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Auf dem Weg in den Post-Protestantismus. Von Martin Schuck.

10/2016

Karl Richard Ziegert zeichnet in mehreren Veröffentlichungen das beklemmende Bild eines Protestantismus, der durch seinen Wunsch nach verstärkter Kirchlichkeit letztlich das Potential, das den Protestantismus ausmacht, leichtfertig aufs Spiel setzt. Nicht mehr das Pfarramt in der Gemeinde, sondern die Kirchenleitungen, die sich mit politischen Botschaften an das Gemeinwesen wenden, sind die entscheidenden Akteure in dieser neuen Form von Kirchlichkeit. Die Arbeiten Ziegerts, vor allem auch sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Die Verkäufer des perfect life. Über die Amerikanisierung der Religion und den Untergang der EKD-Kirchenwelt in Deutschland“ (LIT-Verlag, Münster 2015), zeichnen die Konturen eines Protestantismus, der sich, sowohl was seine Gestalt als auch seine Botschaft betrifft, in einem tiefgreifenden Transformationsprozess befindet. Ziegert zieht einige Linien von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart und sieht eine mögliche Lösungsstrategie in der Wiederaneignung alter theologischer Tugenden, die die Attraktivität und Ausstrahlungskraft des reformatorischen Pfarramts ausgemacht haben.
Zu fragen ist allerdings, ob die gegenwärtige Transformation des Protestantismus sich tatsächlich nur als das Ergebnis eines veränderten Rollenverständnisses kirchenleitender Personen, die sich plötzlich als Leitende Geistliche verstehen, zu beschreiben ist, oder ob es nicht noch andere, außertheologische Faktoren gibt, die letztlich entscheidend sind und überhaupt erst den Ermöglichungsrahmen bieten für das veränderte Verhalten der Kirchenleitungen. Zieht man den Vergleich mit der ersten großen Transformation, die der Protestantismus durchgemacht hat, nämlich die Umwandlung des Altprotestantismus der konfessionell geprägten Lehrsysteme in einen von der Wende zur neuzeitlichen Subjektivität bestimmten Neuprotestantismus, so kann man die These wagen, dass der Protestantismus selbst nicht die treibende Kraft ist, die die Bedingungen für die eigne Transformation herstellt, sondern mit einer veränderten Form religiöser Präsentation auf von außen gesetzte Veränderungen reagiert. So wurde die Transformation vom Alt- in den Neuprotestantismus ab der Mitte des 17. Jahrhunderts massiv vorangetrieben durch die im Dreißigjährigen Krieg gewachsene Erkenntnis, dass nach der Spaltung der mittelalterlichen Einheitswelt die neu entstandenen Konfessionen eine sozialverträgliche Form der Koexistenz finden müssen, wenn sich das Gemeinwesen nicht in einem permanenten Kriegszustand befinden soll. Umgesetzt wurde diese Erkenntnis aber zunächst nicht von dem Konfessionskirchen und ihren Theologen, sondern von den Philosophen der Aufklärung und deren Anhängern unter den Territorialfürsten, die in ihren jeweiligen Gebieten Toleranzedikte erließen und so Strukturen schufen für eine Konvivenz der unterschiedlichen Konfessionskirchen. Erst innerhalb dieser Strukturen entstand auch in der Theologie die Notwendigkeit zur Reflexion der eigenen theoretischen Grundlagen mit dem Ziel, diese mit dem in der Aufklärung entstandenen Menschenbild kompatibel zu machen.
Schaut man auf das Ergebnis dieser Transformation, lassen sich im 19. Jahrhundert Konturen eines Protestantismus erkennen, in dem die Frage nach der Bedeutung einer bestimmten Konfession für die Kultur des Gemeinwesens eine gewisse Priorität erlangt hatte. So trat die kirchliche Lehre als konfessionsspezifisches Merkmal in ihrer Bedeutung zurück hinter stark empfundene Differenzen zwischen den Konfessionen in Fragen der Gestaltung der Lebenswelt, also des Ethos, des Frömmigkeitsstils und des sozialmoralischen Habitus. Die fast überall geführten Kulturkämpfe machten deutlich, dass es hart verteidigte konfessionelle Milieus gab, und in Folge dieser Erkenntnis widmete sich um 1900 auch die Theologie verstärkt der Frage nach der spezifischen Bedeutung des Protestantismus im Gegenüber zur katholischen Kirchenwelt für die kulturelle Verfassung des Gemeinwesens. Als Ergebnis dieser Debatten entstand das Bild eines Protestantismus, dessen wichtigstes Identitätsmerkmal darin bestand, „mehr und anderes als nur Kirche zu sein“ (Friedrich Wilhelm Graf), weil für den Protestantismus eine völlig andere Verhältnisbestimmung zwischen persönlichem Glauben, christlicher Überlieferung und kirchlicher Institution konstitutiv war als für alle anderen konfessionellen Ausprägungen des Christentums. Das identitätsstiftende Zentrum (oder, in der damaligen Diktion, das „Wesen“) des Protestantismus, so das Ergebnis der damaligen Debatten, sei ein prinzipielles Eigenrecht des Glaubenden in seiner durch Subjektivität bestimmten Religiosität gegenüber der kirchlichen Institution.
