Politisches Entertainment in einem postdemokratischen Land
Von Hans-Jürgen Volk
Die letzte Bundestagswahl, die Menschen in größerem Umfang mobilisierte und sie mit Hoffnungen und Befürchtungen an die Wahlurnen treten ließ, war wohl die von 1998. Damals trat das Duo Schröder/Lafontaine gegen den altgeworden Kohl an und punktete vor allem mit sozialen Themen. Die Wahlbeteiligung lag am Ende bei 82,2 %. Seither sank das Interesse an Bundestagswahlen stetig, bis 2009 der magere Wert von 70,8 % erreicht wurde. Bei Landtags- und Kommunalwahlen sieht es noch deutlich bedrückender aus. Es gibt soziale Brennpunkte in Deutschland, in denen die Wahlbeteiligung sogar noch unter dem Niveau von Presbyteriumswahlen liegt. Menschen fühlen sich in wachsendem Ausmaß nicht mehr vertreten und haben den Eindruck, mit ihrer Stimmabgabe bei Wahlen nichts mehr bewegen zu können.
„Ja, wen soll man den wählen?!“ – wie ein Stoßseufzer klang der Satz einer älteren Dame wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2013. Es war bei einer Geburtstagsfeier. Vor etlichen Jahren hätte dieser Satz mit großer Wahrscheinlichkeit eine heftige Kontroverse, vielleicht sogar emotionalen Streit ausgelöst. Diesmal folgte betretenes Schweigen – eine Schweigeminute für die Demokratie, die so sehr an Vitalität verloren hat. Dann wandte sich die Runde wieder anderen Themen zu wie der Hüft-OP, die der Onkel ziemlich gut überstanden hat oder den Tomaten, die dieses Jahr einfach nicht reifen wollen.
Zurück zum Jahr 1998 – ich kann mich noch gut daran erinnern, wie damals im Presbyterium über Steuer- und Rentenpolitik heftig gestritten wurde und selbst im Seniorenkreis der Meinungskampf tobte. Ich selbst hielt mich als Pfarrer zurück und ging nur, dann allerdings entschieden, dazwischen, wenn gegen Ausländer und andere Minderheiten Stimmung gemacht wurde. Ich gehörte zu denen, die voller Hoffnung und Freude den Wahlausgang wahrnahmen. Endlich waren die Jahre der Stagnation vorüber. Ich erhoffte mir vor allem eine menschlichere Asylpolitik, eine stärkere Gewichtung ökologischer Aspekte und ein insgesamt sozialeres Deutschland. Viele werden ähnlich empfunden haben.
Enttäuschte Hoffnung nach Wahlen, dies treibt dies Interesse an Parteien nach unten. Eigentlich sollten die Inhalte eines engagierten Wahlkampfes nach einer Regierungsbildung in konkrete Politik münden. Spätestens seit der Bundestagswahl 2002 gilt dies immer weniger: auf einen Wahlkampf mit sozialen Themen folgte 2003 mit der Agenda 2010 so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was man den Wählerinnen und Wählern versprochen hatte. Nach der Wahl 2005 gab es eine Mehrwertsteuerhöhung von 3%. Die CDU hatten eine Anhebung von 2% propagiert, die SPD hatte die Anhebung der Mehrwertsteuer als unsozial abgelehnt. Welche böse Überraschung wartet nach dem 22. September 2013 auf den desillusionierten Bürger?
Dabei haben sich die Parteien diesmal beim Abfassen ihrer Wahlprogramme durchaus Mühe gegeben. Auf wichtigen Politikfeldern sind deutliche Unterschiede erkennbar – wer tiefer einsteigen möchte, kann sich hier recht gut informieren. Beispiel Europapolitik und Eurokrise: Ob man für eine Wirtschafts- und Sozialunion, Investitionsprogramme insbesondere in den südeuropäischen Ländern und Eurobonds plädiert wie mit unterschiedlichen Akzentsetzungen SPD, Linkspartei und Grüne oder für eine strikten Sparkurs eintritt, die „Vergemeinschaftung“ von Schulden trotz gemeinsamer Währung ablehnt und verbindliche Standards in der Sozial- und Steuerpolitik als Angriff auf die Marktwirtschaft denunziert wie es wiederum moderat oder entschieden CDU, CSU und FDP tun, von der AfD gar nicht zur reden, all dies scheint vordergründig gesehen alternative Politikansätze zu markieren. Man muss allerdings befürchten, dass nach einer Regierungsbildung recht bald die durchaus alternativen Konzepte bis zur Unkenntlichkeit zerrieben werden in der unübersichtlichen Gemeingelage der Einflüsse internationaler Gremien wie der Europäischen Kommission oder dem IWF, finanzstarken Lobbygruppen und tagesaktuellen Herausforderungen. Man weiß nicht was kommt und man weiß immer weniger, was man mit seiner Stimmabgabe bewirkt.
Ein Kennzeichnen postdemokratischer Zustände, wie Colin Crouch sie in seinem glänzenden Essay „Postdemokratie“ (Frankfurt 2008) beschreibt, ist das Abrutschen politischer Kontroversen in oberflächliches Entertainment. Der Bürger wird zum Marketingobjekt. Es sind nicht engagierte Bürgerinnen und Bürger, die innerhalb und außerhalb von Parteien vor Wahlkämpfen die Themen bestimmen. Es sind die PR-Teams der Parteien, die Themen setzen und ebenso Inhalte, die die Menschen durchaus bewegen könnten, bewusst ausklammern. So wird man davon ausgehen können, dass auch Wahlprogramme unter dem Gesichtspunkt verfasst und beschlossen werden, was gut ankommen könnte und was eben nicht. Nicht mehr die Leidenschaft für die Menschen, sondern der „Erfolg“ der eigenen politischen Formation steht an erster Stelle. Dazu passt, dass sich die politischen Formate in Wahlkampfzeiten immer mehr Unterhaltungssendungen angleichen. Dass der durchaus begabte Unterhaltungskünstler Stefan Raab im TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück als Moderator auftritt, spricht Bände.
Demokratie ist ein Projekt, das neuzeitlich eng mit der Aufklärung verbunden ist und den Menschen vom Herrschaftsobjekt zum Subjekt und Gestalter seiner Verhältnisse befreien möchte. Um dieses Projekt muss immer wieder neu gekämpft werden. Und da gibt es Hoffnung. Denn diejenigen, die aus einem elitären Bewusstsein heraus Partizipation zurückdrängen, müssen damit in unserer immer komplexeren Welt scheitern. Tragfähige Problemlösungen entstehen nur, wenn Menschen ermächtigt werden und dafür auch die nötigen Ressourcen erhalten, ihre Verhältnisse möglichst autonom selbst zu gestalten. Es ist geboten und lohnend, sich dafür mit langem Atem einzusetzen. Dass hierbei vor allem die wachsende Zahl derer, die in unserem reichen Land unter die Räder geraten, Ausgangspunkt sein muss, liegt eigentlich auf der Hand.