuchten religiöse Slogans („Gott ist Liebe“) oder Kirchennamen („Universalkirche“, „Weltkirche des Königreichs Gottes“) auf den Neontafeln. So sieht es nicht nur in Rio, sondern auch in allen anderen Großstädten des Landes aus. Und in den Vorstädten richten die Pfingstler überall, wo sich Platz dafür findet, Betsäle ein, zum Beispiel zwischen einer Autowerkstatt und einer Bar. Infolge des rasanten Städtewachstums hat sich die jahrhundertealte Struktur mit Rathausplatz und Kirche aufgelöst. Die evangelikalen Kirchen haben sich dieser Entwicklung angepasst – mit einer Beweglichkeit, „zu der die Katholiken nicht in der Lage waren“, meint Cesar Romero Jacob, Politologe an der katholischen Universität von Rio.
Drei Baracken, eine Apotheke und ein Tempel

In Amazonien, dem sogenannten Wilden Westen Brasiliens, wird nicht nur neues Agrarland erschlossen. Der französische Geograf Hervé Théry erzählt, wie sich die Evangelikalen auch unter den Landbesetzern im Regenwald etablieren: „Drei Wohnbaracken, eine Apotheke und ein Tempel; so fängt jede neue Siedlung hier an.“ Der Forscher beobachtet auch, wie sich die Prediger der gigantischen Viertel an den städtischen Peripherien annehmen, die von den Kommunen im Stich gelassen werden: „Die Evangelikalen bieten eine Mischung aus Sozial- und Freizeithilfe an. Sie hören den Leuten wirklich zu, was die Priester inzwischen fast gar nicht mehr machen. Das ist einer der Schlüssel zu ihrem Erfolg“, meint Théry.

Während sich im Zentrum der „Cidade maravilhosa“, der „wunderbaren Stadt“ Rio, noch mehr als 75 Prozent der Einwohner als katholisch bezeichnen, sind es in der Peripherie nur noch 30 Prozent. In diesen Vierteln regiert stadtplanerisch das Chaos. Die meisten Häuser wurden illegal errichtet und sind eine Gefahr für Leib und Leben; die nächste Ambulanz liegt meilenweit entfernt; es gibt keine Kanalisation. Der Nahverkehr wird von der Mafia kontrolliert, die mit der Lokalpolitik eng verbandelt ist. Und für die Sicherheit sorgen höchstens Drogenhändler oder Milizen, die aus ehemaligen Polizisten bestehen. Jugendliche langweilen sich hier zu Tode.

In Queimados, einer Vorstadt von Rio, gibt es für die Teenagertochter von Elaine Souza kein einziges Freizeitangebot. Die katholisch getaufte Souza gehört zu den Konvertiten des letzten Jahrzehnts. Sie arbeitet als Putzfrau und braucht täglich fast fünf Stunden für den Weg zur Arbeit an der Copacabana und zurück. Wenn sie vom Bus aus den Strand sieht, muss sie manchmal daran denken, dass viele aus ihrem Viertel noch nie hier gewesen sind. Daheim gibt es so gut wie nichts, keine öffentliche Bibliothek, keine Grünanlage, nicht einmal eine Bäckerei; nur zwei winzige Bars, in denen die Männer ihren Lohn für Cachaça, einem Branntwein aus Zuckerrohrsaft, auf den Kopf hauen.

Für Elaine Souza ist der evangelikale Tempel nicht nur eine Anlaufstelle in Krisenmomenten. Es ist auch der einzige Ort, an dem sie ihre Freizeit verbringen kann. Hier werden Theaterstücke einstudiert (zum Muttertag oder für Weihnachten), man kocht zusammen und macht einander Mut; zum Beispiel, wieder zur Schule zu gehen, denn hier haben die meisten nur die Grundschule besucht. Die 32-jährige Souza bringt so oft wie möglich ihre Tochter mit. Sie will nicht, dass es ihr so ergeht wie vielen Mädchen, die sich in einen kleinen Drogenboss verlieben, viel zu jung schwanger werden und die Schule abbrechen.

Der Gottesdienst ist gut besucht und so ganz anders als eine katholische Messe. Es wird sehr viel gesungen, und die Bekehrten erzählen von ihrer Erleuchtung. Hier kommt jeder auf seine Kosten. Während der Vatikan eine einzige Botschaft aussendet, die von seinen gehorsamen Priestern übermittelt wird, haben die Pfingstprediger weitaus mehr Freiraum.

