Mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Sonntagsblatts:
Die bayerische Landeskirche war düpiert, als vor genau einem Jahr ein Berufungsgericht der EKD ihr Urteil gegen einen Oberkirchenrat i. R. aufhob, der Frauen missbraucht hatte. Nun kritisierte der führende deutsche Verwaltungsrechtler Franz Werner Gansen das EKD-Gericht in scharfer Form.
Der Disziplinarhof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wirkt normalerweise im Hintergrund, die öffentliche Wahrnehmung ist gering. Anders verhielt es sich mit dem Urteil vom 13. Februar 2013 über einen Oberkirchenrat i. R. aus Hof. Der 1923 geborene Geistliche war von der Disziplinarkammer der bayerischen Landeskirche 2011 aus dem Dienst entfernt worden, weil er 1964 und 1965 als Gemeindepfarrer eine Konfirmandin sexuell missbraucht und in den Jahren 1975 und 1976 zwei beruflich von ihm abhängige Mitarbeiterinnen ebenfalls missbraucht hatte. Der Disziplinarhof der EKD hatte in der Berufungsverhandlung dieses Urteil kassiert und dem Oberkirchenrat sein Amt und seine Pensionsansprüche zurückgegeben.
Nach einem Bericht des Sonntagsblatts hatte das Urteil eine breite öffentliche Diskussion entfacht. EKD-Ratspräsident Nikolaus Schneider hat bei der EKD-Synode vergangenen November angekündigt, das Disziplinarrecht der EKD »im Sinne einer Sensibilisierung für Opferinteressen« überarbeiten zu lassen. Schneider betonte jedoch auch die Unabhängigkeit der EKD-Gerichte. »Wir sind nicht die Schulmeister unserer Kirchengerichte.«
Doch eben dieses Kirchengericht wird nun von juristischer Seite in seiner Vorgehensweise hinterfragt. Der führende deutsche Verwaltungsrechtler Franz Werner Gansen hat sich die Urteilsbegründung in der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (4/2013) vorgenommen. Gansen kritisiert, das Gericht habe die Einstellung des Verfahrens mit der Verhandlungsunfähigkeit des betagten Angeklagten begründet, obwohl ein Gutachten seine Verhandlungsfähigkeit bescheinigt hatte. Auch eine nachgewiesene Verhandlungsunfähigkeit hätte aus seiner Sicht nicht zur Einstellung des Verfahrens führen müssen. Die Fakten lagen aus dem ersten Verfahren auf dem Tisch, weitere »zwingend gebotene Beweisaufnahmen unterblieben«.
Fazit: Die eigentlich »selbstverständliche« Pflicht der Aufklärung des Sachverhalts und die dafür nötige Beweisaufnahme habe das Gericht »geradezu grob verletzt«, schreibt Gansen, Herausgeber des wichtigsten Kommentars über Disziplinarrecht in Deutschland. Das Gericht hätte eine Beweisaufnahme vornehmen und dabei auch die Opfer hören müssen.
Gansen bemängelt, dass die Richter bei der Verhandlung im Februar 2013 im Keller des Hofer Gerichtgebäudes nur den Oberkirchenrat reden ließen. Die von weit her angereisten Zeugen, darunter auch eines der Opfer, warteten vergebens auf dem Flur vor dem Verhandlungssaal auf ihre Anhörung. Die EKD hatte dieses Vorgehen immer wieder damit verteidigt, im kirchlichen Disziplinarrecht gehe es nicht um die Opfer, sondern ausschließlich um das Verhältnis zwischen Dienstherr und Dienstnehmer.
Gansen attestiert dem EKD-Gericht »bedenkliche Maßstäbe« bei der Einschätzung der Schwere der einzelnen Amtspflichtverletzungen. Es sei für ihn kaum nachzuvollziehen, wie die EKD-Richter zu einem »geringen Verfolgungsinteresse« kommen konnten. Die EKD-Richter argumentierten damit, dass von dem 90-Jährigen in Anbetracht seines Alters und seines Gesundheitszustands keine weiteren sexuellen Übergriffe mehr zu erwarten seien. Das Urteil des Verfassungsrechtlers ist deutlich: Das EKD-Gericht hätte »verharmlosend« agiert, die Einstellung des Disziplinarverfahrens sei »gewollt« gewesen. Helmut Frank