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Langweilige Theologie. Von Martin Schuck.

08/2016

Theologie treiben beinhaltete schon zu allen Zeiten die Aufgabe, das Gott-Welt-Verhältnis der Zeitgenossen zu ergründen, zu reflektieren und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu konfrontieren. Dabei orientierte sich die Form der Theologie meist sehr genau am Zustand ebendieser gesellschaftlichen Verhältnisse.
Brachte das frühe Mittelalter eine lange Periode statischer Verhältnisse, so war die Scholastik legitimer Ausdruck dieser Verhältnisse. In genau dem Augenblick, als diese Statik, verursacht durch die Entwicklung des Städtewesens, durch erste naturwissenschaftliche Forschungen und durch humanistische Bildungsinitiativen, aufzubrechen begann, ging dieser Riss auch durch die scholastische Theologie und Philosophie und es entstand die Scheidung in Nominalismus und Realismus. Die weitere Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse mündete kirchenpolitisch in die Reformation mit ihrer sehr dynamischen Theologieentwicklung, je nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Formationen in eine lutherische (ländlich-feudale) und eine reformierte (städtisch-frühbürgerliche) Variante. Der zumindest in Mitteleuropa misslungene Versuch der physischen Vernichtung der Reformation führte auf der aktiven (katholischen) Seite zur ebenfalls recht produktiven Theologieentwicklung des Trienter Konzils, das als Geburtsort der modernen römisch-katholischen Kirche gelten kann; auf der passiven (reformatorischen) Seite bildeten sich dagegen Strategien zur Sicherung des Erreichten aus, die sich als konfessionell-theologische Systembildungen der lutherischen und reformierten Orthodoxie darstellten.
Die nach der Reformation für die europäische Geistesgeschichte wohl produktivste Periode war die Zeit der Aufklärung; die in ihr sich vollziehenden Transformationsprozesse des Denkens übertrugen sich vollständig auf die Theologie und führten zur Neuformulierung der klassischen Inhalte reformatorischer Theologie unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität. Aber erst die Phase der Restauration nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon und dem Wiener Kongress führte die Theologie mit Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher zu jener Systembildung, die in der Philosophie bereits nach der Französischen Revolution mit den vernunftkritischen Werken von Immanuel Kant abgeschlossen war.
So wie sich die Werke der Philosophen in der Nachfolge Kants, namentlich bei Fichte und Hegel, als Bemühung zur Konsolidierung der Aufklärungsphilosophie durch die Phase des deutschen Idealismus hindurch zu statischen Entwürfen der Restauration lesen lassen, so leitet in der Theologie Schleiermacher diese Konsolidierungsbemühung direkt ein – unter Auslassung des idealistischen Umweges. Das restliche 19. Jahrhundert ist geprägt durch allerlei Ungleichzeitigkeiten, die sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie ihren Ausdruck gefunden haben; in der Philosophie etwa in der doppelten Nachwirkung Hegels sowohl im Marxismus als auch in der preußischen Staatstheorie Friedrich Julius Stahls und in der Theologie in der Abarbeitung des Schleiermacher’schen Systems durch die liberale Theologie ohne direkte Verbindung zur parallel verlaufenden Entwicklung des konfessionellen Luthertums.
Zu einer weiteren Transformation innerhalb der Theologie führte die Abkehr vom landesherrlichen Kirchenregiment nach 1918, und jetzt waren es die in die Selbständigkeit entlassenen Kirchen selbst, die immer mehr zum Gegenstand theologischen Nachdenkens wurden. Eine der letzten Äußerungen, die nicht die Kirchen-, sondern die Zeitbezogenheit der Theologie fordert, stammt von Ernst Troeltsch aus dem Jahr 1913: „Die heutige Dogmatik soll der heutigen Zeit dienen, die keine Zeit der Kirchengründung, sondern der religiösen Unruhe und Krisis, der intellektuellen und ethischen Umwälzungen ist. Da müssen die Kirchen, gerade um dem Leben zu genügen, individuelle Freiheit gewähren und kann gerade eine solche Dogmatik vielen Gläubigen entsprechen, während anderen Gruppen andere dogmatische Leitfäden entsprechen werden. Wenn die Kirchen diese Weitherzigkeit nicht mitmachen wollen oder können, so werden sie in den Hintergrund gedrängt werden. […] Die heutige Krise wird nicht durch kirchliche Neugründungen, sondern durch Ausweitung und Beweglichmachung der Kirchen überwunden.“
