Wie politisch war die Praktische Theologie in Ostdeutschland?
PThI, 30. Jahrgang, 2010-1, S. 20–32 urn:nbn:de:hbz:6-97419497807
4. Versuch einer thesenartigen Bilanz
a) Die ostdeutsche Theologie ist maßgeblich von Traditionen Praktischer Theologie bestimmt worden, in denen politische Aspekte zum selbstverständlichen Themenspektrum zählten.
b) Dabei begegnen unterschiedliche argumentative Typen einer politischgesellschaftlich akzentuierten Theologie:
•ein auf kritisches Verstehen setzender Argumentationstyp wie bei Alfred Dedo Müller, der sich u. a. trinitätstheologisch auf lutherische Schöpfungstheologie und den durch sie gegebenen Erkenntnisspielraum der modernen Wissenschaften bezieht, aber zugleich auf eine kritisch eingesetzte Reich-Gottes-Theologie;
•ein staatlich domestizierter Typ, der im Sinne einer strikten Trennung zwischen Staat und Kirche, zwischen der politisch maßgeblichen marxistischen Weltanschauung und einer privat und kirchlich wirksamen christlichen Gesinnung jede eigenständig-kritische Reflexion gesellschaftlicher Phänomene durch Christen ausschließt;
•und ein christologisch fundierter gesellschaftskritischer Typ, der gesellschaftliche Entwicklungen von der umfassenderen Perspektive des Handelns Gottes her kritisch würdigt und überholt.
c) Wirkungsgeschichtlich ist der dritte Typ für die Entwicklung der Kirche in der DDR, aber auch für die gesellschaftlichen Veränderungen in ganz Deutschland ausschlaggebend geworden, wie sie sich 1989/90 ereigneten. Er allein war während der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in der Lage, dem staatlichen Druck zur politischen Domestizierung der Christen Widerstand zu bieten und einer eigenständigen kritischen Wahrnehmung der Situation Raum zu schaffen. Diese Tatsache sollte uns gegenwärtig beim Nachdenken über eine heutige politische Praktische Theologie zu denken geben.