Schlagwort-Archive: evangelisch-katholische Konsensdokumente

Die Reformation hinaustherapieren? Zur Kritik am gemeinsamen Dokument von EKD und DBK „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“. Von Martin Schuck

12/2016

Vor zehn Jahren wurde der Münchner Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Graf im Interview mit der „Zeit“ gefragt, welcher Feiertag ihm lieber sei: Weihnachten oder der Reformationstag? Graf antwortete, der Philosoph Hegel habe seinen besten Rotwein nicht an Weihnachten, sondern am Reformationstag aufgemacht, und er könne das gut nachvollziehen. Immerhin sei das der Tag, an dem daran erinnert werde, dass „die eine autoritäre Kirche entmachtet wurde“. Negativ gesagt, so Graf, sei das der Beginn der Kirchenspaltung, positiv formuliert beginne hier jedoch die Pluralisierung des Christentums, „aus der viele Freiheiten der Moderne erwachsen“. Außerdem werde daran erinnert, dass sich ein einzelner Geistlicher gegen die fast allmächtige Institution der Papstkirche gestellt habe und religiöse Autonomie einklagte.
Es ist schade, dass nach einem Jahrzehnt intensiver Vorarbeit auf das Reformationsjubiläum am Ende nichts anderes steht als der Versuch, die vor einem halben Jahrtausend aufgebrochenen und in den Transformationsprozessen der Neuzeit sich weiterentwickelnden Differenzerfahrungen des Christentums aus dem individuellen und kollektiven Bewusstsein hinaustherapieren zu wollen. Aber ein ganzes Jahrzehnt lang die Reformation als Gründungsimpuls für die evangelischen Kirchen zu feiern, konnte schließlich nicht gut gehen. Von dem Zeitpunkt an, als die katholische Kirche auf Beteiligung drängte, wäre eine grundlegende Besinnung notwendig gewesen: Will man sich auf die katholische Logik einlassen, wonach eine einseitig positive Würdigung der Reformation unmöglich sei, weil die „Kirchenspaltung“ schließlich kein Grund zum Feiern ist? Folgt man dieser Logik, liegt es tatsächlich nahe, die Reformation als Schuldgeschichte zu betrachten.
Aber es wäre eben auch anders gegangen: Jenseits der üblichen konsensökumenischen Gewohnheiten hätte auch eine Einladung an die katholische Kirche stehen können, ihrerseits mit den Protestanten zusammen darüber nachzudenken, welche Vorteile auch die katholische Kirche aus den durch die Reformation ausgelösten Modernisierungsprozessen ziehen konnte. Oder sehnt sich tatsächlich noch irgendein Katholik zurück nach der (katholischen) Einheitswelt des Mittelalters?
So aber müssen sich die Protestanten bei aller Vorfreude auf die großen Events eingestehen, dass sich in den theologischen Beiträgen und liturgischen Feiern die katholische Sicht durchgesetzt hat. Überdeutlich wird das auf Weltebene an jenem Ereignis, das durch das lutherisch-katholische Dialogdokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ (2013) ausgelöst wurde: nämlich der Besuch des Papstes in Lund am 31. Oktober 2016 zur Feier der Eröffnung des Reformationsjahres am Ort der Gründung des Lutherischen Weltbundes vor 70 Jahren. Die Begegnung mit Papst Franziskus sei auf lutherischer Seite „zentrales Element“ der „Gedenkveranstaltungen“, so bislang unwidersprochen der leitende Direktor des katholischen Johann-Adam-Möhler-Instituts in der evangelischen Zeitschrift „Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim“.
Kein Wunder also, dass sich auch in den nationalen Debatten die katholische Sicht vom „Gedenken“ an die Stationen einer „Schuldgeschichte“ durchgesetzt hat. Diese Haltung zu fördern, ist die Absicht des gemeinsamen Wortes des Rats der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz „Erinnerungen heilen – Jesus Christus bezeugen“. Als politisches Projekt zur Versöhnung der Menschen in Südafrika unmittelbar nach dem Ende der Apartheid und auch zur Beendigung des Bürgerkriegs in Nordirland war „Heeling of Memories“ ein sinnvolles Konzept. Auch die kirchliche Erprobung in Rumänien, wo verschiedene konfessionell geprägte Volksgruppen nach dem Ende des Kommunismus sich gegenseitig die Schuld für Verfehlungen in der Zeit der Diktatur vorwarfen, führte zu einer sinnvollen Aufarbeitung der Schuld von Menschen, die danach versöhnt miteinander weiterleben konnten.
Diesen Ansatz auf lange zurückliegende geschichtliche Ereignisse übertragen zu wollen, ist aber fragwürdig, weil vorausgesetzt wird, dass die heute Lebenden Handlungen von vor 500 Jahren als schuldhaft bewerten, obwohl diese im Bewusstsein der damaligen Akteure völlig legal waren und den damals geltenden Normen entsprechend durchgeführt wurden. So etwas könnte man als Arroganz der Nachgeborenen bezeichnen.
Völlig unerträglich wird es dann, wenn die Autoren die vor 500 Jahren sehr intensiv geführten theologischen Debatten um die Wahrheit des Evangeliums banalisieren, indem sie diese nur von ihren späteren Folgen her bewerten. Wenn gesagt wird, der Papst und die Bischöfe hätten damals nicht die Kraft gehabt, die Vorgänge in Deutschland und der Schweiz „angemessen einzuschätzen und konstruktiv zu reagieren“, und auf der anderen Seite sei „der Eigensinn der reformatorischen Bewegung stärker ausgeprägt als der Wille zur Einheit“, dann erscheint die Reformation als Folge von Trägheit, Eitelkeit und anderen moralischen Defiziten. Die Schuldgeschichte beginnt dann nicht bei den Religionskriegen, sondern bei der menschlichen Haltung der Reformatoren, die für ihre Vorstellung von Wahrheit die Einheit der Kirche verantwortungslos aufs Spiel gesetzt hätten. An anderer Stelle erscheinen die Reformatoren als theologisch ungebildet, weil sie nicht erkennen konnten, dass es bei dem als „Werkgerechtigkeit“ bewerteten Traditionsgut, „dass der Glaube durch die Liebe geformt werden müsse“, eigentlich „um eine umfassende gnadentheologische Anthropologie der Freiheit“ gehe. Die reformatorischen Theologen gingen „bei ihrer Kritik von ihrem eigenen Glaubensbegriff aus, ohne die spezifische Begrifflichkeit der Scholastik und des Konzils konstruktiv zu würdigen“.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wären die Theologen vor 500 Jahren so empathisch, klug und sensibel gewesen wie heutige Ökumeniker, dann hätte es keine Reformation, keine Kirchenspaltung und auch keine evangelischen Kirchen geben müssen, und die Einheit der abendländischen Christenheit unter dem Papst wäre erhalten geblieben. Das muss man als Protestant aber nicht unbedingt wollen.