Bei den Evangelikalen kann sich jeder zum Pastor erklären: Man braucht nur etwas Charisma, sollte ein wenig Theologie studiert haben (in etlichen Gemeinden reichen drei Monate) und eine „göttliche Berufung“ besitzen. Die großen Freikirchen, wie die „Assembleia de Deus“, der Marina Silva angehört, schreiben gewisse Standards vor. Doch theoretisch kann jeder Prediger seine eigene Gemeinde gründen – mit einer maßgeschneiderten Botschaft für die jeweilige soziale Klientel. So predigen manche die Askese, während andere den Reichtum preisen. Surfer treffen sich in der Gemeinde „Schneekugel“; Fußballfans schließen sich den „Athleten Christi“ an. Als hätten Marketingstrategen ihre Finger im Spiel, meint Mario Schweriner, der an der Hochschule für Werbung und Marketing (Escola Superior de Propaganda e Marketing, ESPM) in São Paulo über die Beziehungen zwischen Religion und Wirtschaft forscht.

In der extrem ungleichen Gesellschaft Brasiliens kann sich die katholische Kirchenhierarchie, die den Status quo verteidigt, kaum noch Gehör verschaffen – zumal sie die Anhänger der sozialistischen Befreiungstheologie stets unterdrückt hat. „Den katholischen Predigten, die als Belohnung für die Opfer im Diesseits das Paradies im Jenseits versprechen, setzen die Pfingstler einen hedonistischen Materialismus entgegen, der den Erfolg hier und jetzt verspricht“, stellt der Soziologe Saulo de Tarso Cerqueira Baptista von der Universität des Bundesstaats Pará fest.

Die Predigten der Evangelikalen füllen ein politisches Vakuum. „Wenn eine Gesellschaft sich nicht für fähig hält, ihre Probleme auf sozialem, politischem oder wirtschaftlichem Wege zu lösen, dann bleibt am Ende nur noch eine übernatürliche Erklärung: Überall haben sich böse Geister eingenistet, die man vertreiben muss“, erklärt Baptista. Da gibt es etwa den Dämon der Arbeitslosigkeit, den man vertreibt, indem man während des Gottesdienstes seine Arbeitszeugnisse schwenkt, oder die Dämonen des Alkohols, des Schulversagens oder des Ehebruchs, die dank einer rettenden Geste des Pastors die Flucht ergreifen. Jesus kann auch Krebs und Aids heilen.

Um sich das Wohlwollen von Gottes Sohn zu sichern, empfiehlt es sich, jeden Monat den „dizimo“, ein Zehntel seiner Einkünfte, dem Pastor zu geben. Gezahlt wird bar, per Scheck oder mit Karte. Für die meisten Gläubigen ist das selbstverständlich. „Ich weiß, wenn ich mal arbeitslos bin, dann wird mir ein Bruder oder eine Schwester aus der Gemeinde etwas zu Essen bringen und mir helfen, wieder einen Job zu finden“, meint Elaine Souza.

„Mit dem Zehnten besiegelt man seine Zugehörigkeit zur Gemeinde“, erklärt Romero Jacob. Den Freikirchen ist natürlich nicht entgangen, dass in Brasilien eine neue Mittelklasse entstanden ist: 40 Millionen Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren der Armut entronnen. Der materielle Erfolg gelte bei den Pfingstlern als Beweis, dass man von Gott auserwählt sei, erklärt Denise Rodriguez, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Rio de Janeiro. „Und wenn jemand dann immer besser verdient, wird er dazu neigen, seinen Erfolg der Kirche zuzuschreiben und sich dort natürlich noch stärker engagieren.“

Inzwischen gibt es einen richtigen Markt für evangelikale Produkte, von Kleidung über Musik bis zu Fernsehsendern. In São Paulo ist vor allem die evangelikale Mode aus dem Textilviertel Brás sehr beliebt. Marktführer ist die Firma Joyaly, die Anfang der 90er Jahre gegründet wurde. „Damals mussten die Frauen unserer Kirche noch lange, unförmige Röcke tragen. Da kam meine Mutter auf die Idee, eine eigene Modelinie zu kreieren“, erzählt Alison Flores, der das Unternehmen zusammen mit seiner Schwester Joyce leitet, die Modedesignerin ist.

