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Die Achtundsechziger und der Verlust der kulturellen Hegemonie. Von Martin Schuck

03/2018

Die Vorstellung, menschliche Gesellschaften, die eine Phase der Aufklärung durchlebt haben, würden sich kontinuierlich in Richtung auf humanitären Fortschritt hin entwickeln, gehört zu den hartnäckigsten Mythen der Neuzeit. Diesen Mythos haben bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten „Dialektik der Aufklärung“ destruiert. Man braucht deshalb diesem Mythos nicht mehr anzuhängen und kann die Dinge klarer sehen. Klar sehen kann man deshalb, dass jene kulturelle Innovation, die mit der Jahreszahl 1968 verbunden ist, zwar in weiten Bereichen zur Durchsetzung gekommen ist, aber gegenwärtig von einer erstarkenden Gegenbewegung zurückgedrängt wird.
Wagen wir deshalb eine zweiteilige These. Zum ersten: All diejenigen politischen und kulturellen Vorstellungen der Achtundsechziger, die nicht vom damals verbreiteten kommunistischen Zeitgeist geprägt, sondern an allgemeine Bedürfnisse anschlussfähig waren, sind innergesellschaftlich zum Durchbruch gekommen und prägen das heutige öffentliche Leben einschließlich der politischen Debatten. Dazu gehören die vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter, die Liberalisierung der Sexualität, Demokratisierung auf allen Ebenen sowie der Verzicht auf Diskriminierung von Menschen aufgrund besonderer Merkmale. Diese Errungenschaften konnten in der Nachkriegszeit allenfalls als Forderungen einzelner Personen oder gesellschaftlicher Gruppen vorgetragen werden und bedurften einer kulturellen, weit über das Politische hinausgehenden Bewegung, um den Weg in die Mehrheitsgesellschaft zu finden. Dieses zu leisten, war zunächst die politische Funktion der „außerparlamentarischen Opposition“, weitergehend aber bedurfte es des sog. „Marschs durch die Institutionen“, um es Repräsentanten der Bewegung zu ermöglichen, deren Forderungen in den Machtzentren vorzutragen und in konkrete politische Entscheidungen umzusetzen.
Was in den Jahren nach 1968 geschah, kann als eine Kulturrevolution bezeichnet werden, die deshalb langfristig Erfolg hatte, weil es den Achtundsechzigern gelungen war, eine kulturelle Hegemonie zu schaffen, der ihre Gegner, die nach dem Ende der Adenauer-Ära geschwächten und kurzzeitig orientierungslos gewordenen Konservativen, nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Das Konzept der Schaffung einer kulturellen Hegemonie geht zurück auf die Theorie des italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci. Dieser hatte erkannt, dass jede Bewegung, die auf Hegemonie hinarbeitet, zunächst ihre Ideen im vorpolitischen, vor allem im kulturellen Bereich so in Stellung bringen muss, dass sie auf die Einstellungen einer breiten Masse zwingend wirken und deshalb letztlich auch die politischen Entscheidungen in diese Richtung lenken. Gramsci dachte im Kontext des faschistischen Italiens selbstverständlich an eine kulturelle Hegemonie von links, und genau in diese Richtung sind ihm die Achtundsechziger, für die Gramsci ein wichtiger Theoretiker war, auch gefolgt. So weit der erste Teil meiner These.
Der zweite Teil geht so: Weil die Repräsentanten der Bewegung so erfolgreich waren, dass ihre Forderungen heute zu politischen und kulturellen Selbstverständlichkeiten geworden sind, hat sich die Bewegung in die bestehenden politischen und kulturellen Institutionen hinein verflüchtigt; die Folge war, dass die früheren Repräsentanten der Bewegung in ihrem späteren Leben die Rolle der Repräsentanten des Staates oder der Träger des kulturellen Establishments ausfüllen mussten. Damit erscheinen sie als konservativ, denn es geht ihnen um den Erhalt von Errungenschaften, die zwar das Ergebnis erbitterter kultureller Kämpfe darstellen (beispielsweise die Homoehe), aber durch den Status einer neuen Normativität natürliche Abwehrreaktionen bei denen erzeugen, die eine Weltsicht haben, die dem nachachtundsechziger Zeitgeist entgegensteht.
Von daher gibt es seit der absehbaren Durchsetzung des kulturellen Forderungskatalogs der Achtundsechziger als verbindliche Inhalte politischen Handelns (ein Prozess, der mit dem Beginn der Kanzlerschaft Gerhard Schröders einen gewaltigen Schub nach vorne bekommen hat und unter den diversen Regierungen Angela Merkels nicht gestoppt wurde) eine Gegenbewegung, die ihrerseits nach kultureller Hegemonie strebt und, wenn sie bereit ist von den Achtundsechzigern zu lernen (worauf vieles hindeutet), diese auch erreichen kann.
So weit meine These, deren Stichhaltigkeit ich gerne durch einige Beobachtungen untermauern möchte. Die Existenz einer neuen Bewegung, die nach kultureller Hegemonie strebt, wird vom offiziellen Politikbetrieb der Bundesrepublik Deutschland nicht nur nicht geleugnet, sondern sogar – möglicherweise unbewusst – zum Ausgangspunkt politischen Denkens gemacht. So hat der Politologe Albrecht von Lucke in einem Beitrag in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ eine Bemerkung des CSU-Politikers Alexander Dobrindt aufgegriffen, der im „heute journal“ gesagt haben soll, die CSU müsse, wie es bereits Franz Joseph Strauß gefordert habe, „an der Spitze der Bewegung marschieren“. Das, so von Lucke, sei erstaunlich, denn Strauß habe nie von einer Bewegung gesprochen, sondern folgendes gesagt: „Konservativ heißt, nicht nach hinten blicken, konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren.“
Tatsächlich hat sich Strauß damit in eine Tradition alteuropäischen konservativen Denkens gestellt, die sich durchaus aufgeklärt auf die Seite des Fortschritts gestellt hat, diesen aber so gestaltet wissen wollte, dass herkömmliche Traditionen, Einstellungen und Lebenswelten erhalten bleiben können. Wenn Dobrinth dagegen an der Spitze einer Bewegung marschieren will, hat das wenig mit Konservativismus zu tun, sondern ist eine Handlung innerhalb einer irgendwie beabsichtigten Revolution. Revolutionen, das zeigt die Geschichte, sind aber nicht immer dem humanitären Fortschritt verbunden, sondern können, wie die faschistischen Umstürze im 20. Jahrhundert in einigen europäischen Ländern zeigen, auch in die andere Richtung gehen.
Genau hier befindet sich die Schnittstelle zu denjenigen Kräften, die eine komplette Richtungsänderung der politischen und kulturellen Entwicklung des vergangenen halben Jahrhunderts fordern. Nicht nur der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, seit einiger Zeit beliebter Gesprächspartner hoher CSU-Politiker, sondern auch sich in der „Identitären Bewegung“ sammelnde Rechtsradikale haben es sich zum Ziel gesetzt, erreichte Standards rückgängig zu machen – sei es in der europäischen Flüchtlingspolitik oder im Neueinstieg in völkisches Denken, das in den politischen Diskursen bisher keine Rolle mehr gespielt hat.
Wenn nun Alexander Dobrinth mit dem Gedanken einer „konservativen Revolution“ (auch diese Vorstellung gab es in den 1920er Jahren schon einmal) spielt, gerät er in gefährliche Nähe zu den Vertretern der „Identitären Bewegung“, die gerade dabei sind, Antonio Gramsci in ihre Richtung zu interpretieren und offen nach der kulturellen Hegemonie streben. Wie weit sie damit gekommen sind, zeigt der Fall Dobrinth, der den Konservatismus bereits als Teil einer Bewegung nach rechts versteht.
Schaut man bei einschlägigen literarischen Vertretern der „Identitären Bewegung“ nach, lässt sich feststellen, dass diese wenig Interesse an den Inhalten des klassischen konservativen Denkens haben und konservative Politiker allenfalls als Steigbügelhalter benutzen. Einer ihrer Vordenker, der Publizist Alex Kurtagic, will ganz andere Denktraditionen anzapfen: „Die Rechte muss ihre Träumer und Randfiguren, ihre Exzentriker und politischen Romantiker in Ehren halten und genau beobachten. Der kühne Wurf gelingt nicht dort, wo Vorsicht und Vernunft walten.“ Konservative haben in dieser Weltsicht, die nach dem „kühnen Wurf“ sucht, keinen Platz: „Die Rechte muss sich von den Konservativen lösen. Letztere sind nur anders angepinselte Liberale und verlieren alles – nur eben langsamer.“

