Archiv der Kategorie:
jüngste Geschichte (ab 1990)

Wie die Kirche wurde, was sie heute ist: Kirche in Zeiten des Rechtspopulismus. Von Hans-Jürgen Volk

04/2018

Gespräch auf der Terrasse

Es ist ein sonniger Vorfrühlingstag. Ich sitze bei Freunden auf einer Terrasse, es gibt Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Ich unterhalte mich mit einem Geschwisterpaar. Er ist Anfang 30 und studiert Maschinenbau, sie ist 27, und Führungskraft in einem großen Lebensmittelunternehmen. Als alleinerziehende Mutter hat ihre Stelle einen Umfang von 20 Stunden. Viel mehr ist auch nicht drin in ihrem Unternehmen, das aus betriebswirtschaftlichen Gründen auf Teilzeit setzt. Daher ist sie eine sog. „Aufstockerin“ und bestens vertraut mit dem strengen Hartz IV-Regiment…

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Zur Bedeutung der 68er-Bewegung für die Kirche. Von Konrad Schulz

Hess. Pfarrblatt 2/ April 2018

 

Das Jahrzehnt des Reformationsjubiläums
ist vorbei. Da kann man sich wieder mit anderen
Jubiläen beschäftigen, auch solchen, die
nicht auf den ersten Blick mit Kirche zu tun
haben. In diesem Jahr gibt es davon ziemlich
viele: unter anderem der Geburtstag von Karl
Marx 1818, 100 Jahre Weimarer Republik und
Oktober-Revolution 1918, 50-jähriges Jubiläum
des Treffens der lateinamerikanischen
Bischofskonferenz von…

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Evangelische Identität in säkularem Umfeld. Evangelischer Bund lud zur 109. Generalversammlung nach Wien ein.

11/2017

zum Stand der Ökumene:
…„Es sei erstaunlich und eine kulturelle Leistung, wie viel in den wenigen Jahrzehnten ökumenischen Engagements erreicht worden ist.“ Dennoch bestünden nach wie vor große Differenzen in Fragen des Glaubens und auch der Ethik, die auch zu enttäuschten Erwartungen geführt hätten….

zu VELKD und WGRK:
„…„Insgesamt lässt sich bei den Generalversammlungen dieser Bünde ein immer größer werdendes Gewicht von individual- und sozialethischen Diskussionen ausmachen“, so Lenski. Kontroverse Diskussionspunkte mit beachtlicher Sprengkraft seien unter anderem die Themen „Frauenordination“ und „Sexuelle Vielfalt“…“

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Der Todestrieb als Antrieb der Geschichte Christentum und Psychoanalyse bei Peter Sloterdijk. Von Martin Schuck