Betrachtet man diese Erkenntnis als inhaltliche Pointe des Transformationsprozesses vom Alt- zum Neuprotestantismus, so beginnt die derzeit noch anhaltende Transformation ab dem Zeitpunkt, als eine Korrektur und der Versuch der Rückgängigmachung ebendieses Ergebnisses auf dem Plan stand. Einen ersten theologischen Versuch wagte die dialektische Theologie, die in ihrer prinzipiell antiliberalen Haltung der religiösen Subjektivität des Einzelnen ein autoritatives kirchliches „Wort“ vorordnete und in Barths Diktum über den direkten Weg von Schleiermacher zu den Deutschen Christen die gesamte Geschichte des Neuprotestantismus als Irrweg erklären wollte.
Etwa zeitgleich dazu gab es einige außertheologische Veränderungen, die – im Nachhinein betrachtet – nicht spurlos an der Selbstpräsentation des Protestantismus vorübergehen konnten. Waren die Katholiken noch in der Kaiserzeit in den wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen deutlich unterrepräsentiert, so gelang es ihnen, nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie nachhaltig an gesellschaftlichem und politischem Einfluss zu gewinnen. Damit einher ging ein auffälliges Schrumpfen der protestantischen Sozialmilieus, während die katholischen Milieus aufgrund institutioneller Präsenz (katholische Vereine, katholische Arbeitnehmerverbände, Zentrumspartei) weitgehend intakt blieben und auch durch den Nationalsozialismus nicht existenzbedrohend beschädigt werden konnten. Nach 1945 prägte der Katholizismus die Kultur der neuen Bundesrepublik mindestens in gleichem Maße wie der Protestantismus – eine Entwicklung, die der Protestantismus durch seine permanente Produktion von moralisch aufgeladenen politischen Erklärungen zu unterlaufen versuchte. Die Präsenz des Katholizismus im öffentlichen Raum verstärkte sich noch einmal signifikant nach 1989, so dass heute in der medialen Öffentlichkeit die Begriffe kirchlich und katholisch nahezu synonym gebraucht werden.
Im Grunde sind damit wichtige Motive angedeutet, warum der Protestantismus so vehement versucht, eigenmächtig Transformationsprozesse in Richtung einer starken öffentlichen Präsenz als Kirche in Gang zu setzen. Letztlich dreht es sich um die Frage, ob in einer Öffentlichkeit, die immer stärker durch eine sich weiterentwickelnde Medienlandschaft bestimmt wird, der Protestantismus für den Katholizismus ein ernsthafter Konkurrent bei der Jagd um Aufmerksamkeit sein kann. Solange Zeitungen und später der Hörfunk Leitmedien waren, hatte der Protestantismus aufgrund seiner Wortzentriertheit alle Vorteile auf seiner Seite; mit dem Beginn der Herrschaft des Fernsehens änderte sich das gewaltig, denn der Katholizismus liefert mit Abstand die besseren Bilder. Der Beginn des Internet-Zeitalters wirkt nun allerdings wie eine Weggabelung. Mit dem Internet ist das Zeitalter der Massenmedien vorbei; aber das, was jetzt entsteht, knüpft keineswegs an die vorherige Ära an, sondern bietet einen kategorial neuen Weg der Kommunikation, der im Ergebnis einen größeren Kampf um Aufmerksamkeit der Empfänger von Nachrichten nötig macht als im Zeitalter der Massenmedien, wo durch Staatsverträge eine gewisse Präsenz der Kirchen in der öffentlichen Wahrnehmung sichergestellt war. Da diese Präsenz durch das Unwissen über das Verhalten der Internetnutzer nicht mehr gesichert ist, scheint der Protestantismus sein Heil in einer Konzentration auf zentrale, meist lange vorher angekündigte Events zu suchen.
Aus dieser Eventorientierung, wie wir sie spätestens seit Beginn der „Lutherdekade“ 2008 erleben, ergeben sich aber zwei Probleme. Das erste Problem besteht darin, dass eine Großveranstaltung, die überregional wahrgenommen werden soll, nur von einer Organisation vorbereitet und durchgeführt werden kann, die über genügend materielle und finanzielle Ressourcen verfügt. Deshalb verlangt die Orientierung auf Events nach einer Organisationsform, mittels derer man in der Lage ist, notfalls etwas einem Papstbesuch vergleichbares auf die Beine zu stellen. Das geht natürlich nur in einer Zentralkirche, der die Regionalkirchen bei Bedarf zuarbeiten.
