Revisted: Wie viel Religion verträgt der liberale Staat? – von Jürgen Habermas

6. August 2012

Die Kommunikationsgemeinschaft, die sich in Sachen Religion unter den Bedingungen eines demokratisch-liberalen Rechtsstaats abzeichnet, ist eine Übersetzungsgemeinschaft. Den religiösen wie den nichtreligiösen Bürgern wird dabei einiges zugemutet.

Der liberale Staat ist also mit religiösem Fundamentalismus unvereinbar. In diesem Konflikt tritt eine Gestalt der Moderne einer anderen, als Reaktion auf entwurzelnde Modernisierungsprozesse entstandenen Gestalt der Moderne entgegen. Der liberale Staat kann seinen Bürgern gleiche Religionsfreiheiten – und ganz allgemein gleiche kulturelle Rechte – nur unter der Bedingung garantieren, dass diese gewissermassen aus den integralen Lebenswelten ihrer Religionsgemeinschaften und Subkulturen ins Offene der gemeinsamen Zivilgesellschaft heraustreten. Gleichzeitig darf auch die Mehrheitskultur ihre Mitglieder nicht in der bornierten Vorstellung einer Leitkultur gefangen halten, die sich eine ausschliessende Definitionsgewalt über die politische Kultur des Landes anmasst. In seinem Urteil über die Zulässigkeit der Beschneidungspraxis von Muslimen (und Juden) verkennt das Kölner Landgericht, dass zusammen mit den eingebürgerten Muslimen «auch der Islam zu Deutschland gehört». – In der Rolle von demokratischen «Mitgesetzgebern» gewähren sich alle Staatsbürger gegenseitig den grundrechtlichen Schutz, unter dem sie als Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität wahren und öffentlich zum Ausdruck bringen können. Dieses Verhältnis von demokratischem Staat, Zivilgesellschaft und subkultureller Eigenständigkeit ist der Schlüssel zum Verständnis der beiden einander ergänzenden Motive, die Säkularisten und Multikulturalisten fälschlich für unvereinbar halten. Das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten… Zum Artikel.

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