07/2017

Peter Sloterdijk, der am 26. Juni seinen 70. Geburtstag feiert, übernimmt seit Jahren die Rolle des derzeit einzigen ernstzunehmenden Religionskritikers aus der Reihe der Philosophen. Natürlich wandelt er dabei deutlich vernehmbar in den Spuren Nietzsches, aber er reproduziert nicht einfach dessen Position, sondern pflegt eine eigene Form von Originalität. Diese besteht in wesentlichen Punkten darin, Erkenntnisse der Psychoanalyse, die er in gewisser Weise als eine säkulare, nicht-metaphysische Schrumpfform des Christentums betrachtet, mit religiösen, was bei ihm immer bedeutet: metaphysisch aufgeladenen, Aussageformen abzugleichen und beider Untauglichkeit zur Bewältigung realer Problemlagen aufzuzeigen.
In einem seiner frühen Bücher, dem 1993 erschienenen „Weltfremdheit“, findet sich folgende Passage: „So scheinen sich Christentum und Psychoanalyse, idealtypisch kontrastiert, zueinander zu verhalten wie zwei rivalisierende Kurssysteme, die zumindest soviel gemeinsam haben, daß sie ihre Erfolge mit potentiell absurden und lebensbedrohlichen Nebenwirkungen erkaufen. Die christliche Kur setzt auf die Heilkraft des Glaubens an das schlechthin Unwahrscheinliche […] und läßt es darauf ankommen, den Kampf um die Chancen des gegenwärtigen Lebens zu versäumen; die analytische Kur hingegen erwartet alles von der Heilkraft des Aussprechens bitterer Wahrheiten – bis hin zum Explizitmachen der unsäglichen Triebtendenz, die den ‚Tod’ als gründlichste Heilung ansieht.“
Die Passage ist Teil eines Kapitels mit dem Titel „Wie wurde der ‚Todestrieb’ entdeckt? Zu einer Theorie der seelischen Endabsichten mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Jesus und Freud“. Findet sich in obigem Zitat die Rolle von Jesus und Freud bereits angedeutet, nämlich als Produzenten von falschem Bewusstsein, so geht Sloterdijk mit Sokrates wesentlich gnädiger um. Zumindest bis zu Nietzsches Dekonstruktion des Platonismus war dieser für Sloterdijk ein gangbarer Weg, „dem philosophischen Wahnsinn ein symbolisches Strombett zu graben“. So besaß Europa dank Platon „für die Tendenz der Losreißung des Seelischen von der Körperwelt eine Hochsprache von epochenweiter Suggestivkraft“, die es ermöglichte, „den Traum vom unendlichen Leben der Seele als rationalen und noblen Todesappetit zu formulieren“.
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist ihm dabei die „Urszene der ‚abendländischen’ Philosophie“, nämlich der Tod des Sokrates durch den „Schierlingsbecher“, wie er sich der Überlieferung zufolge 399 v. Chr. in Athen ereignet haben soll. Dank dem „dichterischen Ingenium Platos“, so Sloterdijk, besitze die europäische Philosophie „von dem Moment ihrer eigentlichen Einsetzung“ an „ein Bild oder vielmehr ein Szenario […], dessen Leuchtkraft und Verkündigungsgewalt es in jeder Hinsicht mit den Passionsberichten der christlichen Evangelien“ aufnehmen könne. Überhaupt habe „die heroische Ära philosophischen Denkens“ nicht vor dem Tod des Sokrates anfangen können, denn erst in ihm komme „ein neuartiger Messianismus der Intelligenz“ zur Entfaltung, in dem sich die „frohe Botschaft von einem beglückenden Streben nach Wahrheit“ mit einer „neugewonnenen Unwiderstehlichkeit“ verbreiten konnte. Mit dem Akt des Sterbens nach dem Austrinken des Giftbechers sieht Sloterdijk „mit einem Mal die Voraussetzungen für eine neuartige Verkündigung der ‚Wahrheit’ über das Streben nach Weisheit“ erfüllt.
Bewusst setzt Sloterdijk das Sterben des Sokrates in Parallelität zu Tod und Auferstehung Jesu, denn der Tod des Philosophen gleicht einer Offenbarung an seinen Schüler Platon, dessen Psyche sich angesichts der sokratischen Todesmeisterschaft „entzündet“ mit einer „verkündbaren Evidenz von weittragender Energie“, die Sloterdijk selbst „apostolisch“ nennen würde, wenn der Ausdruck „nicht christlich okkupiert wäre“. Und erst das „Zeugnis dieses philosophischen Abschieds von der Welt gibt dem Schüler die Vollmacht, sich als Meisternachfolger zu etablieren“ und erst als „Mitwisser, Zeuge und Verkünder des meisterlichen Todes nimmt sich der Schüler Plato das Recht, unter dem Namen des Sokrates eine neue Lebensform der Wahrheitssuche zu stiften“. Es ist wohl nicht nur eine ironische Begriffsadaption, wenn Sloterdijk von einem „Neuen Testament der Weisheit“ schreibt.
Sloterdijk betrachtet es als Wirkung dieser von Platon überlieferten Geschichte, dass der Tod seither von den Philosophen „als eine positive Bedingung für den Zugang zur Seinsweise höherer Einsichten“ proklamiert werde. Gestorbensein, so Sloterdijk, stehe von da an „für die faszinierendste der metaphysischen Ideen“. Es vertrete „das Phantasma einer Intelligenz, die als reines seelenhaftes Für-sich-Sein entlastet wäre von der Nötigung zum Körper und zur Sinnen- und Sorgenwelt“.
Mit einem kurzen Schlenker gelangt Sloterdijk von dieser in Parallelität zur christlichen Offenbarung erzählten Geschichte wieder zur Psychologie, indem er konstatiert, deren Anfänge seien auch in einer „Akosmologie“ zu suchen; die maßgeblichen Aussagen über das, was die Seele eigentlich ist, würden „durch das Wegdenken der Welt von ihr“ und durch „die Tilgung der sinnlichen Weltspuren in ihr“ sozusagen auf einer via negativa gewonnen, so dass Seele als „Sein minus Teilhabe am hinderlichen Kosmos“ zu bestimmen sei.
In seinen Ausführungen über den „Todestrieb“ bescheinigt er diesem, über drei unterschiedliche Zugänge die „Menschheit“ (zumindest im „monotheistischen Westen“) zum „Unternehmen Geschichte“ geformt zu haben, „deren Pilotgruppen sich ganz unter dem Bann der Voreiligkeit zum guten Ende in Marsch gesetzt haben“. Aber diese Form von Geschichte sei nichts anderes als „die Projektion ihres Psychofinalismus in die Zeit der politischen Bewegungen“. Das Christentum habe immer die Kraft besessen, „in Individuen und Völkern die Vorstellung zu mobilisieren, mit unüberbietbarem Ernst in Vollendungsdramen und letzte Gefechte verwickelt zu sein“. So lässt Sloterdijk keinen Zweifel daran, dass für ihn das Christentum von Anfang an ein gefährlicher Irrweg der Geschichte war.

Die Wahl Donald Trumps als Selbstaufhebung der Emanzipation. Von Martin Schuck.

