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Der utopische Anarchismus des frühen Ernst Bloch. Von Martin Schuck

09/2017

Der Sozialphilosoph Oskar Negt schrieb im Jahr 1972, also noch zu Lebzeiten Ernst Blochs, Bloch sei „der deutsche Philosoph der Oktoberrevolution“; das sollte in Analogie zu Immanuel Kant verstanden werden, den Karl Marx als den deutschen Theoretiker der französischen Revolution bezeichnete. Negt selbst, so urteilte der Philosoph Werner Wild in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ (8/2017), weise schon darauf hin, dass sich die Haltung Blochs zur Oktoberrevolution nicht aus dessen Werk begründen lasse und somit andere Faktoren den Ausschlag gegeben haben müssen.
Wild, Vizepräsident der Ernst-Bloch-Gesellschaft, bezieht sich auf Äußerungen Blochs aus den Jahren 1936 und 1937, als dieser im Prager Exil die damaligen Moskauer Prozesse unter Stalin verteidigte und damit, nachdem in den frühen 70er Jahren eine Neuedition der Schriften Blochs bei Suhrkamp erschien, noch einmal eine heftige Debatte über dessen Nähe zum Stalinismus entfachte. Über den Hintergrund der Haltung Blochs in den 30er Jahren kann Wild allerdings nur spekulieren und ordnet sie in einen größeren Zusammenhang ein, der mit Blochs schon früh ausgedrückter Warnung vor dem Faschismus beginnt. Bloch habe als einer der ersten die Gefahr des Faschismus erkannt, was ihn in der Weimarer Republik näher an die Seite des Parteikommunismus geführt habe, so die Argumentation. Ähnlich wie Lion Feuchtwanger, der mit Stalin persönlich im Gespräch war, habe auch Bloch erkannt, dass der Parteikommunismus notwendiger Bestandteil eines internationalen Volksfrontbündnisses gegen den Faschismus sei, und dass deshalb dieses Bündnis auf die politische und militärische Macht der Sowjetunion angewiesen sei. Die Plausibilität dieser Vermutung wird, ohne dass Wild dies explizit ausdrückt, durch die Tatsache untermauert, dass die republikanischen Kräfte im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 von diesem internationalen Volksfrontbündnis, zu dem auch das „Thälmann-Bataillon“ der KPD gehörte, unterstützt wurde, und dass auch die KPdSU zu diesen Unterstützern gehörte.
So ergibt sich eine Erklärung für die wohl problematischste Phase im Leben Ernst Blochs, nämlich die Unterstützung der sowjetischen Spielart des Parteikommunismus, die irgendwann zu Beginn der 30er Jahre ihren Anfang nahm, ihn nach dem Krieg auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Leipzig führte – den er, nebenbei bemerkt, dem Angebot, im „Frankfurt Adornos“ zu lehren, vorzog – und erst mit seiner Zwangsemeritierung 1957 endete. Die nach seiner Übersiedlung in den Westen 1961 beginnende Lehrtätigkeit in Tübingen führte Bloch wieder weg vom orthodoxen Kommunismus, ohne dass er deshalb den marxistischen Grundzug in seinem Denken aufgegeben hätte. Das unterscheidet den „späten“ Bloch vom ganz frühen, der sich mit seinem utopischen Messianismus eher an theosophischen und anarchistischen Theoretikern orientierte. Sein Hauptwerk, das ab 1954 veröffentlichte „Das Prinzip Hoffnung“, bildet gewissermaßen ein Scharnier zwischen beiden Phasen, denn von diesem Zeitpunkt ab wird in der DDR vom „verderblichen Einfluss von Blochs Philosophie“ gesprochen – eben weil er auf die utopistischen Theorien seiner Frühzeit zurückgreift. Dabei wurde das 1700 Seiten starke Werk vollständig vor seiner Lehrtätigkeit in der DDR geschrieben, nämlich ab 1938 im New Yorker Exil. Gemeinsam mit Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bertold Brecht und Heinrich Mann gründet er dort mit dem Aurora-Verlag einen Selbstverlag der deutschen Exilliteraten und schreibt in der ebenfalls von Exilanten gegründeten Zeitschrift „Freies Deutschland“. Zur gleichen Zeit entsteht in Los Angeles die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor Adorno und Max Horkheimer, und am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, schreibt der ehemalige österreichische Volksschullehrer und Neopositivist Karl Raimund Popper „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, das nach dem Krieg zum Klassiker des Kritischen Rationalismus werden sollte.
Nun fallen 2017 der 40. Todestag Ernst Blochs (am 4. August) und das 100. Jubiläum der Oktoberrevolution so zusammen, dass ein gemeinsames Gedenkjahr möglich wäre. Von daher ist es interessant zu fragen, wie denn die zeitgenössische Beurteilung der Oktoberrevolution durch Bloch erfolgte. Das nötigt zu einem Blick auf das frühe Werk Ernst Blochs und, mehr noch, auf die Einflüsse und Lebensumstände, die ihn damals geprägt haben.
Bloch wurde am 8. Juli 1885 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Eisenbahnunternehmers in Ludwigshafen geboren. Eines seiner Urteile über Ludwigshafen lautet: „Da liegt, nein da fährt nun die häßliche Stadt, aber sie spektakelt so roh, Geld kreist und die IG-Farben dampfen. Da ist etwas zur Front geworden, die alles an den Tag legt und sich nicht mehr gebildet geniert“ – eine Anspielung auf die „rohe“ Alltagsseite des Kapitalismus. Bloch studierte Musik, Philosophie und Physik und promovierte 1908 nach nur sechs Semestern (was aber damals nicht unüblich war) in Philosophie über den Neukantianer Friedrich Rückert. Prägende Lehrer waren Georg Simmel in Berlin, Max Weber und Karl Jaspers in Heidelberg (Jaspers allerdings eher im Negativen); wegweisend in Heidelberg war der Beginn der Freundschaft mit dem gleichaltrigen späteren Volkskommissar der (gescheiterten) Ungarischen Revolution von 1919, Georg Lukács, der später als einer der führenden kommunistischen Philosophen Werke wie „Geschichte und Klassenbewusstsein“ und „Die Zerstörung der Vernunft“ schrieb.