„Es gibt natürlich Regeln: kein Dekolleté, keine durchsichtigen Stoffe, keine schulterfreien Oberteile“, erklärt Joyce und zeigt uns ihre Entwürfe. „Trotzdem sehen wir nicht mehr wie Omas aus. Weg mit den dunklen Farben und den schlechten Schnitten! Ich ziehe meine Inspiration aus europäischen Kollektionen und passe sie den Vorschriften der Kirche an“, fügt sie lächelnd hinzu. In den 2000er Jahren wuchs Joyalys Umsatz um nahezu 30 Prozent pro Jahr. Das hat sich etwas abgeschwächt, seit dreißig Firmen auf dem evangelikalen Modemarkt konkurrieren. „Immer mehr Frauen schließen sich den Evangelikalen an, und sie werden immer selbstbewusster: Sie wollen schön sein und zugleich ihren Glauben öffentlich zeigen“, begeistert sich Flores.

Ein paar Kilometer weiter in Liberdade, dem japanischen Viertel von São Paulo, gibt es eine komplette Straßenzeile Läden mit evangelikaren Konsumgütern. In der Straße Conde de Sardezas gibt es evangelikale Spielsachen, T-Shirts, Badehosen, Helme und Kaffeetassen mit aufgedruckten Jesussprüchen. Doch der größte Verkaufsschlager ist nach wie vor die Bibel, das meistverkaufte Buch Brasiliens. „Mehrere meiner Kunden haben zwanzig oder dreißig Bibeln zu Hause, sie sammeln sie“, erzählt Antonio Carlos, der Inhaber von „Total Gospel“. Die „Bibel der Frau“ mit speziellen Gebeten rund um Ehe und Familie ist ebenfalls ein großer Erfolg. Carlos hat auch eine vergoldete „Riesenbibel“ im Angebot – als Ausstellungsstück fürs Wohnzimmer.

In Brasilien ist Musikpiraterie immer noch ein großes Problem. Doch die christliche Musikindustrie bleibt davon verschont. Fünfzehn der zwanzig meistverkauften Alben stammen von christlichen Sängern, einige sind katholisch, die meisten evangelikal. Neben den traditionellen Gospels wird Jesus in allen Musikrichtungen gelobt und gepriesen, von Samba über Sertanejo (eine Art brasilianischer Country) bis hin zu Rock und Rap. Die Interpreten können strenge Pastoren sein, kleine Dickerchen mit Cowboyhut oder auf brav getrimmte Nymphchen.

Plattenfirmen, die früher über solche Typen die Nase gerümpft haben, haben inzwischen nach dem Vorbild von Sony und EMI eigene Gospellabels gegründet. „Als ich anfing, haben wir in Garagen gesungen. Jetzt umwerben uns alle Studios, und wir haben Radiosender, in denen nur unsere Musik gespielt wird“, erzählt die 42-jährige Eshyla, die heute ein Star in der evangelikalen Musikszene ist. Sie ist mit einem Prediger verheiratet und tourt mit ihrem Album „Jesus, o Brasil quer te adorar“, (Jesus, Brasilien will dich lieben) durchs Land, Tausende strömen zu ihren Konzerten. Eshyla ist bei Central Gospel Music unter Vertrag, das Label gehört Pastor Malafaia.

„Die evangelikalen Kirchen nutzen die Unterhaltungsindustrie für die Kommunikation. Denn sie müssen ja ihre Botschaft verbreiten“, meint der Marketingexperte Valdemar Figueredo Filho aus Rio de Janeiro. „Die großen Prediger haben klein angefangen, mit einem Gemeindehaus, dann kam der Radiosender dazu, danach Fernsehen und schließlich die Plattenfirma. Jedes dieser Unternehmen stützt das andere, und so steigern sie ihren Bekanntheitsgrad.“ Die Igreja Universal do Reino de Deus (Universalkirche des Königreichs Gottes), kurz „Universal“ genannt, war die Vorreiterin dieser Entwicklung. Diese Kirche unter der Leitung von Bischof Edir Macedo besitzt zwei Verlage, ein Reisebüro und eine Versicherungsgesellschaft. Außerdem verteilt sie das Gratisblatt Folha Universal, ein wöchentliches Hochglanzmagazin mit einer Auflage von 1,8 Millionen – zum Vergleich: Die angesehene Tageszeitung Folha de São Paulo hat eine Auflage von 300 000 Exemplaren.