03/2017

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schrieben die Studien, die in ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“ 1947 erstmals in Europa veröffentlicht wurden, um 1944 im kalifornischen Exil. Es war eine schonungslose Abrechung mit der Aufklärung als der bestimmenden geistesgeschichtlichen Bewegung der Neuzeit, die, spätestens angesichts der Schrecken des Holocausts unübersehbar, aber bereits vorher schon in der vor allem in den USA das gesellschaftliche Leben bestimmenden Kulturindustrie erkennbar, in „Selbstzerstörung“ abzugleiten droht und als „Rückfall von Aufklärung in Mythologie“ beschrieben werden kann. Aber, und das ist für die Haltung der Autoren entscheidend, sie sehen sich selbst unmissverständlich auf dem Boden der Aufklärung stehend und agieren als bedingungslose Verteidiger der Universalität der Vernunft. Damit behaupten sie die Notwendigkeit und Unhintergehbarkeit der Aufklärung bei gleichzeitiger Kritik derselben – einer Kritik übrigens, die nicht nur oberflächliche Erscheinungen betrifft, sondern fundamental ist. Sie beschreiben damit ein mit den Mitteln klassischer Philosophie nicht zu lösendes Paradoxon, und das Ziel ihrer Analysen besteht darin, dieses Paradoxon mit den Mitteln der damals gerade im Entstehen begriffenen, noch stark philosophisch grundierten Sozialwissenschaft aufzulösen und in ein reiferes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Aufklärung und Mythologie überzuführen. Nur von daher erklärt sich der Titel Dialektik der Aufklärung.
Die Aufgabe, die Unhintergehbarkeit aufklärerischen Denkens als Grundlage menschlichen Zusammenlebens zu behaupten und den Inhalt dieses Denkens gleichzeitig einer Fundamentalkritik zu unterziehen, begründen die Autoren aus dem Begriff der Aufklärung selbst: „Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärerischen Denken unabtrennbar ist.“ Dazu gehört gleichursprünglich der zweite Satz: „Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“
Horkheimer und Adorno identifizieren die „Schwäche des gegenwärtigen theoretischen Verständnisses“ darin, dass die „rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“, unverstanden bleibt, und es auch kein Verständnis gibt für den Grund der „selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia“ sowie überhaupt für den ganzen „unbegriffenem Widersinn“. Zu einem solchen bisher fehlenden Verständnis beizutragen, ist der Sinn ihrer Studien, „als wir zeigen, daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst“. Und weil dieses Programm eben kein rein philosophisches, sondern ein sozialwissenschaftliches ist, verstehen die Autoren die Begriffe Aufklärung und Wahrheit real: „Wie die Aufklärung die wirkliche Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer unter dem Aspekt ihrer in Personen und Institutionen verkörperten Idee ausdrückt, so heißt Wahrheit nicht bloß das vernünftige Bewußtsein, sondern ebensosehr dessen Gestalt in der Wirklichkeit.“
Die in Furcht vor der Wahrheit (als Gestalt in der Wirklichkeit) erstarrende Aufklärung bezeichnen Horkheimer und Adorno zwei Jahrzehnte später in einem kurz vor Adornos Tod 1969 verfassten Vorwort zur Neuauflage als „Umschlag von Aufklärung in Positivismus, den Mythos dessen, was der Fall ist“. Damit ist die wissenschaftstheoretische Frontstellung der „Kritischen Theorie“ gegen Positivismus und kritischen Rationalismus beschrieben, gipfelnd in der Behauptung einer „Identität von Intelligenz und Geistfeindschaft“ in diesen Richtungen; Horkheimer und Adorno wollen dagegen als Kritiker von Philosophie „Philosophie nicht preisgeben“.
Immer wiederkehrendes Motiv in Horkheimers und Adornos Aufklärungskritik, die vor allem in dem Essay „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ inhaltlich entfaltet wird, ist die Kritik einer Verkürzung der aufklärerischen Vernunft auf eine rein technische Rationalität. Gerade in ihr manifestiert sich der diagnostizierte Umschlag von Aufklärung in Positivismus am deutlichsten; der Positivismus gilt den Autoren als Inbegriff derjenigen Geisteshaltung, die den „Mythos dessen, was der Fall ist“ zum einzigen legitimen Zugang zur Wirklichkeit erklärt. Oder, anders gesagt: Wirklich ist nur, was im Reagenzglas passiert.
Eine derartige Verkürzung des aufklärerischen Denkens auf eine auch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmende technische Rationalität begründet allerdings immer schon in sich selbst ein Herrschaftsverhältnis, weil verschwiegen wird, dass „der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst.“
Der Erfolg der sozialphilosophischen Analysen Horkheimers und Adornos liegt darin, dass in ihnen eine dialektische Struktur offengelegt wird, mittels derer ganz verschiedene Ereigniszusammenhänge erklärt werden können. Immer geht es um den Zusammenhang von theoretischem Anspruch und praktischer Verwirklichung, und dieser Prozess verläuft eben niemals linear, sondern beinhaltet Brechungen, Rückschläge, mitunter auch falsche Allianzen und Verirrungen.
Im Zusammenhang mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat die amerikanische Politologin Nancy Fraser, Professorin an der New School for Social Research in New York, einen Erklärungsversuch vorgelegt, der, ohne direkt auf die „Dialektik der Aufklärung“ einzugehen, deren Argumentationsmuster benutzt, um die Niederlage Hillary Clintons als Ergebnis einer verhängnisvollen Allianz zwischen emanzipatorischen Bewegungen und dem Großkapital sowie der Finanzwirtschaft darzustellen.
