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Terror und Technokratie. Ein Interview mit Mathias Burchardt

9. August 2016

Herr Burchardt, die letzten Wochen waren überschattet von Attentaten und Amokläufen. Der Terror ist allgegenwärtig, wie es scheint. Die Menschen leben in Angst. Was erleben wir hier?...

Mich interessiert das Thema vor allem insofern, als dass es eine ebenso interessante wie bedenkliche Zeitdiagnose ermöglicht: Noch erschreckender als die jeweiligen Ereignisse selbst ist meines Erachtens nämlich die Sprach- und Deutungslosigkeit der sonst so forschen Meinungsführer im öffentliche Raum. Stellt man die Ereignisse der letzten Wochen zusammen, treten doch erhebliche Erklärungslücken und Deutungsunsicherheiten zutage, die nicht einmal durch Propagandameldungen verdaulich gemacht werden konnten: Amokläufe, Rassismus in den USA, Brexit, Bankenkrise, Flucht, Krieg in EU-Nähe, Banken- und Finanzkrise, Putsch in der Türkei.
Krise der politischen Narrative? Wie meinen Sie das?

Unter „Narrativ“ verstehe ich eine interessengeleitete Erzählung, die Ereignisse in eine Sinnklammer einbettet und dadurch das Denken, Handeln und Wahrnehmen von Gesellschaften lenkt. Narrative haben dabei weniger Wahrheitswert als vielmehr eine Steuerungsfunktion. Sie funktionieren, weil sie permanent wiederholt werden und virale Ausbreitung finden, ohne dass die Frage nach der Autorenschaft und den blinden Flecken gestellt würde. Die Verfänglichkeit der Narrative resultiert dabei aus dem legitimen Bedürfnis der Menschen nach Sinnzusammenhängen…

Damit ich das verstehe: Ihre Grundthese ist also, dass es inzwischen keine „großen Erzählungen“ mehr gibt und der neoliberalen Ideologie, nachdem sie all diese und ihre Sinnzusammenhänge erst entstellt und schließlich verschliffen hat, inzwischen selbst die Legitimation wegbricht, sie an Glaubwürdigkeit verliert? In dem Sinne, dass man das Irrationale kaum mehr vernünftig und rational zu begründen vermag – oder wie ist das gemeint?…
Die funktionale Inklusion aller Lebensbereiche, mit anderen Worten der ökonomische Totalitarismus, hat mittlerweile alle gesellschaftlichen Einrichtungen zersetzt und hinterlässt eine Wüste aus toxischen Spaltprodukten. Von welchem Ort, von welcher Institution könnten da noch heilsame Impulse ausgehen?

Die Wissenschaft beispielsweise hat sich im Zuge von Ökonomisierung und Bologna längst von den Leitideen der Bildung und Wahrheitsfindung losgesagt, die Kirchen haben durch Unternehmensberatungen das ökonomistische Regime importiert und konterkarieren die gelegentliche Kapitalismuskritik von den Kanzeln durch Ausbeutung der eigenen Angestellten und manageriales Steuern. Die Gewerkschaften sind längst hierarchische Apparate, die im Zweifel in ihrer Breite doch jeden Sozialabbau oder Krieg mitzutragen bereit sind und – wie etwa die IG Metall – dann eben eigene „Privatrenten“ als Lösung der allumfassenden Misere an ihre Mitglieder offerieren… Mehr dazu.

 

Religiosität und Sinnsuche in modernen Gesellschaften

3.6.2013; von Geert Hendrich, Bundeszentrale für politische Bildung

Fast 70 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als „religiös“. 28 Prozent bekennen sogar, „tief religiös“ zu sein, während für eine „nur“ gleich starke Gruppe Religion keine Rolle spielt. Es sind solche Zahlen des Religionsmonitors von 2008,[1] die in der Öffentlichkeit den Eindruck befördert haben, unsere modernen, säkularen Gesellschaften erlebten eine Renaissance des Religiösen, zumal auch weltweit der Einfluss von religiöser Orientierung zunimmt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die gleichzeitige Krise, in welche die (westliche) Moderne selbst geraten ist: Zum einen scheint es, als hätten „die großen säkularen Rahmenerzählungen der modernen Welt (…) die Versprechen, die sie in die Welt gesetzt haben, irgendwie nicht eingelöst“.[2] Fortschritt und Wachstum, Freiheit und Selbstbestimmung, Demokratie und Humanismus bieten als „weltliche Sinnangebote“ (Gerhard Gamm) keine ausreichende Orientierung mehr. Zum anderen haben die gesellschaftlichen Auswirkungen der Modernisierungsgeschichte in der allgemeinen Wahrnehmung an Bedrohlichkeit eher zugenommen: Die Welt scheint nicht friedvoller und sicherer, nicht humaner und gerechter geworden zu sein. Es ist also zunächst nicht verwunderlich, wenn in der Folge das Thema „Religion“ als Angebot, in „einer entzauberten Welt besser zurechtzukommen“ (Gamm), wieder aktuell geworden ist. Mehr dazu.

Prof. Christoph Schwöbel: Gnadenlose Postmoderne

Postmoderne „bedeutet, daß man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt“ (Lyotard)

Spirituelle Folge, so der Autor Prof. Chr. Schwöbel, Tübingen, ist der Verlust der Gnade, d.h. die Erfahrung eines Angenommenseins und -werdens durch Gott, das vor und jenseits aller eigenen Leistung und Rechtfertigung liegt…