Ernst Bloch ist, im Gegensatz zu seinem Freund Lukács, vor 1920 kein Marxist, bedient sich allenfalls hin und wieder einiger philosophischer Gedanken von Karl Marx. Wichtiger sind ihm Kurt Eisner und Gustav Landauer, beide herausragende Repräsentanten der Münchner Räterepublik und Landauer überdies anerkannter Kopf des deutschen Anarchismus. Beide wurden 1919 ermordet – vom selben Täterkreis, der auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet hatte.
Aber noch ein ganz anderer Einfluss wirkte prägend auf die frühe Philosophie Ernst Blochs: Es war der Kreis um Gustav Arthur (genannt: Gusto) Gräser, einem aus Siebenbürgen stammenden Künstler, der als „Vater der Aussteigerbewegung“ gilt. Gräser war Mitbegründer der Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona im Schweizer Kanton Tessin, einer Art frühen Hippie-Kommune. In den Jahren nach 1900 entstand dort eine von theosophischen Ideen inspirierte „Naturheilanstalt“, die zunächst genossenschaftlich organisiert war. Im Laufe der Jahre entwickelte sich das ursprüngliche landwirtschaftliche Siedlungsprojekt zu einer Künstlerkolonie, die sehr viele unterschiedliche Charaktere aus ganz Europa anzog. Ab 1904 kam der politische Aktivist und Pazifist Erich Mühsam auf den Monte Verità, später, während des Ersten Weltkriegs, der russische Anarchist Michail Bakunin, einer der ersten prominenten Opfer der Oktoberrevolution, Robin Christian Andersen, der spätere Lehrer von Friedensreich Hundertwasser, die Dadaisten Hugo Ball, Emmy Hennings und Hans Richter, der Maler und Mythopoet Hans Arp sowie die Schriftsteller Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse – und eben auch Ernst Bloch.
Bloch wurde in dieser Zeit Anhänger von Gusto Gräser und dessen Freundin Albine Neugeboren, in deren Haus er 1917 sein erstes größeres Werk „Geist der Utopie“ fertig stellte. In diesem Jahr entstand auch ein Essay mit dem Titel „Über den sittlichen und geistigen Führer“, wobei er Gräser als den sittlichen und sich selbst als den geistigen Führer zeichnete. Auch beschäftigte er sich in dieser Zeit mit Thomas Münzer, den er den „Theologen der Revolution“ nennt; sein Münzer-Buch erscheint dann 1921.
Ernst Bloch, der sich selbst als atheistisch bezeichnet, entwirft in seinem frühen Werk einen utopischen Revolutionsbegriff, der stark von Gustav Landauer geprägt ist, sich aber an einer bestimmten Stelle von diesem absetzt. Landauer entwickelt eine geschichtsphilosophische Skizze, die mit den Begriffen Topie und Utopie arbeitet. Topie ist dabei ein stabiler gesellschaftlicher Zustand, der mit der Zeit seine Stabilität verliert und Ungerechtigkeiten zulässt. Diese Ungerechtigkeiten lösen eine Revolution aus, und diese kurze Phase der Revolution kann als Utopie bezeichnet werden, die dadurch an ihr Ziel gelangt, dass sie wieder eine neue Topie herstellt. Der Anarchist Landauer will nun diesen Kreislauf durchbrechen, was aber nur möglich ist, wenn ein bestimmter Geist über die Menschen kommt, den er, noch ganz im Sinne der Romantik, als einen einheitsstiftenden Geist begreift, den er mit der Rolle des Christentums und dessen Ständeordnung im Mittelalter vergleicht. In seinem Werk „Die Revolution“ sieht Landauer die Utopie durch zwei Momente gekennzeichnet, nämlich durch die „Reaktion gegen die Topie, aus der sie erwächst, und aus der Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien“. So sind für Landauer Revolution und Utopie faktisch in eins gesetzt, während für Bloch „die Utopie Movens der Revolution im Sinne einer Einheit von Erinnerung des Möglichen, des Noch-nicht-Gewordenen, Erbschaft, Wille, Tagtraum nach vorwärts“ (Werner Wild) ist.
In Thomas Münzer als Revolutionär sieht Bloch deshalb genau das, was der (gescheiterten) deutschen und der russischen Revolution fehlt, nämlich die „revolutionär-religiöse Erinnerung […], jenes Geheime, noch Latente, das Marx übersah“, das aber letztlich „zum Sozialismus treibt“. Im Blick auf die russische Oktoberrevolution kann Bloch deshalb sagen, „Christus werde in Rußland erstmals als Cäsar eingesetzt“. Aus seiner anarchistischen Kritik heraus sieht er deshalb, Wild zufolge, eine „kasernenmäßig totale Arbeitsorganisation“ mit einem „autoritären Fabriksystem“ am Entstehen.
Es kann also festgehalten werden, dass der frühe Ernst Bloch, dessen wichtigsten Einflüsse aus dem Bereich des utopischen Anarchismus, der Aussteigerbewegung und der Theosophie kamen, kein Philosoph der Oktoberrevolution, sondern eher einer ihrer scharfsichtigsten Kritiker war. Zu deren philosophischem Apologeten wurde er erst mit seiner Hinwendung zum Marxismus nach 1920.