Der utopische Anarchismus des frühen Ernst Bloch. Von Martin Schuck

09/2017

Der Sozialphilosoph Oskar Negt schrieb im Jahr 1972, also noch zu Lebzeiten Ernst Blochs, Bloch sei „der deutsche Philosoph der Oktoberrevolution“; das sollte in Analogie zu Immanuel Kant verstanden werden, den Karl Marx als den deutschen Theoretiker der französischen Revolution bezeichnete. Negt selbst, so urteilte der Philosoph Werner Wild in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ (8/2017), weise schon darauf hin, dass sich die Haltung Blochs zur Oktoberrevolution nicht aus dessen Werk begründen lasse und somit andere Faktoren den Ausschlag gegeben haben müssen.
Wild, Vizepräsident der Ernst-Bloch-Gesellschaft, bezieht sich auf Äußerungen Blochs aus den Jahren 1936 und 1937, als dieser im Prager Exil die damaligen Moskauer Prozesse unter Stalin verteidigte und damit, nachdem in den frühen 70er Jahren eine Neuedition der Schriften Blochs bei Suhrkamp erschien, noch einmal eine heftige Debatte über dessen Nähe zum Stalinismus entfachte. Über den Hintergrund der Haltung Blochs in den 30er Jahren kann Wild allerdings nur spekulieren und ordnet sie in einen größeren Zusammenhang ein, der mit Blochs schon früh ausgedrückter Warnung vor dem Faschismus beginnt. Bloch habe als einer der ersten die Gefahr des Faschismus erkannt, was ihn in der Weimarer Republik näher an die Seite des Parteikommunismus geführt habe, so die Argumentation. Ähnlich wie Lion Feuchtwanger, der mit Stalin persönlich im Gespräch war, habe auch Bloch erkannt, dass der Parteikommunismus notwendiger Bestandteil eines internationalen Volksfrontbündnisses gegen den Faschismus sei, und dass deshalb dieses Bündnis auf die politische und militärische Macht der Sowjetunion angewiesen sei. Die Plausibilität dieser Vermutung wird, ohne dass Wild dies explizit ausdrückt, durch die Tatsache untermauert, dass die republikanischen Kräfte im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 von diesem internationalen Volksfrontbündnis, zu dem auch das „Thälmann-Bataillon“ der KPD gehörte, unterstützt wurde, und dass auch die KPdSU zu diesen Unterstützern gehörte.
So ergibt sich eine Erklärung für die wohl problematischste Phase im Leben Ernst Blochs, nämlich die Unterstützung der sowjetischen Spielart des Parteikommunismus, die irgendwann zu Beginn der 30er Jahre ihren Anfang nahm, ihn nach dem Krieg auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Leipzig führte – den er, nebenbei bemerkt, dem Angebot, im „Frankfurt Adornos“ zu lehren, vorzog – und erst mit seiner Zwangsemeritierung 1957 endete. Die nach seiner Übersiedlung in den Westen 1961 beginnende Lehrtätigkeit in Tübingen führte Bloch wieder weg vom orthodoxen Kommunismus, ohne dass er deshalb den marxistischen Grundzug in seinem Denken aufgegeben hätte. Das unterscheidet den „späten“ Bloch vom ganz frühen, der sich mit seinem utopischen Messianismus eher an theosophischen und anarchistischen Theoretikern orientierte. Sein Hauptwerk, das ab 1954 veröffentlichte „Das Prinzip Hoffnung“, bildet gewissermaßen ein Scharnier zwischen beiden Phasen, denn von diesem Zeitpunkt ab wird in der DDR vom „verderblichen Einfluss von Blochs Philosophie“ gesprochen – eben weil er auf die utopistischen Theorien seiner Frühzeit zurückgreift. Dabei wurde das 1700 Seiten starke Werk vollständig vor seiner Lehrtätigkeit in der DDR geschrieben, nämlich ab 1938 im New Yorker Exil. Gemeinsam mit Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bertold Brecht und Heinrich Mann gründet er dort mit dem Aurora-Verlag einen Selbstverlag der deutschen Exilliteraten und schreibt in der ebenfalls von Exilanten gegründeten Zeitschrift „Freies Deutschland“. Zur gleichen Zeit entsteht in Los Angeles die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor Adorno und Max Horkheimer, und am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, schreibt der ehemalige österreichische Volksschullehrer und Neopositivist Karl Raimund Popper „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, das nach dem Krieg zum Klassiker des Kritischen Rationalismus werden sollte.
Nun fallen 2017 der 40. Todestag Ernst Blochs (am 4. August) und das 100. Jubiläum der Oktoberrevolution so zusammen, dass ein gemeinsames Gedenkjahr möglich wäre. Von daher ist es interessant zu fragen, wie denn die zeitgenössische Beurteilung der Oktoberrevolution durch Bloch erfolgte. Das nötigt zu einem Blick auf das frühe Werk Ernst Blochs und, mehr noch, auf die Einflüsse und Lebensumstände, die ihn damals geprägt haben.
Bloch wurde am 8. Juli 1885 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Eisenbahnunternehmers in Ludwigshafen geboren. Eines seiner Urteile über Ludwigshafen lautet: „Da liegt, nein da fährt nun die häßliche Stadt, aber sie spektakelt so roh, Geld kreist und die IG-Farben dampfen. Da ist etwas zur Front geworden, die alles an den Tag legt und sich nicht mehr gebildet geniert“ – eine Anspielung auf die „rohe“ Alltagsseite des Kapitalismus. Bloch studierte Musik, Philosophie und Physik und promovierte 1908 nach nur sechs Semestern (was aber damals nicht unüblich war) in Philosophie über den Neukantianer Friedrich Rückert. Prägende Lehrer waren Georg Simmel in Berlin, Max Weber und Karl Jaspers in Heidelberg (Jaspers allerdings eher im Negativen); wegweisend in Heidelberg war der Beginn der Freundschaft mit dem gleichaltrigen späteren Volkskommissar der (gescheiterten) Ungarischen Revolution von 1919, Georg Lukács, der später als einer der führenden kommunistischen Philosophen Werke wie „Geschichte und Klassenbewusstsein“ und „Die Zerstörung der Vernunft“ schrieb.
Ernst Bloch ist, im Gegensatz zu seinem Freund Lukács, vor 1920 kein Marxist, bedient sich allenfalls hin und wieder einiger philosophischer Gedanken von Karl Marx. Wichtiger sind ihm Kurt Eisner und Gustav Landauer, beide herausragende Repräsentanten der Münchner Räterepublik und Landauer überdies anerkannter Kopf des deutschen Anarchismus. Beide wurden 1919 ermordet – vom selben Täterkreis, der auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet hatte.
Aber noch ein ganz anderer Einfluss wirkte prägend auf die frühe Philosophie Ernst Blochs: Es war der Kreis um Gustav Arthur (genannt: Gusto) Gräser, einem aus Siebenbürgen stammenden Künstler, der als „Vater der Aussteigerbewegung“ gilt. Gräser war Mitbegründer der Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona im Schweizer Kanton Tessin, einer Art frühen Hippie-Kommune. In den Jahren nach 1900 entstand dort eine von theosophischen Ideen inspirierte „Naturheilanstalt“, die zunächst genossenschaftlich organisiert war. Im Laufe der Jahre entwickelte sich das ursprüngliche landwirtschaftliche Siedlungsprojekt zu einer Künstlerkolonie, die sehr viele unterschiedliche Charaktere aus ganz Europa anzog. Ab 1904 kam der politische Aktivist und Pazifist Erich Mühsam auf den Monte Verità, später, während des Ersten Weltkriegs, der russische Anarchist Michail Bakunin, einer der ersten prominenten Opfer der Oktoberrevolution, Robin Christian Andersen, der spätere Lehrer von Friedensreich Hundertwasser, die Dadaisten Hugo Ball, Emmy Hennings und Hans Richter, der Maler und Mythopoet Hans Arp sowie die Schriftsteller Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse – und eben auch Ernst Bloch.
Bloch wurde in dieser Zeit Anhänger von Gusto Gräser und dessen Freundin Albine Neugeboren, in deren Haus er 1917 sein erstes größeres Werk „Geist der Utopie“ fertig stellte. In diesem Jahr entstand auch ein Essay mit dem Titel „Über den sittlichen und geistigen Führer“, wobei er Gräser als den sittlichen und sich selbst als den geistigen Führer zeichnete. Auch beschäftigte er sich in dieser Zeit mit Thomas Münzer, den er den „Theologen der Revolution“ nennt; sein Münzer-Buch erscheint dann 1921.
Ernst Bloch, der sich selbst als atheistisch bezeichnet, entwirft in seinem frühen Werk einen utopischen Revolutionsbegriff, der stark von Gustav Landauer geprägt ist, sich aber an einer bestimmten Stelle von diesem absetzt. Landauer entwickelt eine geschichtsphilosophische Skizze, die mit den Begriffen Topie und Utopie arbeitet. Topie ist dabei ein stabiler gesellschaftlicher Zustand, der mit der Zeit seine Stabilität verliert und Ungerechtigkeiten zulässt. Diese Ungerechtigkeiten lösen eine Revolution aus, und diese kurze Phase der Revolution kann als Utopie bezeichnet werden, die dadurch an ihr Ziel gelangt, dass sie wieder eine neue Topie herstellt. Der Anarchist Landauer will nun diesen Kreislauf durchbrechen, was aber nur möglich ist, wenn ein bestimmter Geist über die Menschen kommt, den er, noch ganz im Sinne der Romantik, als einen einheitsstiftenden Geist begreift, den er mit der Rolle des Christentums und dessen Ständeordnung im Mittelalter vergleicht. In seinem Werk „Die Revolution“ sieht Landauer die Utopie durch zwei Momente gekennzeichnet, nämlich durch die „Reaktion gegen die Topie, aus der sie erwächst, und aus der Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien“. So sind für Landauer Revolution und Utopie faktisch in eins gesetzt, während für Bloch „die Utopie Movens der Revolution im Sinne einer Einheit von Erinnerung des Möglichen, des Noch-nicht-Gewordenen, Erbschaft, Wille, Tagtraum nach vorwärts“ (Werner Wild) ist.
In Thomas Münzer als Revolutionär sieht Bloch deshalb genau das, was der (gescheiterten) deutschen und der russischen Revolution fehlt, nämlich die „revolutionär-religiöse Erinnerung […], jenes Geheime, noch Latente, das Marx übersah“, das aber letztlich „zum Sozialismus treibt“. Im Blick auf die russische Oktoberrevolution kann Bloch deshalb sagen, „Christus werde in Rußland erstmals als Cäsar eingesetzt“. Aus seiner anarchistischen Kritik heraus sieht er deshalb, Wild zufolge, eine „kasernenmäßig totale Arbeitsorganisation“ mit einem „autoritären Fabriksystem“ am Entstehen.
Es kann also festgehalten werden, dass der frühe Ernst Bloch, dessen wichtigsten Einflüsse aus dem Bereich des utopischen Anarchismus, der Aussteigerbewegung und der Theosophie kamen, kein Philosoph der Oktoberrevolution, sondern eher einer ihrer scharfsichtigsten Kritiker war. Zu deren philosophischem Apologeten wurde er erst mit seiner Hinwendung zum Marxismus nach 1920.

