Aus: Ausgabe 09/2014, Christ und Welt
Unsere Autorin schätzt am Protestantismus das klare, kantige Wort. Doch sie hat in ihrer Kirche den Eindruck, in einem Verein der Leisetreter gelandet zu sein. Protokoll eines Unbehagens.
Das letzte Mal überraschte mich die evangelische Kirche angenehm, als ein Pfarrer über das Böse sprach. Es war in einem Gottesdienst vor ein paar Wochen in Hamburg, und der Pfarrer sagte, dass die Kirche aufgehört habe, über das Böse zu sprechen, weil sie ihr bürgerliches Publikum nicht vertreiben wolle. Ich habe das oft gedacht, aber die Kirche wäre einer der letzten Orte, wo ich einen Verfechter dieser These vermuten würde…
Natürlich ist es nicht so, dass die Kirche keine Positionen vertreten würde: Sie ist für den Klimaschutz und gegen Menschenhandel, sie ist gegen Massenvernichtungswaffen und für gerechten Handel. Sie ist für alles, wofür bürgerliche Mehrheiten sind. Im Grunde vertritt sie das Prinzip Merkel, sich nicht zu früh und nicht zu spät die Meinungen des Wahlvolks auf die Fahne zu schreiben und dann so zu tun, als hätte man sie als Erste geschwungen. Die evangelische Kirche prangert die Exzesse des Kapitalismus an, so wie es heute zum guten Ton gehört, und sieht mit der gleichen Verve wie die Mehrheit der Bevölkerung darauf, dass sich ihr Geld möglichst stark vermehrt. Sie fordert gerechte und sozial verträgliche Arbeitsbedingungen und wehrt sich gegen Tarifverträge für ihre Angestellten. Sie will Leben schützen und sagt gern, dass alles Leben gleich viel wert sei, aber ein klares Wort gegen Pränataldiagnostik kann sie sich nicht abringen.
Friederike Gräff ist Journalistin. Von ihr erscheint demnächst im Christoph Links
Verlag das Buch „Warten“.