24.01.2015; Olivier Roy ist französischer Professor für Politikwissenschaften am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.
Es arbeiten mehr Muslime …
… für die französischen Sicherheitsdienste als für al-Qaida. Doch das will niemand wissen…
Die Frage nach dem Zusammenleben hatte sich bereits vor dem Attentat auf Charlie Hebdo gestellt, aber sie war noch „lokalisierbar“: die populistische Obsession gegen die Einwanderung, die Ängste einer konservativen Rechten oder die Religionsfeindschaft von linker Seite, die sich in einen Identitätsdiskurs verwandelt hat, den der Front National (FN) sich angeeignet hat.
Doch nun hat sich die Debatte über Islam und Muslime in Frankreich (nein, es handelt sich nicht um einen französischen 11. September – ein bisschen Haltung und Zurückhaltung bitte!) verselbstständigt. Vereinfacht gesagt, dominieren zwei Diskussionen den öffentlichen Raum. Der bestimmende Diskurs … geht davon aus, dass Terrorismus ein extremer Ausdruck des „wahrhaften“ Islam ist. Dieser lässt sich auf die Ablehnung des Anderen zurückführen zugunsten der religiösen Norm (Scharia) und des Dschihad…
Die Haltung wiederum, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann und die ich als „islamprogressiv“ bezeichnen würde, wird von mehr oder weniger gläubigen Muslimen und vor allem der antirassistischen Bewegung „Nicht in meinem Namen“ vertreten: Der Islam der Terroristen ist nicht mein Islam, ja es ist überhaupt kein Islam, denn der ist eine Religion des Friedens und der Toleranz. (Das übrigens ist ein Problem für die vielen Atheisten muslimischen Ursprungs, die zwischen dem Verdammungsüberangebot des Fundamentalismus und der Nostalgie eines „andalusischen“ Islam, den es nie gab, schwanken.)
Die wirkliche Bedrohung hier ist die Islamfeindlichkeit und die darüber legitimierte Ausgrenzung, ohne dass dabei die Radikalisierung der Jugendlichen entschuldigt wird. Die Aneinanderreihung beider Erzählungen und Diskussionen führt in die Sackgasse…
Trotzdem hört man nicht auf, von der famosen muslimischen Gemeinschaft zu sprechen, bei den Linken wie bei den Rechten – sei es, um den Integrationswillen von Muslimen zu denunzieren, sei es, um Opfer der Islamophobie zu konstruieren.
Die einander entgegengesetzten Diskurse vereinen sich im gemeinsamen Phantasma von einer imaginären muslimischen Gemeinschaft. Doch genau die gibt es nicht. Es gibt nur eine muslimische Bevölkerung. Allein diesen einfachen Umstand zur Kenntnis zu nehmen wäre ein wichtiger Schritt gegen die gegenwärtige Hysterie und gegen die, die noch kommen wird.