Der Todestrieb als Antrieb der Geschichte Christentum und Psychoanalyse bei Peter Sloterdijk. Von Martin Schuck

07/2017

Peter Sloterdijk, der am 26. Juni seinen 70. Geburtstag feiert, übernimmt seit Jahren die Rolle des derzeit einzigen ernstzunehmenden Religionskritikers aus der Reihe der Philosophen. Natürlich wandelt er dabei deutlich vernehmbar in den Spuren Nietzsches, aber er reproduziert nicht einfach dessen Position, sondern pflegt eine eigene Form von Originalität. Diese besteht in wesentlichen Punkten darin, Erkenntnisse der Psychoanalyse, die er in gewisser Weise als eine säkulare, nicht-metaphysische Schrumpfform des Christentums betrachtet, mit religiösen, was bei ihm immer bedeutet: metaphysisch aufgeladenen, Aussageformen abzugleichen und beider Untauglichkeit zur Bewältigung realer Problemlagen aufzuzeigen.
In einem seiner frühen Bücher, dem 1993 erschienenen „Weltfremdheit“, findet sich folgende Passage: „So scheinen sich Christentum und Psychoanalyse, idealtypisch kontrastiert, zueinander zu verhalten wie zwei rivalisierende Kurssysteme, die zumindest soviel gemeinsam haben, daß sie ihre Erfolge mit potentiell absurden und lebensbedrohlichen Nebenwirkungen erkaufen. Die christliche Kur setzt auf die Heilkraft des Glaubens an das schlechthin Unwahrscheinliche […] und läßt es darauf ankommen, den Kampf um die Chancen des gegenwärtigen Lebens zu versäumen; die analytische Kur hingegen erwartet alles von der Heilkraft des Aussprechens bitterer Wahrheiten – bis hin zum Explizitmachen der unsäglichen Triebtendenz, die den ‚Tod’ als gründlichste Heilung ansieht.“
Die Passage ist Teil eines Kapitels mit dem Titel „Wie wurde der ‚Todestrieb’ entdeckt? Zu einer Theorie der seelischen Endabsichten mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Jesus und Freud“. Findet sich in obigem Zitat die Rolle von Jesus und Freud bereits angedeutet, nämlich als Produzenten von falschem Bewusstsein, so geht Sloterdijk mit Sokrates wesentlich gnädiger um. Zumindest bis zu Nietzsches Dekonstruktion des Platonismus war dieser für Sloterdijk ein gangbarer Weg, „dem philosophischen Wahnsinn ein symbolisches Strombett zu graben“. So besaß Europa dank Platon „für die Tendenz der Losreißung des Seelischen von der Körperwelt eine Hochsprache von epochenweiter Suggestivkraft“, die es ermöglichte, „den Traum vom unendlichen Leben der Seele als rationalen und noblen Todesappetit zu formulieren“.
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist ihm dabei die „Urszene der ‚abendländischen’ Philosophie“, nämlich der Tod des Sokrates durch den „Schierlingsbecher“, wie er sich der Überlieferung zufolge 399 v. Chr. in Athen ereignet haben soll. Dank dem „dichterischen Ingenium Platos“, so Sloterdijk, besitze die europäische Philosophie „von dem Moment ihrer eigentlichen Einsetzung“ an „ein Bild oder vielmehr ein Szenario […], dessen Leuchtkraft und Verkündigungsgewalt es in jeder Hinsicht mit den Passionsberichten der christlichen Evangelien“ aufnehmen könne. Überhaupt habe „die heroische Ära philosophischen Denkens“ nicht vor dem Tod des Sokrates anfangen können, denn erst in ihm komme „ein neuartiger Messianismus der Intelligenz“ zur Entfaltung, in dem sich die „frohe Botschaft von einem beglückenden Streben nach Wahrheit“ mit einer „neugewonnenen Unwiderstehlichkeit“ verbreiten konnte. Mit dem Akt des Sterbens nach dem Austrinken des Giftbechers sieht Sloterdijk „mit einem Mal die Voraussetzungen für eine neuartige Verkündigung der ‚Wahrheit’ über das Streben nach Weisheit“ erfüllt.
Bewusst setzt Sloterdijk das Sterben des Sokrates in Parallelität zu Tod und Auferstehung Jesu, denn der Tod des Philosophen gleicht einer Offenbarung an seinen Schüler Platon, dessen Psyche sich angesichts der sokratischen Todesmeisterschaft „entzündet“ mit einer „verkündbaren Evidenz von weittragender Energie“, die Sloterdijk selbst „apostolisch“ nennen würde, wenn der Ausdruck „nicht christlich okkupiert wäre“. Und erst das „Zeugnis dieses philosophischen Abschieds von der Welt gibt dem Schüler die Vollmacht, sich als Meisternachfolger zu etablieren“ und erst als „Mitwisser, Zeuge und Verkünder des meisterlichen Todes nimmt sich der Schüler Plato das Recht, unter dem Namen des Sokrates eine neue Lebensform der Wahrheitssuche zu stiften“. Es ist wohl nicht nur eine ironische Begriffsadaption, wenn Sloterdijk von einem „Neuen Testament der Weisheit“ schreibt.
Sloterdijk betrachtet es als Wirkung dieser von Platon überlieferten Geschichte, dass der Tod seither von den Philosophen „als eine positive Bedingung für den Zugang zur Seinsweise höherer Einsichten“ proklamiert werde. Gestorbensein, so Sloterdijk, stehe von da an „für die faszinierendste der metaphysischen Ideen“. Es vertrete „das Phantasma einer Intelligenz, die als reines seelenhaftes Für-sich-Sein entlastet wäre von der Nötigung zum Körper und zur Sinnen- und Sorgenwelt“.
Mit einem kurzen Schlenker gelangt Sloterdijk von dieser in Parallelität zur christlichen Offenbarung erzählten Geschichte wieder zur Psychologie, indem er konstatiert, deren Anfänge seien auch in einer „Akosmologie“ zu suchen; die maßgeblichen Aussagen über das, was die Seele eigentlich ist, würden „durch das Wegdenken der Welt von ihr“ und durch „die Tilgung der sinnlichen Weltspuren in ihr“ sozusagen auf einer via negativa gewonnen, so dass Seele als „Sein minus Teilhabe am hinderlichen Kosmos“ zu bestimmen sei.
In seinen Ausführungen über den „Todestrieb“ bescheinigt er diesem, über drei unterschiedliche Zugänge die „Menschheit“ (zumindest im „monotheistischen Westen“) zum „Unternehmen Geschichte“ geformt zu haben, „deren Pilotgruppen sich ganz unter dem Bann der Voreiligkeit zum guten Ende in Marsch gesetzt haben“. Aber diese Form von Geschichte sei nichts anderes als „die Projektion ihres Psychofinalismus in die Zeit der politischen Bewegungen“. Das Christentum habe immer die Kraft besessen, „in Individuen und Völkern die Vorstellung zu mobilisieren, mit unüberbietbarem Ernst in Vollendungsdramen und letzte Gefechte verwickelt zu sein“. So lässt Sloterdijk keinen Zweifel daran, dass für ihn das Christentum von Anfang an ein gefährlicher Irrweg der Geschichte war.

Verblendung. Über den Zusammenhang von Glaube und Erfolg im Fundamentalismus. Von Martin Schuck.

04/2017; Evangelische Orientierung 1/2017
…Es führt nicht weiter, den religiösen Fundamentalismus ausschließlich
als ein Problem der jeweiligen Religion zu betrachten,
auf die er sich dem Namen nach bezieht. Verblendungszusammenhänge
konstituieren sich eben immer auf analoge Weise. Der
islamische Fundamentalismus benutzt die traditionelle islamische
Lehre nur als eine äußere Schale, die sich durch das kulturelle
Umfeld anbietet. Der innere Kern dagegen hat eher zufällig,
weil kulturell vermittelt, mit dem Islam zu tun; es geht hier
viel eher um die Schaffung einer neuen Ideologie in einer Zeit,
wo die früheren Ideologien keine Antworten mehr geben können.
Gleiches lässt sich über den protestantischen Fundamentalismus
sagen, wie er gegenwärtig in seiner gemäßigten Form, dem
Evangelikalismus, über Stiftungen und weltweit tätige Agenturen
auch in Europa Fuß zu fassen versucht. Gerade am Vordringen
des Evangelikalismus in den kirchlichen Protestantismus hinein
zeigt sich deutlich, dass es sich beim Fundamentalismus um
eine religiös kodierte Variante von Verblendung handelt. …
Mehr dazu, vgl. S. 17

Die Reformation ist keine Schuldgeschichte. Es gibt keine Erinnerung heute lebender Menschen, die geheilt werden müsste. Von Martin Schuck.