Am Anfang ihres Aufsatzes in der Februar-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ steht die Einschätzung, dass die politischen Systeme bisher gegen den weltweit immer wieder aufbrechenden Protest gegen die neoliberale Austeritätspolitik weitgehend immun waren; zwar habe, wer Trump wählte, für den Brexit oder gegen die Renzi-Reformen stimmte, sich immer auch gegen seine Herrscher erhoben. „Indem die Wähler den Parteiestablishments die kalte Schulter zeigten, wiesen sie die Arrangements zurück, die seit nunmehr dreißig Jahren ihre Lebensbedingungen zerstören.“ Allerdings, so Fraser, gebe es bei Trump eine spezifisch amerikanische Konstellation, die eben nicht nur als Revolte gegen das globale Finanzwesen erklärbar sei: „Was seine Wähler verwarfen, war nicht einfach der Neoliberalismus im Allgemeinen, sondern der progressive Neoliberalismus.“ Mit diesem nach einem Paradoxon klingenden Begriff des progressiven Neoliberalismus beschreibt Fraser ein gesellschaftliches Arrangement, das genau den gleichen reduktionistischen Gesetzmäßigkeiten folgt, die bei dem Umschlag von Aufklärung in Positivismus durch Reduktion der Vernunft auf technische Rationalität leitend sind. Es handele sich, so Fraser, beim progressiven Neoliberalismus um eine „Allianz zwischen einerseits tonangebenden Strömungen der neuen sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und den Vertretern der LGBTQ-Rechten) und andererseits kommerziellen, oft dienstleistungsbasierten Sektoren von hohem Symbolgehalt (Wall Street, Silicon Valley und Hollywood). Hier stehen progressive Kräfte faktisch im Bündnis mit den Kräften des kognitiven Kapitals, insbesondere der Finanzialisierung. Erstere borgen dabei, oft unbewusst oder auch nicht, Letzteren ihr Charisma.“ Grundsätzlich dienten jetzt für ganz unterschiedliche Zwecke nutzbare Ideale wie Vielfalt und Empowerment der „Verklärung politischer Entwicklungen, die zur Zerstörung des produzierenden Sektors und der Lebensverhältnisse der Mittelschicht“ geführt hätten.
Fraser sieht dieses Bündnis progressiver Bewegungen mit neoliberal agierenden Wirtschaftskreisen seit etwa drei Jahrzehnten bestehen und betrachtet die Wahl Bill Clintons zum US-Präsidenten 1992 als „Ratifizierung“ dieses Bündnisses. Unter Clinton habe sich anstelle der alten New-Deal-Koalition aus gewerkschaftlich organisierten Industriearbeitern, Afroamerikanern und städtischen Mittelschichten ein neues Bündnis „aus Unternehmern, Vorortbewohnern, neuen sozialen Bewegungen und jungen Leuten“ herausgebildet. „Sie alle bewiesen ihre Fortschrittlichkeit, indem sie auf Vielfalt, Multikulturalismus und Frauenrechte schworen. Ungeachtet ihrer Förderung progressiver Ideen und Kräfte, hofierte Clintons Regierung die Wall Street. Während sie die US-Wirtschaft so Goldman Sachs überantwortete, deregulierte sie das Bankensystem und handelte jene Freihandelsabkommen aus, die zu beschleunigter Deindustrialisierung führten.“
Der Angriff auf die soziale Sicherheit sei also „hinter einer täuschenden Fassade“ erfolgt, „die das von den neuen sozialen Bewegungen geborgte Charisma schaffen half“, so Frasers Einschätzung. Die Janusköpfigkeit dieser Konstellation zeige sich beispielhaft in der Tatsache, dass der Doppelverdiener-Haushalt als Triumpf des Feminismus präsentiert werde, die Realität dahinter jedoch aus Lohndruck, geringerer Arbeitsplatzsicherheit und sinkenden Lebensstandards bestehe. Die Entwicklung in diese Richtung sei dadurch verstärkt worden, dass in den USA während der Jahre des Einbruchs der Industrieproduktion „ein dröhnender Dauerdiskurs über ‚Vielfalt‘, ‚Frauen-Empowerment‘ und ‚den Kampf gegen Diskriminierung‘“ geherrscht habe. Dabei sei Fortschritt „zunehmend mit meritokratischen Ansprüchen statt mit fortschreitender Gleichheit“ identifiziert worden. Zum Maßstab der Emanzipation avancierte, so Fraser, „der Aufstieg von ‚talentierten‘ Frauen, Minderheiten, Schwulen und Lesben in der kommerziellen Winner-take-all-Hierarchie – und nicht mehr deren Abschaffung“. Dadurch seien „linksliberal-individualistische Fortschrittsvorstellungen“ an die Stelle der egalitären, antihierarchischen und klassenbewussten Auffassungen von Emanzipation der 1960er und 1970er Jahre getreten. Unmerklich, so Fraser, seien so die Ansprüche progressiver und linker Kreise zusammengeschrumpft, und der Sieg des Neoliberalismus als alleinherrschender Wirtschaftsdoktrin habe den Handel perfekt gemacht: „Somit verbindet der progressive Neoliberalismus verkürzte Emanzipationsideale mit gefährlichen Formen der Finanzialisierung.“
Die Pointe dieser Entwicklung bestehe nun darin, dass die Trump-Wähler „diesen Mix“ in toto zurückgewiesen haben: „Mit ihrer Ablehnung der Globalisierung wandten sich Trump-Wähler auch gegen den mit dieser gleichgesetzten linksliberalen Kosmopolitismus. Für manche […] war es von da aus kein großer Schritt mehr, die Verschlechterung ihrer Lebenslage der Political Correctness, Schwarzen Menschen, Immigranten und Muslimen anzukreiden. In Ihren Augen sind Feminismus und Wall Street zwei Seiten derselben Sache, geradezu vollkommen verkörpert in – Hillary Clinton.“
Vor dem Hintergrund dieser Analyse besteht die vage Hoffnung, dass die Wahl Trumps für das Nachdenken über das Wesen von Emanzipation eine ähnliche Herausforderung darstellt wie die Durchsetzung des Faschismus für das Nachdenken über die Aufklärung. Es wäre aber zu wünschen, dass für die emanzipatorischen Kräfte nicht gilt, was Horkheimer und Adorno der Aufklärung prophezeiten: „Eingespannt in die herrschende Produktionsweise löst die Aufklärung, die zur Unterminierung der repressiv gewordenen Ordnung strebt, sich selbst auf.“