Seit 1989 besitzt „Universal“ auch Rede Record, den zweitgrößten Fernsehsender des Landes. Dort werden Sendungen mit religiösen Inhalten allerdings erst am späten Abend ausgestrahlt. „Universal“ bucht lieber Sendezeiten auf anderen Kanälen – eine Strategie, die inzwischen von Dutzenden konkurrierender Kirchen imitiert wird. Im Radio macht sie es genauso und beliefert vierzig Radiosender mit religiösen Inhalten.

Figueredo Filho hat ausgerechnet, dass die evangelikalen Kirchen auf diese Weise mehr als ein Viertel der brasilianischen UKW-Sender kontrollieren und über 130 Stunden Sendezeit pro Woche auf vier nationalen Radiofrequenzen mieten. Das nimmt manchmal groteske Formen an: So stellt etwa der Sender Rede 21 den Predigern 22 Stunden Sendezeit pro Tag zur Verfügung. „Das ist Rechtsmissbrauch“, schimpft João Brant vom Kollektiv Intervozes, einer NGO, die für die Demokratisierung der Medien kämpft. „Das sind öffentliche Sendelizenzen, die ohne Genehmigung an andere Nutzer weitergegeben werden“, erklärt er. „Selbst wenn man diese religiösen Programme wie Werbeblöcke behandelt, dürften sie nicht mehr als ein Viertel der gesamten Sendezeit okkupieren“, sagt er. Im Grunde sei das verfassungswidrig. Jedes Jahr zieht Intervozes mit der Forderung vor den Kongress, den entsprechenden Passus klarer zu formulieren. „Und wir stoßen immer auf dasselbe Problem: Alle Gesetzesvorhaben werden von den christlichen Abgeordneten blockiert.“

Denn das Herz des evangelikalen Machtapparats sitzt im Kongress. Alle Parlamentarier, die „Brüder im Glauben“ sind, gehören jenseits ihrer Parteizugehörigkeit zur sogenannten evangelikalen Front. 2014 versammelten sich hinter dieser Front 73 von 513 Abgeordneten. Jeden Mittwochmorgen treffen sie sich in einem Sitzungssaal, um gemeinsam zu beten.

Ihr wachsender Einfluss basiert auf der besonderen Struktur des brasilianischen Wahlsystems: Die Anzahl der Parlamentssitze wird nach der Summe der Stimmen berechnet, die ein einzelner Kandidat bekommt, plus den Stimmen für dessen Partei (die Wähler kreuzen entweder das eine oder das andere an). Wenn ein Kandidat also sehr viele Stimmen bekommt, erhält seine Partei mehr Sitze. So sahnen vor allem die charismatischen Fernsehprediger ab, weshalb man sie auch „puxadores de voto“ (Stimmensauger) nennt.
Religiöser Pop auf allen Kanälen

Von diesem Wahlsystem profitieren alle Prominenten, auch jenseits der evangelikalen Szene. 2010 ergatterte der Clown Francisco Everardo Oliveira da Silva alias Tiririca mit Abstand die meisten Stimmen (1,35 Millionen). Er verfügte zwar über keinerlei Erfahrung in der Politik, aber er ist eben sehr beliebt. Mit seinen Wählerstimmen konnten vier weitere Abgeordnete seiner Partei ins Parlament einziehen. 270 aus Funk und Fernsehen bekannte Prediger buhlten bei den aktuellen Wahlen um ein Abgeordnetenmandat im Nationalkongress – und überboten damit den Rekord von 2010; da waren es 193.

Dieses System macht es den Parteien leicht, religiöse Kandidaten aufzustellen. Zumal diese noch einen weiteren Pluspunkt mitbringen: das Vertrauen der evangelikalen Wähler. „Ein Bruder stimmt für einen Bruder“, sagt Rodriguez. Die Gläubigen halten einen Vertreter ihrer Kirche natürlich für verlässlicher als andere. Evangelikale sind regelmäßige Kirchgänger, sie stammen meist aus einfachen und eher bildungsfernen Verhältnissen, wie die Studien von Romero Jacob zeigen, und sind daher für die Meinung ihres spirituellen Führers weitaus empfänglicher als kritische Gebildete.