02/2017

Vor zehn Jahren wurde der Münchner Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Graf im Interview mit der „Zeit“ gefragt, welcher Feiertag ihm lieber sei: Weihnachten oder der Reformationstag. Graf antwortete, der Philosoph Hegel habe seinen besten Rotwein nicht an Weihnachten, sondern am Reformationstag aufgemacht, und er könne das gut nachvollziehen. Immerhin sei das der Tag, an dem daran erinnert werde, dass „die eine autoritäre Kirche entmachtet wurde“. Negativ gesagt, so Graf, sei das der Beginn der Kirchenspaltung, positiv formuliert beginne hier jedoch die Pluralisierung des Christentums, „aus der viele Freiheiten der Moderne erwachsen“. Außerdem werde daran erinnert, dass sich ein einzelner Geistlicher gegen die fast allmächtige Institution der Papstkirche gestellt habe und religiöse Autonomie einklagte.
Es ist schade, dass nach einem Jahrzehnt intensiver Vorarbeit auf das Reformationsjubiläum am Ende nichts anderes steht als der Versuch, die vor einem halben Jahrtausend aufgebrochenen und in den Transformationsprozessen der Neuzeit sich weiterentwickelnden Differenzerfahrungen des Christentums aus dem individuellen und kollektiven Bewusstsein hinaustherapieren zu wollen. Aber ein ganzes Jahrzehnt lang die Reformation als Gründungsimpuls für die evangelischen Kirchen zu feiern, konnte schließlich nicht gut gehen. Von dem Zeitpunkt an, als die katholische Kirche auf Beteiligung drängte, wäre eine grundlegende Besinnung notwendig gewesen: Will man sich auf die katholische Logik einlassen, wonach eine einseitig positive Würdigung der Reformation unmöglich sei, weil die „Kirchenspaltung“ schließlich kein Grund zum Feiern ist? Folgt man dieser Logik, liegt es tatsächlich nahe, die Reformation als Schuldgeschichte zu betrachten.
Aber es wäre eben auch anders gegangen: Jenseits der üblich konsensökumenischen Gewohnheiten hätte auch eine Einladung an die katholische Kirche stehen können, ihrerseits mit den Protestanten zusammen darüber nachzudenken, welche Vorteile auch die katholische Kirche aus den durch die Reformation ausgelösten Modernisierungsprozessen ziehen konnte. Oder sehnt sich tatsächlich noch irgendein Katholik zurück nach der (katholischen) Einheitswelt des Mittelalters?
So aber müssen sich die Protestanten bei aller Vorfreude auf die großen Events eingestehen, dass sich in den theologischen Beiträgen und liturgischen Feiern die katholische Sicht durchgesetzt hat. Überdeutlich wird das in dem gemeinsamen Wort „Erinnerungen heilen – Jesus Christus bezeugen“. Als politisches Projekt zur Versöhnung der Menschen in Südafrika unmittelbar nach dem Ende der Apartheid und auch zur Beendigung des Bürgerkriegs in Nordirland war „Healing of Memories“ ein sinnvolles Konzept. Auch die kirchliche Erprobung in Rumänien, wo verschiedene konfessionell geprägte Volksgruppen nach dem Ende des Kommunismus sich gegenseitig die Schuld für Verfehlungen in der Zeit der Diktatur vorwarfen, führte zu einer sinnvollen Aufarbeitung der Schuld von Menschen, die danach versöhnt miteinander weiterleben konnten.
Diesen Ansatz auf lange zurückliegende geschichtliche Ereignisse übertragen zu wollen, ist aber fragwürdig, weil vorausgesetzt wird, dass die heute Lebenden Handlungen von vor 500 Jahren als schuldhaft bewerten, obwohl diese im Bewusstsein der damaligen Akteure völlig legal waren und den damals geltenden Normen entsprechend durchgeführt wurden. So etwas könnte man als Arroganz der Nachgeborenen bezeichnen.
Völlig unerträglich wird es dann, wenn die Autoren die vor 500 Jahren sehr intensiv geführten theologischen Debatten um die Wahrheit des Evangeliums banalisieren, indem sie diese nur von ihren späteren Folgen her bewerten. Wenn gesagt wird, der Papst und die Bischöfe hätten damals nicht die Kraft gehabt, die Vorgänge in Deutschland und der Schweiz „angemessen einzuschätzen und konstruktiv zu reagieren“, und auf der anderen Seite sei „der Eigensinn der reformatorischen Bewegung stärker ausgeprägt als der Wille zur Einheit“, dann erscheint die Reformation als Folge von Trägheit, Eitelkeit und anderen moralischen Defiziten. Die Schuldgeschichte beginnt dann nicht bei den Religionskriegen, sondern bei der menschlichen Haltung der Reformatoren, die für ihre Vorstellung von Wahrheit die Einheit der Kirche verantwortungslos aufs Spiel gesetzt hätten.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wären die Theologen vor 500 Jahren so empathisch, klug und sensibel gewesen wie heutige Ökumeniker, dann hätte es keine Reformation, keine Kirchenspaltung und auch keine evangelischen Kirchen geben müssen, und die Einheit der abendländischen Christenheit unter dem Papst wäre erhalten geblieben. Das muss man als Protestant aber nicht unbedingt wollen.
Martin Schuck

Dr. Martin Schuck ist Verlagsleiter der Verlagshaus Speyer GmbH und Vorsitzender des Evangelischen Bundes Pfalz.

Die Reformation hinaustherapieren? Zur Kritik am gemeinsamen Dokument von EKD und DBK „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“. Von Martin Schuck

12/2016

Vor zehn Jahren wurde der Münchner Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Graf im Interview mit der „Zeit“ gefragt, welcher Feiertag ihm lieber sei: Weihnachten oder der Reformationstag? Graf antwortete, der Philosoph Hegel habe seinen besten Rotwein nicht an Weihnachten, sondern am Reformationstag aufgemacht, und er könne das gut nachvollziehen. Immerhin sei das der Tag, an dem daran erinnert werde, dass „die eine autoritäre Kirche entmachtet wurde“. Negativ gesagt, so Graf, sei das der Beginn der Kirchenspaltung, positiv formuliert beginne hier jedoch die Pluralisierung des Christentums, „aus der viele Freiheiten der Moderne erwachsen“. Außerdem werde daran erinnert, dass sich ein einzelner Geistlicher gegen die fast allmächtige Institution der Papstkirche gestellt habe und religiöse Autonomie einklagte.
Es ist schade, dass nach einem Jahrzehnt intensiver Vorarbeit auf das Reformationsjubiläum am Ende nichts anderes steht als der Versuch, die vor einem halben Jahrtausend aufgebrochenen und in den Transformationsprozessen der Neuzeit sich weiterentwickelnden Differenzerfahrungen des Christentums aus dem individuellen und kollektiven Bewusstsein hinaustherapieren zu wollen. Aber ein ganzes Jahrzehnt lang die Reformation als Gründungsimpuls für die evangelischen Kirchen zu feiern, konnte schließlich nicht gut gehen. Von dem Zeitpunkt an, als die katholische Kirche auf Beteiligung drängte, wäre eine grundlegende Besinnung notwendig gewesen: Will man sich auf die katholische Logik einlassen, wonach eine einseitig positive Würdigung der Reformation unmöglich sei, weil die „Kirchenspaltung“ schließlich kein Grund zum Feiern ist? Folgt man dieser Logik, liegt es tatsächlich nahe, die Reformation als Schuldgeschichte zu betrachten.
Aber es wäre eben auch anders gegangen: Jenseits der üblichen konsensökumenischen Gewohnheiten hätte auch eine Einladung an die katholische Kirche stehen können, ihrerseits mit den Protestanten zusammen darüber nachzudenken, welche Vorteile auch die katholische Kirche aus den durch die Reformation ausgelösten Modernisierungsprozessen ziehen konnte. Oder sehnt sich tatsächlich noch irgendein Katholik zurück nach der (katholischen) Einheitswelt des Mittelalters?
So aber müssen sich die Protestanten bei aller Vorfreude auf die großen Events eingestehen, dass sich in den theologischen Beiträgen und liturgischen Feiern die katholische Sicht durchgesetzt hat. Überdeutlich wird das auf Weltebene an jenem Ereignis, das durch das lutherisch-katholische Dialogdokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ (2013) ausgelöst wurde: nämlich der Besuch des Papstes in Lund am 31. Oktober 2016 zur Feier der Eröffnung des Reformationsjahres am Ort der Gründung des Lutherischen Weltbundes vor 70 Jahren. Die Begegnung mit Papst Franziskus sei auf lutherischer Seite „zentrales Element“ der „Gedenkveranstaltungen“, so bislang unwidersprochen der leitende Direktor des katholischen Johann-Adam-Möhler-Instituts in der evangelischen Zeitschrift „Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim“.
Kein Wunder also, dass sich auch in den nationalen Debatten die katholische Sicht vom „Gedenken“ an die Stationen einer „Schuldgeschichte“ durchgesetzt hat. Diese Haltung zu fördern, ist die Absicht des gemeinsamen Wortes des Rats der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz „Erinnerungen heilen – Jesus Christus bezeugen“. Als politisches Projekt zur Versöhnung der Menschen in Südafrika unmittelbar nach dem Ende der Apartheid und auch zur Beendigung des Bürgerkriegs in Nordirland war „Heeling of Memories“ ein sinnvolles Konzept. Auch die kirchliche Erprobung in Rumänien, wo verschiedene konfessionell geprägte Volksgruppen nach dem Ende des Kommunismus sich gegenseitig die Schuld für Verfehlungen in der Zeit der Diktatur vorwarfen, führte zu einer sinnvollen Aufarbeitung der Schuld von Menschen, die danach versöhnt miteinander weiterleben konnten.
Diesen Ansatz auf lange zurückliegende geschichtliche Ereignisse übertragen zu wollen, ist aber fragwürdig, weil vorausgesetzt wird, dass die heute Lebenden Handlungen von vor 500 Jahren als schuldhaft bewerten, obwohl diese im Bewusstsein der damaligen Akteure völlig legal waren und den damals geltenden Normen entsprechend durchgeführt wurden. So etwas könnte man als Arroganz der Nachgeborenen bezeichnen.
Völlig unerträglich wird es dann, wenn die Autoren die vor 500 Jahren sehr intensiv geführten theologischen Debatten um die Wahrheit des Evangeliums banalisieren, indem sie diese nur von ihren späteren Folgen her bewerten. Wenn gesagt wird, der Papst und die Bischöfe hätten damals nicht die Kraft gehabt, die Vorgänge in Deutschland und der Schweiz „angemessen einzuschätzen und konstruktiv zu reagieren“, und auf der anderen Seite sei „der Eigensinn der reformatorischen Bewegung stärker ausgeprägt als der Wille zur Einheit“, dann erscheint die Reformation als Folge von Trägheit, Eitelkeit und anderen moralischen Defiziten. Die Schuldgeschichte beginnt dann nicht bei den Religionskriegen, sondern bei der menschlichen Haltung der Reformatoren, die für ihre Vorstellung von Wahrheit die Einheit der Kirche verantwortungslos aufs Spiel gesetzt hätten. An anderer Stelle erscheinen die Reformatoren als theologisch ungebildet, weil sie nicht erkennen konnten, dass es bei dem als „Werkgerechtigkeit“ bewerteten Traditionsgut, „dass der Glaube durch die Liebe geformt werden müsse“, eigentlich „um eine umfassende gnadentheologische Anthropologie der Freiheit“ gehe. Die reformatorischen Theologen gingen „bei ihrer Kritik von ihrem eigenen Glaubensbegriff aus, ohne die spezifische Begrifflichkeit der Scholastik und des Konzils konstruktiv zu würdigen“.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wären die Theologen vor 500 Jahren so empathisch, klug und sensibel gewesen wie heutige Ökumeniker, dann hätte es keine Reformation, keine Kirchenspaltung und auch keine evangelischen Kirchen geben müssen, und die Einheit der abendländischen Christenheit unter dem Papst wäre erhalten geblieben. Das muss man als Protestant aber nicht unbedingt wollen.

