Atheismus im Mittleren Osten. Eine postislamistische Generation?

17.12.2014,, Mona Sarkis, NZZ 

Die arabischen Aufstände scheinen gescheitert – und die radikalen Islamisten die Gewinner. Tatsächlich aber haben die Revolten von 2011 eine Bewegung freigesetzt, die vielfach unbemerkt blieb: die Hinwendung zum Atheismus. Dessen Anhänger sind dem «Islamischen Staat» zahlenmässig sogar weit überlegen.
2014 befragte die Al-Azhar-Universität, Ägyptens wichtigste religiöse Institution, 6000 Bürger und kam zum Ergebnis: 12,3 Prozent von ihnen sind Atheisten. 2012 befragte das renommierte Marktforschungsinstitut Win/Gallup International 502 Saudiaraber und kam zum Ergebnis: 19 Prozent von ihnen sind «nicht religiös», weitere fünf Prozent gar überzeugte Atheisten. Vorausgesetzt, dass diese Zahlen repräsentativ sind, hiesse das: Fast ein Viertel der rund 29 Millionen Saudis ist latent oder akut religionsmüde. Und das ausgerechnet in dem Land, das die heiligsten Stätten des Islam hütet und dessen Herrscherhaus seit 1744 seine gesamte Raison d’être auf einem fundamentalistischen Religionsverständnis aufbaut…

Artikuliert werden solche Fragen und Ideen vor allem in den sozialen Netzwerken. Über 70 arabisch- und englischsprachige Facebook-Seiten mit atheistischen Inhalten verzeichnet der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker von der Universität Wien 2013 in einem Überblick…

Dazu sehr klug in den Nachdenkseiten:

Anmerkung Orlando Pascheit: Wenn die junge Ägypterin fragt: “Es ist also aus religiöser Sicht gut, eine Frau wegen Ehebruchs zu steinigen – aber einen 70-Jährigen, der eine 10-Jährige heiratet, soll man beglückwünschen?!”, da fühlt sich der liberale wie auch der konservative Westler bestätigt und möchte am liebsten wie weiland Professor Higgins mehr sich selbst bejubelnd singen: I think she’s got it/ Ich glaub jetzt hat sie’s. Schwieriger wird es dann für unsere Fundis inklusive kirchlichen Spitzenpersonals, wenn Aynur fragt: “Gott gab den Homosexuellen Instinkte – verbietet ihnen aber, diese auszuleben. Wozu gab er sie ihnen dann? Um sie zu quälen?” Und schwierig wird es nicht nur für der politischen Islam, sondern auch geistliche Vertreter des ganz normalen Islam um die Ecke, wenn die junge Frau fragt: “Wenn Gott und Mensch zwei voneinander getrennte Entitäten sind, muss Gott doch räumlich begrenzt sein? Sonst könnte er ja in den Menschen einfliessen – womit Gott und Mensch eins wären” Da tut sich natürlich auch unser Geistlicher vor Ort schwer.
Es tut sich mehr im Nahen Osten als der so intensiv wahrgenommene Feldzug des IS. Mona Sarkis stellt in ihrem lesenswerten Artikel das Versagen des politischen Islam als Auslöser einer Bewegung in das Zentrum, von der der Soziologe Asef Bayat einen “Postislamismus” erhofft, als einem System, in dem radikale religiöse Lesarten schrittweise zugunsten einer Fusion mit zivilen Freiheiten aufgegeben werden. – Natürlich ist es interessant und erfreulich, wenn der saudische Scharia-Gelehrte und ehemalige Salafist Abdullah al-Maliki 2011 den Schlachtruf ‘Der Islam ist die Lösung’ in ‘Die Souveränität der Umma ist die Lösung’ abwandelte und damit laut Sarkis die Herrschaft der Individuen, Sippen oder Einzelparteien ablehnt und das Volk Referenzpunkt der Legislative ansieht. Sein Buch sei damit ein Plädoyer für ein demokratisches Modell. – Bemerkenswerter fand ich persönlich die Aussage des bekennenden Atheisten Syrers Fadi, es sei fatal, die Religion aus lauter Frustration über ihren Missbrauch durch Machtmenschen über Bord zu werfen. Ihn jetzt unreflektiert abschütteln zu wollen, hieße, ein Vakuum zu schaffen, das nicht die Souveränität der Völker, sondern den nächsten Absturz bringe. Das ist kritische Klugheit, die sich nicht mehr in einem einfachen “Dagegen” erschöpft.

vgl. Pos. 10, Anm. Orlando Paschelt

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