Pastor Malafaia, der Anführer der „Assembleia de Deus“, der Marina Silva einen Monat vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in die Knie zwang, ist sich dessen bewusst. Nach seinem Einfluss gefragt, antwortet er ohne Umschweife: „Ich möchte selbst kein Kandidat sein. Ich bewege mich lieber im Hintergrund als auf der politischen Bühne.“ Und fährt fort: „Bei den letzten Kommunalwahlen habe ich einen Kandidaten lanciert, der vorher komplett unbekannt war. Am Ende hat er die meisten Wählerstimmen bekommen.“ Auf alle Wahlen nach Proporzsystem (vor allem die Parlamentswahlen) hat dieses Vorgehen großen Einfluss. „Aber das gilt nicht für Mandate, die nach Mehrheiten vergeben werden. Die Evangelikalen sind noch weit davon entfernt, die Hälfte des Landes zu vertreten. Da geht es ums Verhandeln“, meint Figueredo Filho.

Und genau das wollen die Evangelikalen auch tun. „Bei der Stichwahl um die Präsidentschaft werden wir uns mit jedem der beiden Kandidaten an den Tisch setzen und sagen: ’Willst du unsere Unterstützung? Dann musst du ein Dokument unterzeichnen und dich dazu verpflichten, dieses oder jenes Gesetz nicht durchzubringen.‘ So läuft das“, meint Malafaia. Wer auch immer gewinnt, muss sich in Zukunft im Nationalkongress mit der „evangelikalen Front“ arrangieren.

In jeder Legislaturperiode versuchen die Evangelikalen vor allem in solche Ausschüsse hereinzukommen, die soziale Themen behandeln. Sie besetzen derzeit 14 der 36 Sitze im Menschenrechtsausschuss, wo sie bei Gesetzesvorhaben zu den Rechten Homosexueller, zu Abtreibung, Drogen oder Sexualerziehung eingreifen können. Und im Ausschuss für Technologie und Kommunikation, wo sie mit 14 von 42 Sitzen vertreten sind, passen sie auf, dass die Vergabe von Radio- und Fernsehlizenzen nicht geändert wird.

„Da wir erst 15 Prozent der Abgeordneten stellen, schließen wir Bündnisse mit anderen Fraktionen, um unsere Sicht der Dinge durchzusetzen“, erläutert Paulo Freire, der Vorsitzende der evangelikalen Front. Am einfachsten geht das mit den katholischen Abgeordneten, die sich ebenfalls einer Liberalisierung der Sitten widersetzen. Man kann auch einen Kuhhandel abschließen: Heute unterstützt die Front das Agrobusiness, dafür unterstützen deren Anhänger morgen die Evangelikalen. „Und manchmal blockieren wir die Beschlussfähigkeit des Parlaments, indem wir bei besonders wichtigen Abstimmungen fehlen“, ergänzt Freire.

Während der Amtszeit von Dilma Rousseff erreichten die Evangelikalen, dass Material gegen Schwulenfeindlichkeit, das in den Schulen verteilt werden sollte, wieder zurückgerufen wurde, und sie verhinderten die Ausstrahlung eines Videos zur Aids-Aufklärung. Beim Thema Abtreibung konnten sie ebenfalls einige Erfolge verbuchen. „Anstatt Fortschritte zu machen, sind die Feministinnen nur noch damit beschäftigt, die mageren Rechte, die sie bereits erkämpft hatten, zu verteidigen“, meint Naara Luna von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro. „In den 1990er Jahren wiesen 70 Prozent der Gesetzesvorhaben zur Abtreibung in Richtung Legalisierung, in den 2000er Jahren zielten 78 Prozent in Richtung Verbot.“
Vom Bischof zum Fischereiminister

Im Wahlkampf von 2010 spielte die Abtreibungsdebatte eine wichtige Rolle. Zwischen beiden Wahlgängen sah sich Dilma Rousseff auf Druck der Religiösen gezwungen, in einem offenen Brief zu erklären, sie sei „persönlich“ gegen Schwangerschaftsabbruch. In diesem Jahr dreht sich die Diskussion hauptsächlich um die Ehe für alle. Marina Silvas Richtungswechsel in diesem Zusammenhang konnte ihr einen Teil der evangelikalen Wählerschaft sichern; aber der Eindruck, sie sei von den Evangelikalen abhängig, war für den Wahlausgang fatal. Die Evangelikalen umwerben, ohne Katholiken oder Konfessionslose abzuschrecken, war die Strategie aller Kandidaten.