Hoffnung im utopielosen Zeitalter. Von Martin Schuck

11/2016

Vor einigen Wochen habe ich aus aktuellen Anlässen wie dem 90. Geburtstag Jürgen Moltmanns und dem Tod seiner Frau Elisabeth Moltmann-Wendel wieder einmal in der „Theologie der Hoffnung“ geblättert. Ich hatte das Buch als Theologiestudent in den 1980er Jahren gelesen und noch ein einziges Mal hineingeschaut, als ich die Festschrift zu Moltmanns 70. Geburtstag besprochen hatte. Das ist jetzt 20 Jahre her.
Was mir bei meiner kurzen Re-Lecture sofort auffiel, war der relativ geringe Umfang des Werkes: nur 316 Seiten. Aus der Erinnerung heraus hätte ich auf mindestens 500 Seiten getippt. Aber so war das eben vor einem guten halben Jahrhundert: In der Nachkriegszeit war es möglich, mit relativ dünnen Büchern ganze Theologengenerationen zu beeinflussen – und manchmal reichte sogar ein einziger Aufsatz.
In den Jahren vor 1989 war es jedenfalls so, dass Moltmanns Buch in all denjenigen Kreisen, die irgendwie politisch links waren, also den Barthianern, den Sölle-Anhängern, den Friedensbewegten, den Dritte-Welt-Aktivisten, den Ökologen, den religiösen Sozialisten und wie sie alle hießen, zur Pflichtlektüre gehörte. Man hatte vermutlich selten davor und niemals mehr danach so sehr das Gefühl, das Richtige gemacht zu haben, wie in diesen Jahren, wenn man sich einen Abend lang mit Kommilitonen zusammensetzte und über Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ diskutierte. Für viele, die damals den Anschluss an den Barthianismus suchten, war Moltmann die ideale Lektüre; Moltmann argumentierte barthianisch ohne den Meister allzu oft zu zitieren, und man konnte wissen, worum es barthianischer Theologie im Kern geht, ohne die quälend langen Kapitel der KD lesen zu müssen.
Moltmann zog die gesamte Theologie von der Eschatologie her auf. Das passte erstens gut in die theologische Forschungslandschaft, denn seit dem frühen 20. Jahrhundert war die Eschatologie zu einem bevorzugten Thema der Neutestamentler geworden, und deren Forschungsergebnisse warteten förmlich auf Systematisierung und vor allem Aktualisierung; Moltmann konnte beides bieten. Zweitens aber traf Moltmann 1964, bei Erscheinen des Buches, auf die Anfangsphase einer weltweit sich formierenden Protestbewegung, die in die unterschiedlichsten kulturellen Milieus einsickerte und sich anschickte, diese neu zu formatieren. Diese Neuformatierung betraf auch die Kirchen, und Moltmanns Konzept einer „Exodusgemeinde“, das er im Schlusskapitel entfaltete, wirkte gleichzeitig analytisch und prophetisch: Tatsächlich gab es bereits kleine kirchliche Gruppen, die im (politischen) Aufbruch ihr Selbstverständnis entdeckten, und für all die anderen sollte dieses Konzept Ansporn sein, sich angesichts einer wenig ruhmreichen Vergangenheit in der Zukunft auf die richtige Seite zu schlagen.
Moltmann entwickelt das Thema Zukunft aus dem Ertrag seiner Analyse der gesellschaftlichen Rolle der Kirche im Verlauf der Geschichte. Die Kirche sei während der Neuzeit zwar immer weiter aus der integrierenden Mitte der Gesellschaft, wo sie sich im Mittelalter befunden hatte, entlassen worden; jedoch habe ihr ebendiese Gesellschaft andere Rollen zugewiesen, aber in diesen Rollen sei das Christentum – Achtung, hier wird es barthianisch – zur „Religion“ degeneriert und damit gesellschaftlich stillgelegt worden. Moltmann nennt drei dieser Rollen: Zum ersten war die Kirche Retterin und Bewahrerin individueller und privater Humanität. Die kirchliche Lehre, so Moltmann im Blick auf die Theologie seit der Aufklärung, habe eine „Metaphysik der Subjektivität“ behauptet, mittels derer die Humanität des Menschen in der Industriekultur gerettet werden sollte. Als zweite Rolle sieht Moltmann die Kirche als Instanz zur Kultivierung von Mitmenschlichkeit, indem sie eine Geborgenheit gebende „Gemeinschaft“ erschafft. Hier unterzieht Moltmann die Sozialphilosophie von Ferdinand Tönnies (1855-1936), der zwischen unpersönlicher Gesellschaft und der von menschlicher Nähe geprägten Gemeinschaft unterschieden hatte, einer scharfen Kritik. Tönnies hatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine beträchtliche Wirkungsgeschichte; ohne die von ihm geprägte Begrifflichkeit wäre beispielsweise die Ekklesiologie Dietrich Bonhoeffers nicht zu verstehen. Mittels dieser romantisierenden Begrifflichkeit jedenfalls wird erklärt, wie die Gemeinde zum Zufluchtort der Innerlichkeit wird und den Menschen aus den für „entseelt“ gehaltenen Institutionen der Gesellschaft retten kann. Christliche Gemeinden werden so zwar zu Inseln echter Mitmenschlichkeit, allerdings wird durch sie die Öffentlichkeit der Gesellschaft weder beunruhigt und schon gar nicht verändert. Kirchen sind demnach, so Moltmann, systemstabilisierend. Das führt auch schon zur dritten Rolle der Kirche, nämlich eine Institution innerhalb der Gesellschaft zu sein, die für Menschen eine Entlastungsfunktion bereitstellt; im Falle der Kirche ist es eine religiöse Entlastung, da der Einzelne seine Glaubensentscheidung delegieren kann. Moltmann nennt dies „institutionalisierte Unverbindlichkeit“ und behauptet, auf diese Weise werde „das Christliche“ zwar zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit, verliere allerdings jede gesellschaftliche Relevanz.
Moltmann fordert einen Ausbruch aus der Zumutung dieser Rollen und regt eine neue eschatologische Ausrichtung der Christen an, die ihre Pointe in der Antizipation einer Zukunft findet, die ihre emanzipatorischen Inhalte im Wesentlichen aus der Kritik am Bestehenden konstruiert. Wichtig sei deshalb, gegen die kirchliche Rolle als Stabilisator der gesellschaftlichen Verhältnisse Widerstand zu leisten und die Gemeinde zu einer „nicht-assimilierbaren Gruppe“ werden zu lassen, die die Gesellschaft durch ihr auf Zukunft gerichtetes Handeln stört und verändert. Vom kommenden Reich Gottes her werde diese Gemeinde zur „Exodus-Gemeinde“ die sich auf den Weg mache zur kommenden Gerechtigkeit.
Ich weiß nicht, wie viele Theologen heute noch Jürgen Moltmann lesen. Das Gütersloher Verlagshaus hat jedenfalls anlässlich Moltmanns 90. Geburtstags eine neunbändige Ausgabe seiner Werke veröffentlicht und versteht diese als „eine Einladung, einen der einflussreichsten theologischen Denker der Gegenwart im Horizont der aktuellen Weltprobleme kennen zu lernen und seine bleibende Bedeutung zu entdecken“, so der Werbetext. Nach der Lektüre der „Theologie der Hoffnung“ muss sich, gemäß dieser „Einladung“, natürlich gleich die Frage anschließen, wohin das nach Moltmanns Ansicht damals auf Zukunft ausgerichtete Handeln der Gemeinde sich heute orientieren kann angesichts von völlig veränderten gesellschaftlichen Diskursen über Hoffnung? Nicht nur in den gesellschaftlichen Debatten, sondern auch in den Kirchen hat sich eine Haltung gegenüber der Zukunft breit gemacht, der es kaum noch darum geht, Veränderungspotentiale auszuloten. Wo heute von Hoffnung geredet wird, geht es meist um die Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm kommen werde wie vermutet. Zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit gehört es nun, dass diese veränderte Zielrichtung von Hoffnung auch Auswirkungen auf die Haltung der Christen zur Zukunft hat. Moltmanns Vorstellung einer „Exodus-Gemeinde“ wirkt angesichts einer nahezu vollständigen Diakonisierung der Kirche, die sich weiterhin systemstabiliserend positioniert und nichts so sehr fürchtet, wie, um mit Moltmann zu reden, „nicht-assililierbar“ zu sein, merkwürdig aus der Zeit gefallen.
Es spricht also vieles dafür, dass wir in ein völlig utopieloses Zeitalter eintreten, in dem sich nur noch die Älteren daran erinnern, dass einmal ernsthaft über gesellschaftliche und politische Utopien diskutiert werden konnte. Jürgen Habermas hat es unlängst angesichts der fehlenden Alternativen bei den etablierten Parteien treffend auf den Punkt gebracht: „Wenn eine glaubwürdig und offensiv vertretene Perspektive fehlt, bleibt dem Protest nur noch der Rückzug ins Expressive und Irrationale.“
Martin Schuck