Das zweite Problem dieser Eventorientierung ist die Reduzierung der komplexen christlichen Botschaft auf wenige eingängige Parolen. Hier kann der Protestantismus auf einschlägige Erfahrungen zurückgreifen, denn im evangelikalen Spektrum gibt es seit Jahrzehnten solche Großveranstaltungen. Aber gerade an Predigten etwa bei Pro-Christ kann man studieren, dass differenzierte Botschaften nicht massentauglich sind, sondern nach Vereinfachung verlangen. Problematisch ist auch, dass es bei solchen Events praktisch unmöglich ist, den einzelnen Christen direkt anzusprechen; er erscheint ja nur als Teil einer Masse. Ansprachen geraten dann sehr schnell in den Modus des Stellens von Forderungen an alle und jeden („die Gesellschaft muss in der Frage der Klimagerechtigkeit umdenken“) bei gleichzeitiger Vereinnahmung der einzelnen für von kirchlichen Agenturen gesetzte Ziele, deren Umsetzung nun wirklich nicht in der Kompetenz kirchlicher Stellen liegt („wir als Kirche müssen uns dafür einsetzen, dass Europas Grenzen für Flüchtlinge offen bleiben“). Für den Protestantismus bedeutet deshalb eine Orientierung auf Großereignisse als Orte kirchlicher Präsenz einen Verzicht auf protestantische Kernkompetenz, nämlich die religiöse Kommunikation, symbolische Identitätsbildung und Vermittlung von Lebenssinn im überschaubaren Sozialraum und im Gespräch von Mensch zu Mensch; diese Reduktion auf präsentable Inhalte birgt jedoch die Gefahr eines permanenten Realitätsverlust, der – um mit Friedrich Wilhelm Graf zu reden – mit „einer phantastischen Rhetorik des immer mehr Erreichenkönnens“ überdeckt werden soll.
Macht man sich diese wenigen Zusammenhänge klar, wird deutlich, dass diese Entwicklung nicht nur ein Problem der Kirchenleitungen ist, sondern aller Protestanten. Für nahezu jede Pfarrerin und jeden Pfarrer ist es eine Selbstverständlichkeit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu betonen, dass Kirche politisch zu sein hat, dem „Rad in die Speichen greifen“ muss, wie Dietrich Bonhoeffer das in gewiss anderem Zusammenhang gesagt hat. Und aufgrund des anhaltenden Bedeutungsverlusts der Kirchengemeinden in zahlreichen Kommunen ist es verständlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wie nach dem sprichwörtlichen Strohhalm nach allen sich bietenden Möglichkeiten greifen, die Aufmerksamkeit in der örtlichen Presse garantieren und die Kirchengemeinde zum Gesprächsthema vor Ort werden lassen. Theologische Überlegungen spielen dabei meist eine untergeordnete Rolle. In diesem Zusammenhang ist zu hoffen, dass die theologische Ausbildung weiterhin am reformatorischen Pfarramt, wie Ziegert es beschreibt und als selbstbestimmte Form der theologischen Existenz wiedergewinnen möchte, orientiert ist und nicht irgendwann den vielseitig begabten Eventmanager mit theologischer Zusatzkompetenz zum Leitbild erklären wird.
Im Ergebnis steuern wir auf eine Form von evangelischer Kirchlichkeit zu, die nicht mehr viel mit dem klassischen Protestantismus zu tun hat. Aber genau diese evangelische Form von Kirchlichkeit bietet die Grundlage etwa für ökumenische Gespräche mit der römisch-katholischen Kirche, und ohne diese Kirchlichkeit wäre auch das gemeinsame Reformationsgedenken des EKD-Ratsvorsitzenden mit dem Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz nicht möglich. Ich habe noch sehr genau die Worte eines führenden katholischen Ökumenikers im Ohr, der zu Beginn der Reformationsdekade im kleinen Kreis sagte, man könne mit evangelischen Kirchen über ein gemeinsames Reformationsgedenken reden; aber wenn der Protestantismus zum Thema werde, dann sei das Gespräch beendet.
Man wird solche Worte ernst nehmen müssen, denn sie drücken eine Überzeugung aus, die nicht nur in Kirchenleitungen, sondern auch bei Pfarrerinnen und Pfarrern sowie vielen Gemeindegliedern gerne geteilt wird. Daraus gilt es die Konsequenzen zu ziehen, auch wenn diese wehmütig stimmen. Die reformatorische Spielart des Christentums ist nach zwei tiefgreifenden Transformationsprozessen in ein Stadium eingetreten, in dem zwar die reformatorische Begrifflichkeit sorgfältig gepflegt und unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen theologisch gründlich durchdacht wird. Allerdings ist der ursprünglich kirchenkritische Impuls der Reformation verloren gegangen und das reformatorische Christentum findet sich wieder als Kirche im Gegenüber zu anderen Kirchen, mit denen man Zusammenarbeit pflegt, um mit einem gemeinsamen Zeugnis der Gesellschaft gegenüberzutreten. Dass in dieser Kirche eine Zunahme an hierarchischen Strukturen zu verzeichnen ist, muss nicht verwundern, denn in ihrem Umbau kann sie sich kaum auf Theologie berufen, sondern muss sich soziologischen und organisationstheoretischen Gesetzmäßigkeiten fügen. Das alles sind Zeichen für einen fortgeschrittenen Weg der reformatorischen Kirchlichkeit in eine post-protestantische Existenzweise.
Martin Schuck