DAS ›WAHRE REFORMATIONSJUBILÄUM‹ UND DIE ZUKÜNFTIGE CHRISTENHEIT. Interview mit Jürgen Moltmann.

03/2017


Calvin wird nachgesagt, er habe durch seinen Einsatz für das Zinsnehmen und durch seine Arbeitsethik den ›Geist des Kapitalismus‹ befördert. Sie haben dazu 2009 gesagt, das sei Unsinn; ebenso gut könne man bei Calvin von einem »Geist des Sozialismus« sprechen. Warum waren die wirtschaftsethischen Fragen für Calvin so wichtig, dass sein Name in den Diskussionen auch heute noch genannt wird?

Moltmann: Der ›Geist des Kapitalismus‹ stammt aus Florenz in der Renaissancezeit, nicht aus Genf. Die Besitzer der großen Vermögen in der Reformationszeit waren römisch-katholisch, z. B. die Fugger in Augsburg. Warum gab es vor den Kirchen in Genf keine armen Bettler? Weil Calvin nach dem Vorbild von Apostelgeschichte 6 ›Armenpfleger‹ berufen ließ‚ die für Solidarität mit den Armen sorgten. Und auch Bismarcks Sozialversicherung geht auf die Sozialpflege der niederländisch-reformierten Gemeinde in Elberfeld zurück, die Baron von der Heydt ihm vermittelte…. Mehr dazu.

Weihejahrgang 1967: 50 Jahre Priester im Erzbistum Köln. Rückblick und Perspektiven

02/2017, Der Weihejahrgang 1967 der Priester des Bistums Köln zieht Bilanz und fragt nach der Lage der Kirche heute:

Im Aufwind des II Vatikanischen Konzils haben wir ab 1961 Theologie studiert. Seit dem Verlassen des Priesterseminars im Jahr 1967 trafen wir uns in der Regel monatlich, haben Exerzitien, Weiterbildungen und Reisen gemeinsam erlebt. Am 27. Januar 2017, genau 50 Jahre
nach dem Tag, an dem die meisten von uns von Josef Kardinal Frings im Kölner Dom zu Priestern geweiht wurden, wollen wir in der Düsseldorfer Maxkirche, wo wir 1966 zu Diakonen
geweiht wurden, unsere Dankmesse feiern.

Als wir uns zum Theologiestudium entschlossen, hatte Papst Johannes XXIII die Fenster
der Kirche überraschend geöffnet. Die Welt staunte und wir fühlten uns bei der Avantgarde
einer sich erneuernden Christenheit. Leider nahmen später bei Kirchenmännern in
Rom und auch im Kölner Bistum die Ängste zu.. Eine Art von Bunkermentalität sollte den
Glauben sichern. Und wer hat da gerufen: Fürchtet euch nicht?..

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Auf dem Weg in den Post-Protestantismus. Von Martin Schuck.