Auf dem Weg in den Post-Protestantismus. Von Martin Schuck.

10/2016

Karl Richard Ziegert zeichnet in mehreren Veröffentlichungen das beklemmende Bild eines Protestantismus, der durch seinen Wunsch nach verstärkter Kirchlichkeit letztlich das Potential, das den Protestantismus ausmacht, leichtfertig aufs Spiel setzt. Nicht mehr das Pfarramt in der Gemeinde, sondern die Kirchenleitungen, die sich mit politischen Botschaften an das Gemeinwesen wenden, sind die entscheidenden Akteure in dieser neuen Form von Kirchlichkeit. Die Arbeiten Ziegerts, vor allem auch sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Die Verkäufer des perfect life. Über die Amerikanisierung der Religion und den Untergang der EKD-Kirchenwelt in Deutschland“ (LIT-Verlag, Münster 2015), zeichnen die Konturen eines Protestantismus, der sich, sowohl was seine Gestalt als auch seine Botschaft betrifft, in einem tiefgreifenden Transformationsprozess befindet. Ziegert zieht einige Linien von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart und sieht eine mögliche Lösungsstrategie in der Wiederaneignung alter theologischer Tugenden, die die Attraktivität und Ausstrahlungskraft des reformatorischen Pfarramts ausgemacht haben.
Zu fragen ist allerdings, ob die gegenwärtige Transformation des Protestantismus sich tatsächlich nur als das Ergebnis eines veränderten Rollenverständnisses kirchenleitender Personen, die sich plötzlich als Leitende Geistliche verstehen, zu beschreiben ist, oder ob es nicht noch andere, außertheologische Faktoren gibt, die letztlich entscheidend sind und überhaupt erst den Ermöglichungsrahmen bieten für das veränderte Verhalten der Kirchenleitungen. Zieht man den Vergleich mit der ersten großen Transformation, die der Protestantismus durchgemacht hat, nämlich die Umwandlung des Altprotestantismus der konfessionell geprägten Lehrsysteme in einen von der Wende zur neuzeitlichen Subjektivität bestimmten Neuprotestantismus, so kann man die These wagen, dass der Protestantismus selbst nicht die treibende Kraft ist, die die Bedingungen für die eigne Transformation herstellt, sondern mit einer veränderten Form religiöser Präsentation auf von außen gesetzte Veränderungen reagiert. So wurde die Transformation vom Alt- in den Neuprotestantismus ab der Mitte des 17. Jahrhunderts massiv vorangetrieben durch die im Dreißigjährigen Krieg gewachsene Erkenntnis, dass nach der Spaltung der mittelalterlichen Einheitswelt die neu entstandenen Konfessionen eine sozialverträgliche Form der Koexistenz finden müssen, wenn sich das Gemeinwesen nicht in einem permanenten Kriegszustand befinden soll. Umgesetzt wurde diese Erkenntnis aber zunächst nicht von dem Konfessionskirchen und ihren Theologen, sondern von den Philosophen der Aufklärung und deren Anhängern unter den Territorialfürsten, die in ihren jeweiligen Gebieten Toleranzedikte erließen und so Strukturen schufen für eine Konvivenz der unterschiedlichen Konfessionskirchen. Erst innerhalb dieser Strukturen entstand auch in der Theologie die Notwendigkeit zur Reflexion der eigenen theoretischen Grundlagen mit dem Ziel, diese mit dem in der Aufklärung entstandenen Menschenbild kompatibel zu machen.
Schaut man auf das Ergebnis dieser Transformation, lassen sich im 19. Jahrhundert Konturen eines Protestantismus erkennen, in dem die Frage nach der Bedeutung einer bestimmten Konfession für die Kultur des Gemeinwesens eine gewisse Priorität erlangt hatte. So trat die kirchliche Lehre als konfessionsspezifisches Merkmal in ihrer Bedeutung zurück hinter stark empfundene Differenzen zwischen den Konfessionen in Fragen der Gestaltung der Lebenswelt, also des Ethos, des Frömmigkeitsstils und des sozialmoralischen Habitus. Die fast überall geführten Kulturkämpfe machten deutlich, dass es hart verteidigte konfessionelle Milieus gab, und in Folge dieser Erkenntnis widmete sich um 1900 auch die Theologie verstärkt der Frage nach der spezifischen Bedeutung des Protestantismus im Gegenüber zur katholischen Kirchenwelt für die kulturelle Verfassung des Gemeinwesens. Als Ergebnis dieser Debatten entstand das Bild eines Protestantismus, dessen wichtigstes Identitätsmerkmal darin bestand, „mehr und anderes als nur Kirche zu sein“ (Friedrich Wilhelm Graf), weil für den Protestantismus eine völlig andere Verhältnisbestimmung zwischen persönlichem Glauben, christlicher Überlieferung und kirchlicher Institution konstitutiv war als für alle anderen konfessionellen Ausprägungen des Christentums. Das identitätsstiftende Zentrum (oder, in der damaligen Diktion, das „Wesen“) des Protestantismus, so das Ergebnis der damaligen Debatten, sei ein prinzipielles Eigenrecht des Glaubenden in seiner durch Subjektivität bestimmten Religiosität gegenüber der kirchlichen Institution.
Betrachtet man diese Erkenntnis als inhaltliche Pointe des Transformationsprozesses vom Alt- zum Neuprotestantismus, so beginnt die derzeit noch anhaltende Transformation ab dem Zeitpunkt, als eine Korrektur und der Versuch der Rückgängigmachung ebendieses Ergebnisses auf dem Plan stand. Einen ersten theologischen Versuch wagte die dialektische Theologie, die in ihrer prinzipiell antiliberalen Haltung der religiösen Subjektivität des Einzelnen ein autoritatives kirchliches „Wort“ vorordnete und in Barths Diktum über den direkten Weg von Schleiermacher zu den Deutschen Christen die gesamte Geschichte des Neuprotestantismus als Irrweg erklären wollte.
Etwa zeitgleich dazu gab es einige außertheologische Veränderungen, die – im Nachhinein betrachtet – nicht spurlos an der Selbstpräsentation des Protestantismus vorübergehen konnten. Waren die Katholiken noch in der Kaiserzeit in den wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen deutlich unterrepräsentiert, so gelang es ihnen, nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie nachhaltig an gesellschaftlichem und politischem Einfluss zu gewinnen. Damit einher ging ein auffälliges Schrumpfen der protestantischen Sozialmilieus, während die katholischen Milieus aufgrund institutioneller Präsenz (katholische Vereine, katholische Arbeitnehmerverbände, Zentrumspartei) weitgehend intakt blieben und auch durch den Nationalsozialismus nicht existenzbedrohend beschädigt werden konnten. Nach 1945 prägte der Katholizismus die Kultur der neuen Bundesrepublik mindestens in gleichem Maße wie der Protestantismus – eine Entwicklung, die der Protestantismus durch seine permanente Produktion von moralisch aufgeladenen politischen Erklärungen zu unterlaufen versuchte. Die Präsenz des Katholizismus im öffentlichen Raum verstärkte sich noch einmal signifikant nach 1989, so dass heute in der medialen Öffentlichkeit die Begriffe kirchlich und katholisch nahezu synonym gebraucht werden.
Im Grunde sind damit wichtige Motive angedeutet, warum der Protestantismus so vehement versucht, eigenmächtig Transformationsprozesse in Richtung einer starken öffentlichen Präsenz als Kirche in Gang zu setzen. Letztlich dreht es sich um die Frage, ob in einer Öffentlichkeit, die immer stärker durch eine sich weiterentwickelnde Medienlandschaft bestimmt wird, der Protestantismus für den Katholizismus ein ernsthafter Konkurrent bei der Jagd um Aufmerksamkeit sein kann. Solange Zeitungen und später der Hörfunk Leitmedien waren, hatte der Protestantismus aufgrund seiner Wortzentriertheit alle Vorteile auf seiner Seite; mit dem Beginn der Herrschaft des Fernsehens änderte sich das gewaltig, denn der Katholizismus liefert mit Abstand die besseren Bilder. Der Beginn des Internet-Zeitalters wirkt nun allerdings wie eine Weggabelung. Mit dem Internet ist das Zeitalter der Massenmedien vorbei; aber das, was jetzt entsteht, knüpft keineswegs an die vorherige Ära an, sondern bietet einen kategorial neuen Weg der Kommunikation, der im Ergebnis einen größeren Kampf um Aufmerksamkeit der Empfänger von Nachrichten nötig macht als im Zeitalter der Massenmedien, wo durch Staatsverträge eine gewisse Präsenz der Kirchen in der öffentlichen Wahrnehmung sichergestellt war. Da diese Präsenz durch das Unwissen über das Verhalten der Internetnutzer nicht mehr gesichert ist, scheint der Protestantismus sein Heil in einer Konzentration auf zentrale, meist lange vorher angekündigte Events zu suchen.
Aus dieser Eventorientierung, wie wir sie spätestens seit Beginn der „Lutherdekade“ 2008 erleben, ergeben sich aber zwei Probleme. Das erste Problem besteht darin, dass eine Großveranstaltung, die überregional wahrgenommen werden soll, nur von einer Organisation vorbereitet und durchgeführt werden kann, die über genügend materielle und finanzielle Ressourcen verfügt. Deshalb verlangt die Orientierung auf Events nach einer Organisationsform, mittels derer man in der Lage ist, notfalls etwas einem Papstbesuch vergleichbares auf die Beine zu stellen. Das geht natürlich nur in einer Zentralkirche, der die Regionalkirchen bei Bedarf zuarbeiten.
Das zweite Problem dieser Eventorientierung ist die Reduzierung der komplexen christlichen Botschaft auf wenige eingängige Parolen. Hier kann der Protestantismus auf einschlägige Erfahrungen zurückgreifen, denn im evangelikalen Spektrum gibt es seit Jahrzehnten solche Großveranstaltungen. Aber gerade an Predigten etwa bei Pro-Christ kann man studieren, dass differenzierte Botschaften nicht massentauglich sind, sondern nach Vereinfachung verlangen. Problematisch ist auch, dass es bei solchen Events praktisch unmöglich ist, den einzelnen Christen direkt anzusprechen; er erscheint ja nur als Teil einer Masse. Ansprachen geraten dann sehr schnell in den Modus des Stellens von Forderungen an alle und jeden („die Gesellschaft muss in der Frage der Klimagerechtigkeit umdenken“) bei gleichzeitiger Vereinnahmung der einzelnen für von kirchlichen Agenturen gesetzte Ziele, deren Umsetzung nun wirklich nicht in der Kompetenz kirchlicher Stellen liegt („wir als Kirche müssen uns dafür einsetzen, dass Europas Grenzen für Flüchtlinge offen bleiben“). Für den Protestantismus bedeutet deshalb eine Orientierung auf Großereignisse als Orte kirchlicher Präsenz einen Verzicht auf protestantische Kernkompetenz, nämlich die religiöse Kommunikation, symbolische Identitätsbildung und Vermittlung von Lebenssinn im überschaubaren Sozialraum und im Gespräch von Mensch zu Mensch; diese Reduktion auf präsentable Inhalte birgt jedoch die Gefahr eines permanenten Realitätsverlust, der – um mit Friedrich Wilhelm Graf zu reden – mit „einer phantastischen Rhetorik des immer mehr Erreichenkönnens“ überdeckt werden soll.
Macht man sich diese wenigen Zusammenhänge klar, wird deutlich, dass diese Entwicklung nicht nur ein Problem der Kirchenleitungen ist, sondern aller Protestanten. Für nahezu jede Pfarrerin und jeden Pfarrer ist es eine Selbstverständlichkeit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu betonen, dass Kirche politisch zu sein hat, dem „Rad in die Speichen greifen“ muss, wie Dietrich Bonhoeffer das in gewiss anderem Zusammenhang gesagt hat. Und aufgrund des anhaltenden Bedeutungsverlusts der Kirchengemeinden in zahlreichen Kommunen ist es verständlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wie nach dem sprichwörtlichen Strohhalm nach allen sich bietenden Möglichkeiten greifen, die Aufmerksamkeit in der örtlichen Presse garantieren und die Kirchengemeinde zum Gesprächsthema vor Ort werden lassen. Theologische Überlegungen spielen dabei meist eine untergeordnete Rolle. In diesem Zusammenhang ist zu hoffen, dass die theologische Ausbildung weiterhin am reformatorischen Pfarramt, wie Ziegert es beschreibt und als selbstbestimmte Form der theologischen Existenz wiedergewinnen möchte, orientiert ist und nicht irgendwann den vielseitig begabten Eventmanager mit theologischer Zusatzkompetenz zum Leitbild erklären wird.
Im Ergebnis steuern wir auf eine Form von evangelischer Kirchlichkeit zu, die nicht mehr viel mit dem klassischen Protestantismus zu tun hat. Aber genau diese evangelische Form von Kirchlichkeit bietet die Grundlage etwa für ökumenische Gespräche mit der römisch-katholischen Kirche, und ohne diese Kirchlichkeit wäre auch das gemeinsame Reformationsgedenken des EKD-Ratsvorsitzenden mit dem Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz nicht möglich. Ich habe noch sehr genau die Worte eines führenden katholischen Ökumenikers im Ohr, der zu Beginn der Reformationsdekade im kleinen Kreis sagte, man könne mit evangelischen Kirchen über ein gemeinsames Reformationsgedenken reden; aber wenn der Protestantismus zum Thema werde, dann sei das Gespräch beendet.
Man wird solche Worte ernst nehmen müssen, denn sie drücken eine Überzeugung aus, die nicht nur in Kirchenleitungen, sondern auch bei Pfarrerinnen und Pfarrern sowie vielen Gemeindegliedern gerne geteilt wird. Daraus gilt es die Konsequenzen zu ziehen, auch wenn diese wehmütig stimmen. Die reformatorische Spielart des Christentums ist nach zwei tiefgreifenden Transformationsprozessen in ein Stadium eingetreten, in dem zwar die reformatorische Begrifflichkeit sorgfältig gepflegt und unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen theologisch gründlich durchdacht wird. Allerdings ist der ursprünglich kirchenkritische Impuls der Reformation verloren gegangen und das reformatorische Christentum findet sich wieder als Kirche im Gegenüber zu anderen Kirchen, mit denen man Zusammenarbeit pflegt, um mit einem gemeinsamen Zeugnis der Gesellschaft gegenüberzutreten. Dass in dieser Kirche eine Zunahme an hierarchischen Strukturen zu verzeichnen ist, muss nicht verwundern, denn in ihrem Umbau kann sie sich kaum auf Theologie berufen, sondern muss sich soziologischen und organisationstheoretischen Gesetzmäßigkeiten fügen. Das alles sind Zeichen für einen fortgeschrittenen Weg der reformatorischen Kirchlichkeit in eine post-protestantische Existenzweise.
Martin Schuck