Aber das konnte man auch schon vor zwölf Jahren beobachten: Als sich Lula da Silva 2002 zum vierten Mal zur Wahl stellte, nominierte er José Alencar als Vizepräsidenten. Der Millionär besaß nicht nur das Vertrauen der Wirtschaft, sondern war auch Mitglied der evangelikal ausgerichteten Liberalen Partei (PL). Seither wurde die Nähe der Arbeiterpartei (PT) zur Pfingstkirche größer, bis man schließlich auch Religiöse in die Regierung aufnahm. So leitete etwa Senator Marcello Crivella, Bischof der „Universal“ (und Neffe von Edir Macedo), zwischen Februar 2012 und März 2014 das Fischereiministerium.

Nach Ansicht von Figueredo Filho ist die Abgrenzung gegen die Evangelikalen pure Heuchelei. „Der Einfluss der Katholiken war früher auch groß, aber weniger sichtbar. Der Bischof konnte direkt zum Gouverneur gehen, während die Evangelikalen immerhin Abgeordnete wählen müssen“, sagt er. Die gesamte Presse berichtete darüber, als Präsidentin Rousseff und mehrere hochrangige Politiker am 31. Juli der Eröffnung des riesigen Salomontempels in São Paulo beiwohnten. Ihre Besuche im Vatikan werden dagegen heruntergespielt. „Die katholische Kultur ist in Brasilien fest verankert. Jetzt verändert sich die religiöse Landschaft, und das vor allem ruft die Kritik hervor.“

Ein Teil der Bevölkerung lehnt das Eindringen der Religiösen in die Politik ab; das könnte man mit der wachsenden Zahl der Konfessionslosen erklären, die keiner Kirche angehören (was nicht automatisch bedeutet, dass sie nicht gläubig sind). Bis in die 1970er Jahre betrug ihr Anteil weniger als 1 Prozent, 1991 waren es 4,7 Prozent, 2010 bereits 8 Prozent. Nach einer kürzlich abgeschlossenen Studie des Pereira-Passos-Instituts in den Favelas von Rio de Janeiro bezeichnete sich ein Drittel der Befragten in der Altersgruppe zwischen 14 und 24 als konfessionslos. Selbst in den evangelikalen Kirchen ist der Anteil der Gläubigen, die jede religiöse Institution ablehnen, zwischen 2000 und 2010 von 0,3 auf 4,8 Prozent gestiegen. Dieser Trend beschäftigt die Forscher besonders. „Es könnte ein Zeichen dafür sein, dass sich manche Evangelikale in den radikalen Reden ihrer Führer nicht wiederfinden“, mutmaßt Romero Jacob.

Auch wenn die Konservativen in der brasilianischen Gesellschaft weiterhin viel Einfluss besitzen, wird auf den Straßen immer öfter für die Rechte von Frauen und Homosexuellen demonstriert. „Jesusmärsche“ ziehen Tausende Menschen im ganzen Land an, aber das gilt auch für Homoparaden – der Christopher Street Day von São Paulo ist mit 3 Millionen Teilnehmern der größte der Welt. Inzwischen gibt es sogar evangelikale Gemeinden, die Homosexuelle aufnehmen. „Die Radikalität der religiösen Führer, ob Evangelikale oder Katholiken, ist auch eine Reaktion darauf, dass Brasilien sich trotz allem verändert und öffnet“, meint Maria Luiza Heilborn vom Zentrum für Sexualität und Menschenrechte an der Staatsuniversität Rio de Janeiro. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum in der Öffentlichkeit so heftig über die politischen Ambitionen der Religiösen diskutiert wird, bis hin zu der Frage nach der Trennung von Kirche und Staat.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Lamia Oualalou ist Journalistin in Rio de Janeiro.

Le Monde diplomatique Nr. 10534 vom 10.10.2014, Seite 10-11