Spätestens mit dem Siegeszug des Barthianismus als wirkmächtiger Kirchentheorie Nachkriegsdeutschlands wurde die von den Barthianern gerne im Mund geführte Zeitbezogenheit der Theologie immer mehr zum reinen Postulat, denn es ist jetzt die Kirche, die selbst sowohl zum Produzenten als auch zum Adressaten der Theologie mutiert. Exemplarisch für diese neue Kirchentheorie stehen Sätze aus Barths Vortrag „Offenbarung Kirche Theologie“, der 1957 im dritten Band der „Gesammelten Vorträge“ abgedruckt wurde: „Theologie ist wie alle anderen Funktionen der Kirche ausgerichtet auf das Faktum, daß Gott gesprochen hat und daß der Mensch hören darf. Theologie ist ein besonderer Akt der Demut, die dem Menschen durch dieses Faktum geboten ist. Darin besteht dieser besondere Akt der Demut: in der Theologie versucht die Kirche, sich immer wieder kritisch darüber Rechenschaft zu geben, was es heißt und heißen muß vor Gott und vor den Menschen: Kirche zu sein. Existiert doch die Kirche als eine Versammlung von Menschen, und zwar von fehlbaren, irrenden, sündigen Menschen. Nichts ist weniger selbstverständlich als dies, daß sie immer wieder aufs neue Kirche wird und ist. Sie existiert unter dem Gericht Gottes. Eben darum kann es nicht anders sein, als daß sie sich auch selbst richten muß, nicht nach eigenem Gutdünken, sondern nach dem Maßstab, der identisch ist mit dem Existenzgrund, also nach Gottes Offenbarung und also konkret nach der Heiligen Schrift. Und eben dies: die immer wieder notwendige und gebotene Selbstprüfung der Kirche am Maßstab des göttlichen Wortes ist die besondere Funktion der Theologie in der Kirche.“
Kurz vorher reflektierte Barth im gleichen Vortrag über die Wissenschaftlichkeit der Theologie und führte dabei eine Kategorie ein, die verblüffen lässt, nämlich die Kategorie der Langweiligkeit: „Gibt es eine Wissenschaft, die so ungeheuerlich und so langweilig werden könnte wie die Theologie? Der wäre kein Theologe, der nicht von ihren Abgründen noch nie erschrocken wäre oder der vor ihnen zu erschrecken aufgehört hätte.“
Barth zeichnet eine Korrelation von Wissenschaft, menschlicher Wirklichkeit und Wahrheit, deren Pointe darin besteht, dass ästhetische und psychologische Wahrnehmungen darüber entscheiden, ob Theologie ihre Bestimmung erreicht oder eben verfehlt, und nichts anderes als das Verfehlen ihrer Bestimmung lässt das Prädikat langweilig als angemessene Beschreibung erscheinen: „Unter allen Wissenschaften ist die Theologie die schönste, die den Kopf und das Herz am reichsten bewegende, am nächsten kommend der menschlichen Wirklichkeit und den klarsten Ausdruck gebend auf die Wahrheit, nach der alle Wissenschaft fragt, am nächsten kommend dem, was der ehrwürdige und tiefsinnige Name einer ‚Fakultät’ besagen will, eine Landschaft mit fernsten und immer noch hellen Perspektiven wie die von Umbrien oder Toskana und ein Kunstwerk, so wohl überlegt und so bizarr wie der Dom von Köln oder Mailand. Arme Theologen und arme Zeiten in der Theologie, die das etwa noch nicht gemerkt haben sollten. Aber unter allen Wissenschaften ist die Theologie auch die schwierigste und gefährlichste, diejenige, bei der man am ehesten in der Verzweiflung oder, was fast noch schlimmer ist: im Übermut endigen, diejenige, die zerflatternd und verkalkend, am schlimmsten von allen zu ihrer eigenen Karikatur werden kann.“
Da genau an diese Passage die Frage nach der Möglichkeit von Langeweile anschließt und aufgrund der nur rhetorisch gestellten Frage die Antwort gleich mitgesetzt ist – ja, Theologie kann langweilig sein –, entsteht eine inhaltliche Unklarheit, wie genau Theologie beschaffen sein muss, um Langeweile zu vermitteln; das Zitat bietet als Möglichkeiten an: schwierig, gefährlich, in die Verzweiflung treibend, im Übermut endend, zerflatternd, verkalkend sowie zur eigenen Karikatur werdend.
Was also ist langweilige Theologie? Ich wage die Behauptung, dass Theologie genau dann langweilig ist, wenn sie weder in zeitdiagnostischer noch in wirklichkeitserschließender Absicht betrieben wird. Langweilige Theologie wird also vor allem dort getrieben, wo Theologie nachgefragt wird entweder zur institutionellen Selbstrechtfertigung der Kirche oder wo ein scholastischer Umgang mit Bekenntnistexten gepflegt wird, der die Glaubenspraxis der Zeitgenossen ebenso ignoriert wie die Transformationsprozesse der Neuzeit. Der erste Fall ist beispielhaft zu beobachten an der kürzlich vorgenommenen Selbsterklärung der EKD zur Kirche, der zweite geschieht auf geradezu klassische Weise in den ökumenischen Dialogen zwischen evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche.