Pyrrhussieg führt zu neuem Arbeitsrecht.

von Martin Schuck

Es mutet seltsam an: Da bekommt die katholische Kirche Ende letzten Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht Recht und darf von ihren Bediensteten verlangen, ihre Lebensführung so zu gestalten, dass sie katholischen Vorstellungen entspricht. Konkret ging es um die Kündigung eines Chefarztes an einem katholischen Krankenhaus, nachdem dieser nach einer Scheidung wieder geheiratet hatte. Nach katholischem Recht ist eine Ehe unauflöslich und eine Wiederheirat deshalb nicht möglich; wird sie dennoch vollzogen, lebt der wiederverheiratete Geschiedene in schwerer Sünde und muss von einem katholischen Arbeitgeber nicht weiterbeschäftigt werden.
Wenige Monate, nachdem das Bundesverfassungsrecht im Sinne der katholischen Kirche geurteilt hat, ändert der Verband der Diözesen Deutschlands seine „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ und lässt den katholischen Einrichtungen größere Spielräume für den Umgang mit Bediensteten, die den Loyalitätsforderungen in ihrer Lebensführung nicht entsprechen. Die wichtigste Änderung in der Neufassung besteht darin, dass bei Nichterfüllung der Beschäftigungsanforderungen nicht mehr, wie bisher, automatisch die Kündigung erfolgt, sondern nur dann ausgesprochen wird, wenn eine konkrete Prüfung des Einzelfalls ergibt, dass „ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis“ zu erwarten ist. Nicht geprüft wird bei Pastoralreferenten, Religionslehrern und bischöflichen Beauftragten; ihnen droht weiterhin automatisch die Kündigung.
Die Neuordnung beschränkt sich darauf, die bisherige Zwangsläufigkeit der Kündigung durch eine Erweiterung der Ausnahmeregelungen abzumildern. Nach wie vor gilt, dass alle in einer katholischen Einrichtung Beschäftigten gemeinsam dazu betragen, „dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann“. Die jetzt beschlossene Lockerung ist deshalb keine grundsätzliche Abkehr überkommener Überzeugungen, sondern lediglich eine Kurskorrektur aus pragmatischen Erwägungen. Beobachter stellen schon länger fest, dass die katholische Kirche und vor allem die Caritas in ihren Einrichtungen händeringend nach Fachkräften suchen und dabei immer weniger nach der Konfession fragen. Von daher war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein Pyrrhussieg, denn es nährte die Befürchtung, dass aufgrund der damit bestätigten Rechtslage sich immer weniger qualifizierte Personen der restriktiven Praxis in katholischen Einrichtungen aussetzen würden.
Gerade die liberalere Haltung gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen dürfte aber der Grund dafür sein, warum nicht alle Bischöfe die neue „Grundordnung“ in ihrer Diözese übernehmen wollen. Wenn Wiederverheirate in der kirchlichen Dienstgemeinschaft geduldet werden, gibt es keinen Grund mehr, sie bei der Eucharistie weiterhin auszuschließen.

aus: „Evangelischer Kirchenbote. Sonntagsblatt für die Pfalz“, Ausgabe 20/2015 vom 15. Mai, Abruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Notwendiger Abschied oder Traditionsaufbruch? Ein neuer Text der EKD zur Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu. Von Dr. Martin Schuck.