10/2016

Karl Richard Ziegert zeichnet in mehreren Veröffentlichungen das beklemmende Bild eines Protestantismus, der durch seinen Wunsch nach verstärkter Kirchlichkeit letztlich das Potential, das den Protestantismus ausmacht, leichtfertig aufs Spiel setzt. Nicht mehr das Pfarramt in der Gemeinde, sondern die Kirchenleitungen, die sich mit politischen Botschaften an das Gemeinwesen wenden, sind die entscheidenden Akteure in dieser neuen Form von Kirchlichkeit. Die Arbeiten Ziegerts, vor allem auch sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Die Verkäufer des perfect life. Über die Amerikanisierung der Religion und den Untergang der EKD-Kirchenwelt in Deutschland“ (LIT-Verlag, Münster 2015), zeichnen die Konturen eines Protestantismus, der sich, sowohl was seine Gestalt als auch seine Botschaft betrifft, in einem tiefgreifenden Transformationsprozess befindet. Ziegert zieht einige Linien von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart und sieht eine mögliche Lösungsstrategie in der Wiederaneignung alter theologischer Tugenden, die die Attraktivität und Ausstrahlungskraft des reformatorischen Pfarramts ausgemacht haben.
Zu fragen ist allerdings, ob die gegenwärtige Transformation des Protestantismus sich tatsächlich nur als das Ergebnis eines veränderten Rollenverständnisses kirchenleitender Personen, die sich plötzlich als Leitende Geistliche verstehen, zu beschreiben ist, oder ob es nicht noch andere, außertheologische Faktoren gibt, die letztlich entscheidend sind und überhaupt erst den Ermöglichungsrahmen bieten für das veränderte Verhalten der Kirchenleitungen. Zieht man den Vergleich mit der ersten großen Transformation, die der Protestantismus durchgemacht hat, nämlich die Umwandlung des Altprotestantismus der konfessionell geprägten Lehrsysteme in einen von der Wende zur neuzeitlichen Subjektivität bestimmten Neuprotestantismus, so kann man die These wagen, dass der Protestantismus selbst nicht die treibende Kraft ist, die die Bedingungen für die eigne Transformation herstellt, sondern mit einer veränderten Form religiöser Präsentation auf von außen gesetzte Veränderungen reagiert. So wurde die Transformation vom Alt- in den Neuprotestantismus ab der Mitte des 17. Jahrhunderts massiv vorangetrieben durch die im Dreißigjährigen Krieg gewachsene Erkenntnis, dass nach der Spaltung der mittelalterlichen Einheitswelt die neu entstandenen Konfessionen eine sozialverträgliche Form der Koexistenz finden müssen, wenn sich das Gemeinwesen nicht in einem permanenten Kriegszustand befinden soll. Umgesetzt wurde diese Erkenntnis aber zunächst nicht von dem Konfessionskirchen und ihren Theologen, sondern von den Philosophen der Aufklärung und deren Anhängern unter den Territorialfürsten, die in ihren jeweiligen Gebieten Toleranzedikte erließen und so Strukturen schufen für eine Konvivenz der unterschiedlichen Konfessionskirchen. Erst innerhalb dieser Strukturen entstand auch in der Theologie die Notwendigkeit zur Reflexion der eigenen theoretischen Grundlagen mit dem Ziel, diese mit dem in der Aufklärung entstandenen Menschenbild kompatibel zu machen.
Schaut man auf das Ergebnis dieser Transformation, lassen sich im 19. Jahrhundert Konturen eines Protestantismus erkennen, in dem die Frage nach der Bedeutung einer bestimmten Konfession für die Kultur des Gemeinwesens eine gewisse Priorität erlangt hatte. So trat die kirchliche Lehre als konfessionsspezifisches Merkmal in ihrer Bedeutung zurück hinter stark empfundene Differenzen zwischen den Konfessionen in Fragen der Gestaltung der Lebenswelt, also des Ethos, des Frömmigkeitsstils und des sozialmoralischen Habitus. Die fast überall geführten Kulturkämpfe machten deutlich, dass es hart verteidigte konfessionelle Milieus gab, und in Folge dieser Erkenntnis widmete sich um 1900 auch die Theologie verstärkt der Frage nach der spezifischen Bedeutung des Protestantismus im Gegenüber zur katholischen Kirchenwelt für die kulturelle Verfassung des Gemeinwesens. Als Ergebnis dieser Debatten entstand das Bild eines Protestantismus, dessen wichtigstes Identitätsmerkmal darin bestand, „mehr und anderes als nur Kirche zu sein“ (Friedrich Wilhelm Graf), weil für den Protestantismus eine völlig andere Verhältnisbestimmung zwischen persönlichem Glauben, christlicher Überlieferung und kirchlicher Institution konstitutiv war als für alle anderen konfessionellen Ausprägungen des Christentums. Das identitätsstiftende Zentrum (oder, in der damaligen Diktion, das „Wesen“) des Protestantismus, so das Ergebnis der damaligen Debatten, sei ein prinzipielles Eigenrecht des Glaubenden in seiner durch Subjektivität bestimmten Religiosität gegenüber der kirchlichen Institution.
