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Der „wahre“ Islam und die Zumutung des Islamischen Staates. Von Martin Schuck.

Der Aufsatz ist zuerst erschienen als Editorial im Pfälzischen Pfarrerblatt 2/2015, 34-37.

Im Blick auf den islamistischen Terror taucht immer wieder die Versicherung auf, dieser habe nichts mit dem „wahren“ Islam zu tun. Begründet wird diese Behauptung damit, dass die überwiegende Mehrheit der Muslime Terror ablehne und in Frieden leben wolle. Diese Begründung ist allerdings wenig stichhaltig. Natürlich wollen die meisten Muslime, wie überhaupt die meisten Menschen, in Frieden leben. Auch in den Zeiten der Kreuzzüge im Mittelalter und in den Religionskriegen der frühen Neuzeit wollten die meisten Christen friedlich leben. Trotzdem werden gerade die Kreuzzüge von den Muslimen gerne als Argument herangezogen, um die friedliche Absicht des Christentums zu konterkarieren, und umgekehrt akzeptieren die Christen die Kreuzzüge als Teil ihrer nicht immer friedlichen Geschichte.
Allein dieser kurze Blick auf zwei widersprüchliche Sichtweisen macht deutlich: Das Friedenspotential einer Religion ist offensichtlich keine statische Größe, sondern unterliegt geschichtlichen Wandlungen. Weiterhin gibt es innerhalb einzelner geschichtlicher Epochen Ungleichzeitigkeiten innerhalb der Religion selbst. Im Falle des gegenwärtigen Islam widersprechen sich die kriegerische Erscheinungsweise in vielen Weltgegenden und der Friedenswille von 90 Prozent der Muslime keineswegs. Diese Ungleichzeitigkeit von Friedenswille und kriegerischer Absicht macht es unmöglich, verallgemeinernde Aussagen über das Verhältnis des Islam zu Krieg und Frieden, Terror und Gewaltlosigkeit sowie Despotismus und Rechtsstaatlichkeit zu treffen. All diese Phänomene existieren unter den anderthalb Milliarden Muslimen gleichzeitig, und auch die Frage der Mehrheitsverhältnisse ist nicht überall so eindeutig wie hierzulande; Rechtsstaatlichkeit etwa ist im gesamten Nahen und Mittleren Osten trotz einiger Versuche in der Vergangenheit bis heute weitgehend ein Fremdwort geblieben.
Irgendwo an der Grenze zwischen transnationaler Terrorbande und theokratischer Despotie ist der Islamische Staat (IS) anzusiedeln. Von einer reinen transnationalen Terrorbande wie Al-Qaida unterscheidet er sich durch die Strategie, zuerst die Umerziehung der „Ungläubigen“ in der muslimischen Welt vorzunehmen und dann erst den Dschihad in die restliche Welt zu tragen (während Al-Qaida mit dem Dschihad-Export beginnt). Mit einer theokratischen Despotie wie Saudi-Arabien verbindet den IS das Ziel eines islamischen Gottesstaates auf den Grundlagen der Scharia, und zwar in der denkbar strengsten Auslegung, wie sie nur von den wahhabitischen Rechtsschulen gelehrt wird. Der Unterschied zu Saudi-Arabien besteht eigentlich nur in den brutalen Methoden der Machtergreifung; diese Brutalität könnte jedoch nach einer Konsolidierungsphase geringer werden, wenn zur Machtsicherung die Zustimmung der Bevölkerung notwendig wird.
Wer theokratische Despotien wie Saudi-Arabien als gegenwärtige Verwirklichungsform des Islam akzeptiert – und die Nachrufe auf den kürzlich verstorbenen König Abdullah von den wichtigsten Politikern der westlichen Welt legen nahe, dass dies auf breiter Front der Fall ist –, kann kaum glaubhaft behaupten, dass der IS überhaupt nichts mit dem Islam zu tun haben soll. Blendet man einen Augenblick die Brutalität des IS aus, kann man Abu Bakr al- Baghdadi, den Führer des IS, beim Versuch beobachten, auf dem Gebiet zweier auseinanderfallender Staaten eine neue Form von Staatlichkeit wieder herzustellen. Um es deutlich zu sagen: Al-Baghdadi, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri heißt und 1971 im irakischen Samarra geboren wurde, kennt die Grundlagen des Islam besser als die meisten seiner Gegner. 2007 wurde er in Bagdad im Islamischen Recht promoviert, und er baut den IS mit dem großmäulig vorgetragenen Anspruch eines „Kalifats“ nach dem Muster anderer islamischer Staaten auf. Er hat mit Abu Ali al-Anbari und Abu Muslim al-Turkmani zwei ehemalige Generäle der Armee Saddam Husseins als Stellvertreter, die für die Provinzen in Syrien und Irak zuständig sind. Die drei Personen bilden zusammen das Emirat, dem neun Räte – mit Ministerien vergleichbar – unterstehen: der Führungsrat, der Schura-Rat (zuständig für religiöse Angelegenheiten), der Militärrat, der Rechtsrat, der Sicherheitsrat, der Geheimdienstrat, der Finanzrat, der Rat zur Unterstützung der Kämpfer sowie der Medienrat. Unterhalb dieser Regierungsebene gibt es zwölf Gouverneure in den sieben syrischen und fünf irakischen Provinzen des IS.