03/2015

Als der emeritierte Professor für Praktische Theologie Klaus-Peter Jörns 2004 sein Buch „Notwendige Abschiede“ veröffentlichte, trat er eine Lawine aus Zustimmung und Ablehnung los, die, nachdem sich die Spreu vom Weizen getrennt hatte, zu einer recht fruchtbaren Auseinandersetzung um die sog. „Sühnopfertheologie“ führte. Im Blick auf einige Loci der altkirchlichen und reformatorischen Dogmatik forderte Jörns, der als Praktischer Theologe immer sehr stark empirisch arbeitete („Die neuen Gesichter Gottes“ war ein bekannter Buchtitel von ihm), eine Angleichung nicht nur der theologischen Sprache, sondern auch der kirchlich zu vertretenden Inhalte an die Vorstellungswelt heutiger Menschen. Zu verabschieden seien deshalb Vorstellungen, wie sie der traditionellen Sühnopfertheologie zugrunde liegen, dass nämlich Gott für die Sünden der Menschen habe ein Opfer bringen müssen.
Die bis zur 4. Auflage von „Notwendige Abschiede“ vor sich hindümpelnde Debatte nahm richtig Fahrt auf, als mit dem früheren Bonner Superintendenten Burkhard Müller ein kirchlicher Praktiker dem Universitätstheologen Jörns beipflichtete und in einem Rundfunkbeitrag 2008 die gleiche Forderung im Blick auf die Sühnopfertheologie stellte. Der an der Universität Bonn lehrende Ethiker Ulrich Eibach widersprach heftig: „Das ist Häresie! Das sagen wir aber heute nicht mehr, weil wir nicht mehr um die Wahrheit ringen. Die Postmoderne kennt keine Wahrheit, jeder macht seine eigene Wahrheit.“ Auch Herbert Schnädelbach, mit dem Atheismus ringender Philosophieprofessor und Sohn eines methodistischen Pfarrers aus der Pfalz, beteiligte sich an der Debatte: „Gott schickt seinen Sohn in einen blutigen Tod, um sich mit sich selbst zu versöhnen. Ich finde das finster und abschreckend.“
Noch im selben Jahr warb das Leitende Geistliche Amt der EKHN für eine differenzierte theologische Betrachtung und stellte in einem Grundsatzdokument fest, dass das Kreuz unterschiedlich gedeutet werden könne; die opfertheologischen Deutungen seien nur eine Möglichkeit. In eine ähnliche Richtung versuchte 2010 eine gutgemeinte, aber komplett überpädagogisierte Arbeitshilfe der rheinischen Landeskirche unter dem Titel „Aus Leidenschaft für uns. Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu“ zu gehen. Leider erreichte dieser Text bei weitem nicht das Reflexionsniveau der EKHN-Studie und beschränkte sich auf meditative Impulse und liturgische Vorschläge. Theologisch verlief die Debatte nach 2010 mehr oder weniger im Sande.
Fünf Jahre später hat nun der Rat der EKD einen von der Kammer für Theologie erarbeiteten Grundlagentext mit dem Titel „Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu“ veröffentlicht. Und wie es in EKD-Texten so üblich ist, wird versucht, für alle Richtungen Verständnis zu zeigen und in großer Harmonie auf die bevorstehende Allversöhnung hinzuarbeiten. Wer dieses Verfahren wegen der zurecht geübten massiven Kritik im Falle der berühmt-berüchtigten „Orientierungshilfe“ zu Ehe und Familie in Zweifel zieht, muss im vorliegenden Fall umdenken: Tatsächlich zeichnet sich das gewählte Verfahren, alle Positionen zu berücksichtigen, als das wohl einzig sachangemessene aus.
Nach dem obligatorischen Vorwort des aktuellen Ratsvorsitzenden und einer knappen Einführung folgt eine etwa 30-seitige Analyse des biblischen Befundes. Etwa die Hälfte des 194-seitigen Textes machen die Teile III. und IV, nämlich die „theologiegeschichtlichen Erkundungen“ und die „frömmigkeitsgeschichtlichen Einblicke“, aus. Diese Rekonstruktion der unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Deutungen des Kreuzestodes Jesu in ausgewählten Epochen der Kirchengeschichte und, im Falle von Reformation und Neuzeit, bei unterschiedlichen Autoren der gleichen Epoche, stellt sich nach Lektüre des gesamten Textes als die eigentliche theologische Leistung der Autoren heraus. Nicht nur, dass es herrliche Miniaturen zu genießen gibt – wohl selten ist es jemandem gelungen, die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury auf so engem Raum so klar darzustellen –, auch die theologischen Grundentscheidungen an den historischen Wendepunkte etwa in der Reformationszeit und im Transformationsprozess vom Alt- zum Neuprotestantismus unter dem Einfluss von Pietismus, Aufklärung und Rationalismus, werden deutlich. Und innerhalb der einzelnen Wendepunkte kommen jeweils die entscheidenden Positionen in ihrer Unterschiedlichkeit zum Tragen und können vom Leser nachvollzogen werden: So folgen der Darstellung von Luthers Kreuzestheologie die „Akzente reformierter Theologie“, und dem individualethischen Blick Immanuel Kants auf die „allerpersönlichste Schuld“ kontrastiert die „Wirkung Jesu Christi auf das neue Gesamtleben vom Menschen“ bei Friedrich Schleiermacher. Dass mit einem Blick auf „Hegels Verständnis des Kreuzesgeschehens“ gerade jener Philosoph, dessen gegenwärtige Rezeption in starkem Kontrast zu seiner enormen Wirkungsgeschichte steht, wieder einmal Gegenstand einer kirchenoffiziellen Abhandlung wird, sei nur am Rande notiert.
Es ist bezeichnend, dass sich die Darstellung aktueller Positionen nicht an theologischer Literatur, sondern an Phänomenen religiöser Ästhetik und Gegenwartsdeutung orientiert. So geht es unter V. („Für uns gestorben“ – Wiederentdeckung des Kreuzes?) um den Mentalitätswandel an der Jahrtausendwende, Passionskonzerte, Jesusfilme, neue Lieder und die immer wieder neuen Individualisierungsschübe der postmodernen Gesellschaft. Die zuvor dargestellten biblischen, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Erwägungen waren kein gelehrter Selbstzweck, so die Botschaft, sondern notwendiger Wissensbestand, um die vielfältigen Spuren der Passionsgeschichte im kollektiven Gedächtnis des Abendlandes zu entdecken und damit die Semantik unserer christlichen Existenz richtig verstehen zu lernen.
Eine Verständigung über das Kreuzesgeschehen kann demnach nur als mehrschichtiger Prozess gedacht werden. Von daher wäre es nicht nur unangemessen, sondern dem Gegenstand gegenüber respektlos, würden die Autoren auf den verbleibenden 30 Seiten das zu leisten versuchen, was weder einem Martin Luther, noch einem Friedrich Schleiermacher und all den anderen gelungen ist, nämlich eine Deutung des Todes Jesu vorzulegen, die keine offenen Fragen mehr kennt. Der Text endet deshalb mit einem Katalog der „wichtigsten gegenwärtigen Fragen an den Sinn von Jesu Leiden und Tod“ und dem Versuch einer Antwort auf jede dieser Fragen.
Wie das aussieht, kann exemplarisch an einer Frage nachvollzogen werden, die den Opfergedanken vom Neuen Testament bis in die Gegenwart verfolgt. Die Frage lautet: „Wieso ist aber im Neuen Testament und auch danach in Liedtexten und sogar in Predigten vom Opfer die Rede?“ Die Antwort verweist zunächst darauf, dass das Opfermotiv nur „einer von mehreren Deutungsversuchen des Todes Jesu“ sei und diene, wie alle anderen Deutungsversuche auch, einer Annäherung an das Verständnis dieses Todes. Dabei, so weiter, führe das Opfermotiv „besonders eindringlich die Bedingungslosigkeit der Hingabe vor Augen, in der Gott in Jesus Christus für die Menschen eintritt“. Freilich biete das Opfermotiv keine erschöpfende Deutung des Todes Jesu. Das biblische Repertoire an Deutungsmotiven kenne noch weitere Möglichkeiten, etwa die Motive „vom Passalamm, vom Loskauf, von der Stellvertretung und von der Neuschöpfung“. Entscheidend ist dann der Hinweis, jedes dieser Motive stelle „auf seine Weise ein entscheidendes Moment des Todes Jesu in den Vordergrund“.
Der Text argumentiert folglich mit der Vielschichtigkeit des biblischen Zeugnisses und macht somit, ohne es auszusprechen, klar, dass jede sich als abschließend verstehende Deutung der Komplexität dieses Zeugnisses nicht gerecht wird. Eine zweitausendjährige Auslegungsgeschichte lässt sich nicht durch eine weitere Auslegung beenden, sondern drängt nach ständiger Fortschreibung. Gute Theologie war sich zu jeder Zeit dieser hermeneutischen Regel bewusst, und sollte diese einmal nicht mehr gelten, wäre es das Ende der Theologie, wie wir sie kennen.A