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Gedenkjahr zum Beginn des Ersten Weltkriegs wirft seine Schatten voraus – von Prof. Jost Eschenburg

2014. Gedenkjahr für 1914, Beginn des Ersten Weltkriegs. Was kommt bei all dem Gedenken und Erinnern auf uns zu? Wird 2014 das Jahr der Geschichtsklitterer und -kleisterer, der Beschöniger und Verharmloser? So jedenfalls hat es angefangen. Prof. Jost-Hinrich Eschenburg parallelisiert die Angriffskriege 1914 und 2001 (Afghanistan). Er argumentiert und protestiert in einem Leserbrief auf Artikel zur Gedenkjahreröffnung der SZ und zeigt: wie Menschen die Geschichte deuten, so gestalten sie auch die Gegenwart. Eine neue Lernkultur würde uns weiter helfen.

Leserbrief zur Wochenendbeilage der SZ 3 (2014), 4./5.1.2014 besonders zum Interview „Schuld“ mit Herfried Münkler (S.10):

Es ist verdienstvoll von der Süddeutschen Zeitung, das wichtige Thema des Jahres 2014, den Ersten Weltkrieg, gleich zu Jahresbeginn aufzugreifen. Was genau war das Falsche am damaligen Denken und Handeln der verantwortlichen Politiker und Militärs, das zu dieser bis dahin größten Katastrophe aller Zeiten führte?

Leider geht es in dem Interview hauptsächlich darum, die absurde alte These von der deutschen Alleinschuld zurückzuweisen. Statt sich damit aufzuhalten müsste doch
jede beteiligte Nation ihren Anteil an dieser Katastrophe so präzise wie möglich aufarbeiten, wir Deutschen also den deutschen Anteil. Davon ist aber nicht die Rede. Vielmehr
geht es um Entlastung von einer Schuld, die heute noch Folgen hat: „Weil wir historisch schuldig sind, … dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen“, und als Beleg der angeblich schlimmen Konsequenzen dieses Denkens wird „das außenpolitische Desaster
Guido Westerwelles beim Eingreifen der Nato gegen den libyschen Diktator Gaddafi“ angeführt.

Das ist eine neue Tendenz, die auch in dem in der Wochenendbeilage zitierten Buch „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark zu beobachten ist. Dort heißt es (S.16): „Die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001 haben uns exemplarisch vor Augen geführt, inwiefern ein einzelnes, symbolträchtiges Ereignis … die Politik unwiderruflich verändern kann, indem es bisherige Optionen zunichte macht und neuen Optionen eine unvorhersehbare Dringlichkeit verleiht“. Allerdings, die USA haben sich 2001 genauso verhalten wie Österreich-Ungarn 1914: Auf das Verbrechen vom 11. September folgte das noch viel größere Verbrechen vom 7. Oktober, der Angriff auf Afghanistan. Ebenso folgte auf auf das Verbrechen vom 28. Juni 1914 das viel größere Verbrechen vom 28./29. Juli: die von Deutschland gedeckte österreichische Kriegserklärung an Serbien und der erste Angriff auf Belgrad. Man kann nur schwer das eine rechtfertigen und das andere verurteilen. Lieber äußert man wieder Verständnis für den Angriffskrieg, ein Rückfall hinter die UN-Charta.

Ein Fazit von Christopher Clark lautet: „So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen.“ (S.716) Dem ist scharf zu widersprechen: Die kollektive Planung des gewaltsamen Todes von Millionen von Menschen durch die damals Verantwortlichen in allen beteiligten Ländern war ein Verbrechen, das größte bis dahin begangene. Millionen
von jungen Leuten wurden zum Massenmord getrieben; wen wundert es da, dass einige von ihnen später freiwillige Massenmörder wurden? Sollte es nicht die vordringliche Aufgabe der Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg sein, das Denken zu erkennen, das in die Katastrophe geführt hat, damals wie heute?

Prof. Dr. J.-H. Eschenburg, Augsburg (die Wort-Meldungen danken für die Überlassung des

Leserbriefs)