Betrachtet man diese Erkenntnis als inhaltliche Pointe des Transformationsprozesses vom Alt- zum Neuprotestantismus, so beginnt die derzeit noch anhaltende Transformation ab dem Zeitpunkt, als eine Korrektur und der Versuch der Rückgängigmachung ebendieses Ergebnisses auf dem Plan stand. Einen ersten theologischen Versuch wagte die dialektische Theologie, die in ihrer prinzipiell antiliberalen Haltung der religiösen Subjektivität des Einzelnen ein autoritatives kirchliches „Wort“ vorordnete und in Barths Diktum über den direkten Weg von Schleiermacher zu den Deutschen Christen die gesamte Geschichte des Neuprotestantismus als Irrweg erklären wollte.
Etwa zeitgleich dazu gab es einige außertheologische Veränderungen, die – im Nachhinein betrachtet – nicht spurlos an der Selbstpräsentation des Protestantismus vorübergehen konnten. Waren die Katholiken noch in der Kaiserzeit in den wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen deutlich unterrepräsentiert, so gelang es ihnen, nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie nachhaltig an gesellschaftlichem und politischem Einfluss zu gewinnen. Damit einher ging ein auffälliges Schrumpfen der protestantischen Sozialmilieus, während die katholischen Milieus aufgrund institutioneller Präsenz (katholische Vereine, katholische Arbeitnehmerverbände, Zentrumspartei) weitgehend intakt blieben und auch durch den Nationalsozialismus nicht existenzbedrohend beschädigt werden konnten. Nach 1945 prägte der Katholizismus die Kultur der neuen Bundesrepublik mindestens in gleichem Maße wie der Protestantismus – eine Entwicklung, die der Protestantismus durch seine permanente Produktion von moralisch aufgeladenen politischen Erklärungen zu unterlaufen versuchte. Die Präsenz des Katholizismus im öffentlichen Raum verstärkte sich noch einmal signifikant nach 1989, so dass heute in der medialen Öffentlichkeit die Begriffe kirchlich und katholisch nahezu synonym gebraucht werden.
Im Grunde sind damit wichtige Motive angedeutet, warum der Protestantismus so vehement versucht, eigenmächtig Transformationsprozesse in Richtung einer starken öffentlichen Präsenz als Kirche in Gang zu setzen. Letztlich dreht es sich um die Frage, ob in einer Öffentlichkeit, die immer stärker durch eine sich weiterentwickelnde Medienlandschaft bestimmt wird, der Protestantismus für den Katholizismus ein ernsthafter Konkurrent bei der Jagd um Aufmerksamkeit sein kann. Solange Zeitungen und später der Hörfunk Leitmedien waren, hatte der Protestantismus aufgrund seiner Wortzentriertheit alle Vorteile auf seiner Seite; mit dem Beginn der Herrschaft des Fernsehens änderte sich das gewaltig, denn der Katholizismus liefert mit Abstand die besseren Bilder. Der Beginn des Internet-Zeitalters wirkt nun allerdings wie eine Weggabelung. Mit dem Internet ist das Zeitalter der Massenmedien vorbei; aber das, was jetzt entsteht, knüpft keineswegs an die vorherige Ära an, sondern bietet einen kategorial neuen Weg der Kommunikation, der im Ergebnis einen größeren Kampf um Aufmerksamkeit der Empfänger von Nachrichten nötig macht als im Zeitalter der Massenmedien, wo durch Staatsverträge eine gewisse Präsenz der Kirchen in der öffentlichen Wahrnehmung sichergestellt war. Da diese Präsenz durch das Unwissen über das Verhalten der Internetnutzer nicht mehr gesichert ist, scheint der Protestantismus sein Heil in einer Konzentration auf zentrale, meist lange vorher angekündigte Events zu suchen.
Aus dieser Eventorientierung, wie wir sie spätestens seit Beginn der „Lutherdekade“ 2008 erleben, ergeben sich aber zwei Probleme. Das erste Problem besteht darin, dass eine Großveranstaltung, die überregional wahrgenommen werden soll, nur von einer Organisation vorbereitet und durchgeführt werden kann, die über genügend materielle und finanzielle Ressourcen verfügt. Deshalb verlangt die Orientierung auf Events nach einer Organisationsform, mittels derer man in der Lage ist, notfalls etwas einem Papstbesuch vergleichbares auf die Beine zu stellen. Das geht natürlich nur in einer Zentralkirche, der die Regionalkirchen bei Bedarf zuarbeiten.
Das zweite Problem dieser Eventorientierung ist die Reduzierung der komplexen christlichen Botschaft auf wenige eingängige Parolen. Hier kann der Protestantismus auf einschlägige Erfahrungen zurückgreifen, denn im evangelikalen Spektrum gibt es seit Jahrzehnten solche Großveranstaltungen. Aber gerade an Predigten etwa bei Pro-Christ kann man studieren, dass differenzierte Botschaften nicht massentauglich sind, sondern nach Vereinfachung verlangen. Problematisch ist auch, dass es bei solchen Events praktisch unmöglich ist, den einzelnen Christen direkt anzusprechen; er erscheint ja nur als Teil einer Masse. Ansprachen geraten dann sehr schnell in den Modus des Stellens von Forderungen an alle und jeden („die Gesellschaft muss in der Frage der Klimagerechtigkeit umdenken“) bei gleichzeitiger Vereinnahmung der einzelnen für von kirchlichen Agenturen gesetzte Ziele, deren