Zum ersten Fall: In der Debatte um die „Kirchwerdung“ der EKD werden eigentlich keine echten theologischen Argumente gebraucht, sondern ein einziger theologischer Satz wird zum Zwecke der institutionellen Selbstrechtfertigung so ausgelegt, dass sich aus ihm Konsequenzen kirchenpolitischer Art ziehen lassen. Der Satz: Die EKD „ist als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen Kirche“ ist als theologischer Satz dann richtig, wenn er die ebenso grundlegende wie banale Wahrheit ausdrückt, dass die EKD als Bund rechtlich selbständiger Kirchen Teil der einen weltumspannenden Kirche Jesu Christi ist. Dieser Satz bedarf keiner weiteren theologischen Diskussion. Die Diskussion, die sich diesem Satz anschloss, wurde jedoch nicht in theologischer, sondern in kirchenpolitischer Absicht geführt. Das Ziel bestand nicht darin, eine dogmatische Wahrheit auszudrücken, sondern darin, eine kirchenrechtliche Setzung auf den Weg zu bringen, die bei Bedarf ausbaufähig ist und eine Zentralisierung der kirchlichen Verwaltung im Kirchenamt der EKD ermöglicht. Eine solche Absicht muss jedoch offen kommuniziert und ehrlich diskutiert werden. Mit Theologie hat das alles sehr wenig zu tun, und dementsprechend wenige Theologen ließen sich auf diese Debatte ein. Machttaktische Absichten einer kirchlichen Institution in theologische Argumente zu transformieren, mag für die mit dieser Aufgabe befassten Theologen interessant und sogar lehrreich sein. Auf die Rezipienten wirkt diese Art von Theologie einfach nur – langweilig.
Zum zweiten Fall: Seit die römisch-katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil beschlossen hat, sich mit einem eigenen Ökumenismusprogramm an der ökumenischen Bewegung zu beteiligen, führen vom Vatikan eingesetzte Dialoggruppen Lehrgespräche mit Vertretern der evangelischen Konfessionskirchen mit dem Ziel, Schritte auf dem Weg zur sichtbaren Einheit der Kirche zu gehen. Obwohl die sichtbare Einheit die Zielperspektive einzig der römisch-katholischen Kirche ist, wird dieses Programm wie selbstverständlich als Leitperspektive für sämtliche Dialogteilnehmer unterstellt. Die Zielperspektive der evangelischen Kirchen, Kirchengemeinschaft in der versöhnten Verschiedenheit nebeneinander existierender Konfessionskirchen zu praktizieren, findet in den veröffentlichten Texten keinerlei Beachtung.
Die theologische Gratwanderung der evangelischen Teilnehmer in den Dialoggruppen besteht nun darin, Verständigung mit den römisch-katholischen Teilnehmern einzig über einen Bestand an Lehrformulierungen, der in den konfessionellen Bekenntnisschriften aus dem 16. Jahrhundert niedergelegt ist, erreichen zu sollen. Diese Vorgabe ignoriert jedoch die Realität fast aller evangelischer Kirchen, da diese Bekenntnisse zwar einen auch heute noch gültigen Grundkonsens über das Verständnis des Glaubens aussagen, aber ihre Rolle als disziplinierende Instanz im Verhältnis zwischen den Gläubigen und der kirchlichen Obrigkeit seit dem Ende der lutherischen und reformierten Orthodoxie verloren haben. In der römisch-katholischen Kirche wird jedoch gerade diese disziplinierende Wirkung vorausgesetzt, wie die restriktive Zulassung auch der katholischen Christen zur Eucharistie deutlich macht.
Aufgrund der Rolle, die die Lehre innerhalb der katholischen Kirche spielt, kann dort die Einheit der Kirche nur als Gemeinschaft mit einer einheitlichen Lehre, für deren Vollständigkeit und Wahrheit der Papst steht, gedacht werden. Die evangelische Vorstellung von Einheit verwirklicht sich dagegen in einer Gemeinschaft, die sich zwar über die Wahrheit des Evangeliums verständigen kann, aber gerade deshalb eine Pluralität von kirchlichen Bekenntnissen akzeptieren und diese sogar als sichtbares Ergebnis der Freiheit des Evangeliums positiv würdigen kann.
Diese beiden Konzepte sind Ausdruck unterschiedlicher Auffassungen vom Kirchesein, und gerade deshalb ist es für evangelische Theologen eine überaus unbefriedigende Aufgabe, sich in Dialogkommissionen Gedanken darüber zu machen, wie man auf bekenntnispositivistische Weise Formulierungen auf gemeinsame Aussageinhalte hin untersucht, die nur als „differenzierter Konsens“ zur Darstellung gelangen können und keinerlei praktische Konsequenzen haben, weil die ökumenischen Kernfragen wie Kirchen- und Amtsverständnis aufgrund eines nicht kompatiblen Offenbarungsverständnisses unlösbar sind.
Wieder gilt: Die Teilnehmer der ökumenischen Kommissionen mögen ihren Spaß und sogar persönliche Befriedigung an dieser Art des Theologietreibens finden. Beim Lesen der veröffentlichten (und in aller Regel nur einseitig oder gar nicht ratifizierten) Dokumente stellt sich dagegen schnell Langeweile ein.
Vielleicht kann in Zeiten, wo die Kirche sich selbst zum Gegenstand der Theologie macht, Theologie, die sich darauf einlässt, gar nichts anderes sein als langweilig. Das muss aber nicht so bleiben. Ändern wird es sich genau dann, wenn die Vertreter der wissenschaftlichen Theologie selbst merken, dass sie es sind, die für die Themen der Theologie zuständig sind – und nicht die Kirchenämter.