Hamburger Abendblatt, von Michael Jürgs
Dezember 1914, im Westen nichts Neues: Die Truppen des Deutschen Reiches haben sich in Sichtweite ihrer Gegner – Engländer, Franzosen, Belgier – in Schützengräben, bekränzt von Stacheldrahtverhauen, tief in den Lehmboden eingebuddelt. Die anderen halten es ebenso. Die Frontlinie des Stellungskrieges reicht vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze. Wie zwei blutrünstige Ungeheuer liegen sich die feindlichen Heere gegenüber. Oft nur hundert Meter voneinander entfernt. Doch in diesen Todesstreifen des Grauens geschieht Unglaubliches. Frieden bricht aus mitten im Krieg.
Anfangs ist es nur einer, der „Stille Nacht, Heilige Nacht“ vor sich hin singt. Leise klingt die Weise von Christi Geburt, verloren schwebt sie in der toten Landschaft Flanderns. Diesseits des Feldes, hundert Meter von diesem unsichtbaren Chor entfernt, in den Stellungen der Briten, bleibt es ruhig. Die deutschen Soldaten aber sind in Stimmung, Lied um Lied ertönt ein ungewöhnliches Konzert aus Tausenden von Männerkehlen rechts und links, wie einer nach Hause schrieb, bis denen nach „Es ist ein Ros‘ entsprungen . . . “ die Luft ausgeht. Als der letzte Ton verklungen ist, warten die Engländer drüben noch eine Minute, dann beginnen sie zu klatschen und zu rufen „Good, old Fritz“, und „Encore, encore“ und „More, more“. Zugabe, Zugabe…
Den Herren des Krieges auf beiden Seiten in den Generalstäben, weit ab von jedem Schuß, wird nach drei Tagen die weihnachtliche Ruhe unheimlich. Es droht daraus ein Frieden, beschlossen von unten gegen oben, zu wachsen. Das ist oben nicht erwünscht. Der Krieg dauerte noch viele Jahre und kostete rund neun Millionen Menschen das Leben. Das Wunder im Niemandsland blieb bis heute in allen Kriegen einmalig.
Zum Artikel im Hamburger Abendblatt
dazu das Buch:
Der kleine Frieden im Großen Krieg von Michael Jürgs
Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten
„Weihnachten an der Westfront 1914: Inmitten eines erbarmungslosen Stellungskrieges schließen deutsche, französische und britische Soldaten spontan Waffenstillstand auf Ehrenwort. Im Niemandsland feiern sie zusammen Weihnachten. Nach zwei Tagen ist es, auf Befehl von oben, wieder vorbei mit dem Frieden. Die Waffen sprechen wieder und der kleine Friedensschluß gerät im Dauerfeuer des Stellungskriegs bald in Vergessenheit.“ Zur Quelle.
Wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas:
Der Weihnachtsfrieden 1914 und der erste Weltkrieg als
neuer (west-)europäischer Erinnerungsort von SYLVIA PALETSCHEK, Prof. für Neuere und Neueste Geschichte, Freiburg
Originalbeitrag erschienen in: Barbara Korte (Hrsg.): Der ersten Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Essen: Klartext 2008, S. 213-221
…
Am ersten Weihnachtstag 1914 kam es vor allem an Frontabschnitten in Flandern rund um Ypern zu massenweisen Verbrüderungen von deutschen mit englischen, französischen sowie belgischen Soldaten:‘ es wurde vereinbart, nicht aufeinander zu schießen, gemeinsam wurden Weihnachtslieder gesungen, die Toten im Niemandsland beerdigt, Zigaretten, Lebensmittel und Militärandenken getauscht, Fotos vom Zusammentreffen mit dem Feind gemacht und es wurde sogar Fußball gespielt (Weintraub war; Jürgs 2003; Jahr 2004; Brunnenberg 2006)…
Seit den 1980er Jahren wurde der Christmas truce dann zunächst in Großbritannien immer populärer, wobei hier die Erinnerung an dieses Ereignis vermutlich nie ganz verschwunden war, da es partiell über den literarischen Kanon, beispielsweise über die Erzählung des bekannten Schriftstellers Robert Graves (Graves 2007) oder durch das erfolgreiche Theaterstück und Musical über den Ersten Weltkrieg Oh What a Lovely War (1963) im kulturellen Gedächtnis bewahrt blieb.
… In Deutschland war es der Journalist Michael Jürgs, der mit seinem Ende 2003 erschienenen Buch. Der kleine Frieden im Großen Krieg den Weihnachtsfrieden einem größeren Publikum bekannt machte… Dass die Fachwissenschaft, wie es in Zeitungsartikeln hieß, dieses Ereignis nicht genügend gewürdigt oder sogar völlig übersehen hatte – ein Eindruck, den auch Jürgs in seinen Publikationen erzeugte – stimmte nur teilweise (Brunnenberg 2006: 4). So fanden sich in einer 1994 erschienenen Quellensammlung Texte zum Thema (Ulrich 1994) und auch in Modris Eksteins Rites of Spring (Ekstein 1989) wurde ausführlich darauf eingegangen. Doch kam diesem Ereignis, sicher nicht nur wegen mangelhafter Quellenlage – dies gilt besonders für Deutschland und Frankreich – keine besondere Aufmerksamkeit zu. Es war lange nicht an die den akademischen Diskurs beherrschenden Fragestellungen anschlussfähig, was sich erst mit der kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Wende und dem Aufkommen erinnerungskultureller Fragen zögerlich änderte.
Dass der Weihnachtsfrieden von der populären Geschichtsproduktion zuerst in größerem Stil wieder entdeckt wurde lag daran, dass er eine wundersame Geschichte des so Unvorhersehbaren und nicht zu Vermutenden, des >trotz alledem< erzählt. Die Geschichte hat ein hohes Emotionalisierungspotenzial, in der die Menschlichkeit der >kleinen Leute< triumphiere.