Kann die Kirche unsere Gesellschaft noch prägen? Von Martin Schuck.

03/2015, Pfälzisches Pfarrerblatt

Nach 1945 wurde von Vertretern dieser Generation jede politische Entscheidung zu einer Frage des Bekenntnisstandes ausgerufen: Die Wiederbewaffnung, die Militärseelsorge, die Atomrüstung, später die Fragen der Weltwirtschaft und die Ökologie. Im Protestantismus der Nachkriegszeit entstand eine Tendenz, eine Gegenwirklichkeit zur säkularen Welt aufbauen zu wollen. Man war bis in die Haarspitze politisiert, aber unfähig zur Kommunikation mit den Vertretern des politischen Systems der Gesellschaft. Karl Barth, der große theologische Meister in dieser Zeit, hegte in aller Öffentlichkeit große Sympathien für den starken Kirchenbegriff des Katholizismus, obwohl er ansonsten katholisierenden Tendenzen gegenüber eher unverdächtig war. Hatte Barth sein mehrbändiges theologisches Hauptwerk mit den ersten Bänden begonnen als „Christliche Dogmatik“, so nannte er es mit den Folgebänden um in „Kirchliche Dogmatik“. Beklagte Niemöller noch 1939, dass es eigentlich gar keine evangelische Kirche gäbe, sondern nur eine protestantische Zweckgemeinschaft, so wurde plötzlich die Kirche zum Maß aller Dinge. Am liebsten hätte man die ganze Welt zur Kirche gemacht, denn irgendwie war die Kirche für alles zuständig, weil es ja immer ums Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums ging.

Heute wird es zunehmend schwerer, diesen stark ideologisch aufgeladenen Kirchenbegriff der Nachkriegszeit aufrecht zu halten. Heutigen Protestanten ist glücklicherweise nicht mehr vermittelbar, dass man zu denen gehört, die über den Lauf der Welt exklusiv Bescheid wissen und deshalb allen anderen zu sagen haben, wo es vor allem in der Politik, aber auch in der Wirtschaft, langzugehen hat. Der Protestantismus ist bescheidener geworden und endlich aus den Schützengräben des Kirchenkampfes herausgekrochen. Seit einiger Zeit wagt man sich wieder, an alte Traditionen anzuknüpfen, wie etwa die Beschäftigung mit der Kultur. Auch ist man wieder bereit, sich als Vertreter einer Religion unter anderen zu verstehen, und hochrangige Vertreter beider Kirchen haben den Dialog mit Vertretern anderer Religionen als theologische Aufgabe entdeckt. Auch das war nach 1945 verpönt. Religiös waren die anderen, die Götzendiener. Als evangelischer Christ glaubt man an Jesus Christus, und der ist bekanntlich Ende und Erfüllung jeder von Menschen gemachten Religion und verweist die Götzen auf ihre Plätze in der hinteren Reihe. Nicht der Dialog, sondern die Verkündigung des Wortes war die angemessene Haltung diesen anderen Religionen gegenüber. Katholischerseits war es nicht viel anders: Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gab es keinerlei positive Verhältnisbestimmung zu anderen Religionen, ja nicht einmal zu anderen christlichen Konfessionen.

Der Protestantismus von heute bekennt sich gerne zu seiner innergesellschaftlichen Verantwortung, weiß aber nicht so genau, wie man das macht. So richtig in die Politik eingreifen, „dem Rad in die Speichen greifen“, wie Dietrich Bonhoeffer mal gesagt hatte und wie man das in den 50er, 60er und auch 70er Jahre tun wollte aber nur begrenzt konnte, traut man sich heute mit guten Gründen nicht mehr. Aber leider fehlen auch die protestantischen Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur, die hierzu noch am ehesten die Möglichkeit hätten. Beim Deutschen Evangelischen Kirchentag beispielsweise merkt man, dass es immer schwieriger wird, überregional bekannte Persönlichkeiten zu finden, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit auch kirchlich engagiert sind und als protestantische Laien aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur den Kirchentag repräsentieren können.

Auch dieser Missstand ist ein Erbe der Zeit nach 1945. Immer mehr gebildete und gesellschaftlich einflussreiche Leute kehrten in den Jahrzehnten nach Kriegende und verstärkt in den späten 60er, 70er und 80er Jahren einer ideologisch aufgeladenen evangelischen Kirche den Rücken. Wer nur Abwehrkämpfe gegen alles führt, darf sich auch nicht wundern, wenn diejenigen Menschen, die lieber gestalten als niederreißen wollen, ihre Heimat woanders suchen. Vieles von dem, was die evangelischen Kirchen wollten, war sicherlich inhaltlich richtig. Aber die Form, wie es ausgetragen wurde, wie man sich innerhalb der Gesellschaft positioniert hatte, das war einer evangelischen Kirche nicht unbedingt würdig – allzu oft verwechselte man den Anspruch des Protestantischen mit einer sturen, unversöhnlichen Haltung des Protestes und verkaufte diese ganze Rechthaberei auch noch als Ausübung eines „prophetischen Amtes“.

In diesem Zusammenhang halte ich es für angebracht, aus der Verfassung der „Vereinigten protestantisch-evangelisch-christlichen Kirche der Pfalz“ von 1818 zu zitieren. Dort wurde an entscheidender Stelle, nämlich in der Präambel, vom „Wesen des Protestantismus“ gesprochen. Es gehöre „zum innersten und heiligsten Wesen des Protestantismus […], auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit und echt religiöser Aufklärung, mit ungestörter Glaubensfreiheit mutig voranzuschreiten“, wurde dort formuliert. Klarer hätten die Väter der Pfälzischen Union ihr Verständnis des Protestantischen nicht artikulieren können: Religiöse Gewissheit und Aufklärung, christliche Wahrheit und Glaubensfreiheit gehören für sie untrennbar zusammen. Das ist etwas anderes als reiner Protest um des Protests willen; es ist vielmehr eine Haltung der kritischen Solidarität mit der Welt, in die man als Christ hineingestellt ist und die man in ihrer Säkularität ernst nehmen muss…

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