Die bisherige Entwicklung zeigt, dass der IS in seiner Entstehung ein Produkt des Irakkrieges und in seiner rasanten Ausbreitung im vergangenen Jahr eine Folge des syrischen Bürgerkrieges ist. Abu Bakr al-Baghdadi wurde 2004 für zehn Monate im US-Gefangenenlager Camp Bucca im Süden des Irak inhaftiert. Dort saß er zusammen mit Generälen und Geheimdienstleuten des Saddam-Regimes ein; fast die gesamte Führungsriege des IS lernte sich in Camp Bucca kennen. 2006 wurde dann im Irak der „Islamische Staat“ ausgerufen. Der Gründungsaufruf des ISI, wie sich die Gruppe fortan nannte, ist ein 16-Punkte-Katalog des klassischen Wahhabismus, in dem unter anderem betont wird, nach einem Spruch Mohammeds im Hadid, also der Überlieferung der Prophetensprüche, müssten Muslime von einem Muslim regiert werden. 2010 wurde Al-Baghdadi von seinen Gefährten zum Emir gewählt.
ISI verstand sich anfangs als Teil des Al-Qaida-Netzwerkes und vergrößerte sein Einflussgebiet im Irak. Im Syrien beteiligte sich Al-Qaida mit seiner Untergruppe Jabat al-Nusrah am Bürgerkrieg. Anfang 2013 mischte sich ISI ebenfalls in den syrischen Bürgerkrieg ein und nannte sich fortan ISIS. Im Oktober 2013 erklärte Al-Baghdadi den Zusammenschluss von ISIS und Al-Nusrah, gegen den Willen der Führung von Al-Nusrah und ohne Al-Qaida vorher gefragt zu haben. Nachdem der Aufruf des Al-Qaida-Führers Al-Zawahiri zur Einigung unerhört geblieben war, trennte sich Al-Qaida von ISIS. Seither distanziert sich Al-Qaida von der brutalen Unterdrückung der Bevölkerung durch ISIS. Am 29. Juni 2014 erklärte Al-Baghdadi das gesamte von ISIS besetzte Territorium zum Kalifat und nannte die Terrorgruppe um in IS, was den Anspruch untermauern sollte, den „Islamischen Staat“ eben nicht nur im Irak und in Syrien verwirklichen zu wollen, sondern weltweit.
Der IS ist ein neuer Machtfaktor im Nahen Osten, und sein Aufstieg zeigt deutlich, dass es sinnlos ist, unter dem Siegel des Islam auftretende radikale politische Verbände von einem „wahren“ Islam trennen zu wollen. Genauso wie das wahhabitische Saudi-Arabien und der schiitische Iran ist auch der „Islamische Staat“ im Norden Syriens und Iraks eine Realität, die den gegenwärtigen Machtanspruch des Islam abbildet und – wie der fast alle europäischen Länder betreffende Dschihad-Tourismus zeigt – eine enorme Anziehungskraft vor allem auf zum Islam konvertierte Jugendliche und junge Erwachsene ausübt. Soll der christlich-muslimische Dialog den Anspruch haben, über das reine Gespräch hinaus einen praktischen Nutzen zu bringen, muss er auch den dschihadistischen Islam als Realität akzeptieren – zumal diese Ausprägung des Islam auch das zukünftige Zusammenleben zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Bevölkerung hierzulande möglicherweise stärker prägen wird als dies gegenwärtig der Fall ist.