Umsetzung nun wirklich nicht in der Kompetenz kirchlicher Stellen liegt („wir als Kirche müssen uns dafür einsetzen, dass Europas Grenzen für Flüchtlinge offen bleiben“). Für den Protestantismus bedeutet deshalb eine Orientierung auf Großereignisse als Orte kirchlicher Präsenz einen Verzicht auf protestantische Kernkompetenz, nämlich die religiöse Kommunikation, symbolische Identitätsbildung und Vermittlung von Lebenssinn im überschaubaren Sozialraum und im Gespräch von Mensch zu Mensch; diese Reduktion auf präsentable Inhalte birgt jedoch die Gefahr eines permanenten Realitätsverlust, der – um mit Friedrich Wilhelm Graf zu reden – mit „einer phantastischen Rhetorik des immer mehr Erreichenkönnens“ überdeckt werden soll.
Macht man sich diese wenigen Zusammenhänge klar, wird deutlich, dass diese Entwicklung nicht nur ein Problem der Kirchenleitungen ist, sondern aller Protestanten. Für nahezu jede Pfarrerin und jeden Pfarrer ist es eine Selbstverständlichkeit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu betonen, dass Kirche politisch zu sein hat, dem „Rad in die Speichen greifen“ muss, wie Dietrich Bonhoeffer das in gewiss anderem Zusammenhang gesagt hat. Und aufgrund des anhaltenden Bedeutungsverlusts der Kirchengemeinden in zahlreichen Kommunen ist es verständlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wie nach dem sprichwörtlichen Strohhalm nach allen sich bietenden Möglichkeiten greifen, die Aufmerksamkeit in der örtlichen Presse garantieren und die Kirchengemeinde zum Gesprächsthema vor Ort werden lassen. Theologische Überlegungen spielen dabei meist eine untergeordnete Rolle. In diesem Zusammenhang ist zu hoffen, dass die theologische Ausbildung weiterhin am reformatorischen Pfarramt, wie Ziegert es beschreibt und als selbstbestimmte Form der theologischen Existenz wiedergewinnen möchte, orientiert ist und nicht irgendwann den vielseitig begabten Eventmanager mit theologischer Zusatzkompetenz zum Leitbild erklären wird.
Im Ergebnis steuern wir auf eine Form von evangelischer Kirchlichkeit zu, die nicht mehr viel mit dem klassischen Protestantismus zu tun hat. Aber genau diese evangelische Form von Kirchlichkeit bietet die Grundlage etwa für ökumenische Gespräche mit der römisch-katholischen Kirche, und ohne diese Kirchlichkeit wäre auch das gemeinsame Reformationsgedenken des EKD-Ratsvorsitzenden mit dem Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz nicht möglich. Ich habe noch sehr genau die Worte eines führenden katholischen Ökumenikers im Ohr, der zu Beginn der Reformationsdekade im kleinen Kreis sagte, man könne mit evangelischen Kirchen über ein gemeinsames Reformationsgedenken reden; aber wenn der Protestantismus zum Thema werde, dann sei das Gespräch beendet.
Man wird solche Worte ernst nehmen müssen, denn sie drücken eine Überzeugung aus, die nicht nur in Kirchenleitungen, sondern auch bei Pfarrerinnen und Pfarrern sowie vielen Gemeindegliedern gerne geteilt wird. Daraus gilt es die Konsequenzen zu ziehen, auch wenn diese wehmütig stimmen. Die reformatorische Spielart des Christentums ist nach zwei tiefgreifenden Transformationsprozessen in ein Stadium eingetreten, in dem zwar die reformatorische Begrifflichkeit sorgfältig gepflegt und unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen theologisch gründlich durchdacht wird. Allerdings ist der ursprünglich kirchenkritische Impuls der Reformation verloren gegangen und das reformatorische Christentum findet sich wieder als Kirche im Gegenüber zu anderen Kirchen, mit denen man Zusammenarbeit pflegt, um mit einem gemeinsamen Zeugnis der Gesellschaft gegenüberzutreten. Dass in dieser Kirche eine Zunahme an hierarchischen Strukturen zu verzeichnen ist, muss nicht verwundern, denn in ihrem Umbau kann sie sich kaum auf Theologie berufen, sondern muss sich soziologischen und organisationstheoretischen Gesetzmäßigkeiten fügen. Das alles sind Zeichen für einen fortgeschrittenen Weg der reformatorischen Kirchlichkeit in eine post-protestantische Existenzweise.
Martin Schuck

Darf man Luther feiern? von Matthias Drobinski, SZ

05/2016

Er war ein leidenschaftlicher Gottsucher, ein Reformator. Martin Luther war aber auch ein Menschenhasser und Judenfeind. Nun stehen das Jubiläum der Reformation an.

Von Matthias Drobinski

Viele Historiker, die sich mit der Reformationszeit beschäftigen, misstrauen deshalb dem Gedenkjahr, das da auf das Land zukommt. Sie haben mit einiger Lust und völlig zu Recht alle Versuche von Kirchenvertretern auseinandergenommen, Martin Luther irgendwie doch noch zum Helden der Moderne zu stilisieren, sie haben herausgearbeitet, wie sehr er ein spätmittelalterlicher Mensch war und die Reformation Teil eines großen europäischen Umwälzungsprozesses. Von Luthers Originalität ist wenig geblieben….

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