In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die These des US-amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington (1927 bis 2008) vom „Clash of Civilisations“ wieder neu in die Diskussion gekommen ist. Huntington hatte 1993 zunächst in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ und dann 1996 in einem voluminösen Buch die These vertreten, dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Weltpolitik nicht mehr von ideologischen Auseinandersetzungen bestimmt werde, sondern von Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen. „Die großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts heißen Liberalismus, Sozialismus, Anarchismus, Korporatismus, Marxismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Konservatismus, Nationalismus, Faschismus, christliche Demokratie. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind Produkte der westlichen Kultur. Keine andere Kultur hat eine signifikante politische Ideologie erzeugt. Der Westen hingegen hat niemals eine große Religion hervorgebracht. Die großen Religionen der Welt sind ausnahmslos in nichtwestlichen Kulturen entstanden und in den meisten Fällen älter als die westliche Kultur. In dem Maße, wie die Welt ihre westliche Phase hinter sich lässt, verfallen die Ideologien, die für die späte westliche Zivilisation typisch waren, und an ihre Stelle treten Religionen und andere kulturell gestützte Formen von Identität und Bindung. Die im Westfälischen Frieden etablierte Trennung von Religion und internationaler Politik, ein ureigenes Ergebnis westlicher Kultur, geht zu Ende, und die Religion wird, wie Edward Mortimer vermutet, ‚mit zunehmender Wahrscheinlichkeit in die internationalen Angelegenheiten eindringen’. Die intrakulturelle Auseinandersetzung um die politischen Ideen aus dem Westen wird abgelöst von einer interkulturellen Auseinandersetzung um Kultur und Religion.“
Huntingtons Analyse lagen Beobachtung von sogenannten „Bruchlinienkriegen“ zugrunde in Regionen, wo verschiedene Kulturkreise aufeinanderstoßen. Dabei kam dem Islam aufgrund der signifikanten Häufigkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen eine Schlüsselstellung zu. Huntington formulierte in seinem Essay in „Foreign Affairs“ den Satz: „Der Islam hat blutige Grenzen.“ Aufgrund der Kritik, die ihm dieser Satz einbrachte, untersuchte Huntington sämtliche Konflikte der frühen 1990er Jahre und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: „Muslime waren 1993/94 an 26 von 50 ethnopolitischen Konflikten beteiligt […]. 20 dieser Konflikte spielten sich zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Kulturen ab, davon 15 zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Es gab dreimal so viele interkulturelle Konflikte, an denen Muslime beteiligt waren, als Konflikte zwischen sämtlichen nichtmuslimischen Kulturen. Auch die intrakulturellen Konflikte waren im Islam zahlreicher als in jeder anderen Kultur einschließlich afrikanischer Stammeskonflikte. […] Konflikte mit Beteiligung von Muslimen waren auch tendenziell besonders verlustreich.“ Am Ende steht das Fazit: „Muslimische Kriegslust und Gewaltbereitschaft sind Ende des 20. Jahrhunderts eine Tatsache, die weder Muslime noch Nichtmuslime leugnen können.“
Seltsamerweise wird Huntingtons These gerade im Blick auf den IS zu widerlegen versucht. So schreibt etwa Sebastian Harnisch in der Zeitschrift „Internationale Politik und Gesellschaft“, der „Konflikt mit ISIS in Syrien und im Irak“ sei „kein Zivilisationskonflikt – auch wenn ISIS das gerne so darstellt“. In erster Linie sei es eine Auseinandersetzung „mit einer transnationalen Rebellengruppe, die die bestehende staatliche Ordnung durch einen religiösen Kalifatsstaat fundamentalistischer Prägung ersetzen will. ISIS hat in der Vergangenheit wesentlich mehr gemäßigte Muslime anderer Konfessionen getötet als Angehörige anderer ‚Zivilisationen’.“
Harnisch hätte mit diesen Ausführungen Huntington dann widerlegt, wenn dieser den Islam als monolithischen Block betrachtet hätte. Tatsächlich sind jedoch die „intrakulturellen“ Konflikte innerhalb des Islam Teil seiner Analyse, wenn er etwa den Revolutionsexport aus dem wahhabitisch verfassten Saudi-Arabien nach Bosnien beschreibt. Die Radikalisierung des bis dahin gemäßigten bosnischen Islam wirkte im damaligen Krieg um die Neuordnung des zerfallenden Jugoslawien wie ein Brandbeschleuniger. Tatsächlich hatte Huntington vor 20 Jahren die damals bekannten Fakten richtig gedeutet: Nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung entstand ein ideologisches Vakuum, und in fast allen Ländern mit muslimischer Bevölkerung gab es früher oder später Versuche, islamistische Parteien oder von islamistischen Staaten finanzierte Milizen in die nationale Politik einzuschleusen. Taliban, Hamas und Hisbollah waren nicht der Anfang, genauso wenig wie Boko Haram in Nigeria, al-Shabaab in Somalia, Abu Sayyaf auf den Südinseln der Philippinen und der Islamische Staat das Ende sind – sie markieren lediglich eine neue Eskalationsstufe.

vgl. den Artikel von Sebastian Harnisch: Clash of ignorance.