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Opfergedanke und Opfervorstellung

Jesus als Reformator. Das neue Buch von Günter Unger, Pfr. i.R. Ein Literaturhinweis.

10/2016

„Zwei Entwicklungen in der frühesten urchristlichen Zeit, nämlich die Sühnopfertod-Deutung und die apokalyptische Interpretation der Sendung Jesu haben, bereit innerhalb des Neuen Testaments und darauf fußend und aufbauend und sich verfestigend, in der Theologiegeschichte der Christenheit, das Bild Jesu und das Verstndnis des irdischen Jesus und seines Heilsangebots so stark übermalt, wie kaum etwas anderes es vermochte. Hier ist ‚Reformation‘ gefragt.“ (209)
Solche Reform bedarf eine Rückkehr zu Jesu Reformansätzen. Auf dem Stand der Exegese leitet Unger diese aus der Tradition de evangelien in mehreren, Antithesen zwischen Jesu und der jüdischen Tradition formulierenden Schritten ab:
1. Jesus und das Religionsgesetzt (Der Sabbat; die Speise- und Reinnheitsgeote; das Fassten: Sünde, schuld, Vergebung; Jesu grundsätzliche Überwindung des Gesetzes)
2. Jesus und der Opferkult
3. Jsu Ansage der Gottesherrschaft
4. Jesus und die Apokalyptik

Das Buch ist wissenschaftlich fundiert, dennoch allgemeinverständlich geschrieben. Es arbeitet pointiert die aktuellen kirchlichen Fragestellungen und Konfliktlinien heraus und bezieht darin eine klare Position. Es eignet sicher daher auch dazu, mit Gruppen der Gemeinde an den Themen zu arbeiten.
Schmerzlich vermissen wird man ein Bibelstellenverzeichnis. Nicht nachvollziehbar ist die den Inhalt dieses gelungenen Werks konterkarierende, esoterisch anmutende Gestaltung des Covers. F.S.

Günter Unger: Jesus als Reformator, tredition – Verlag, 2016

vgl. dazu auch die Rezension des Buchs „Das Glaubensbekenntnis“ desselben Autors.

 

Notwendiger Abschied oder Traditionsaufbruch? Ein neuer Text der EKD zur Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu. Von Dr. Martin Schuck.

03/2015

Als der emeritierte Professor für Praktische Theologie Klaus-Peter Jörns 2004 sein Buch „Notwendige Abschiede“ veröffentlichte, trat er eine Lawine aus Zustimmung und Ablehnung los, die, nachdem sich die Spreu vom Weizen getrennt hatte, zu einer recht fruchtbaren Auseinandersetzung um die sog. „Sühnopfertheologie“ führte. Im Blick auf einige Loci der altkirchlichen und reformatorischen Dogmatik forderte Jörns, der als Praktischer Theologe immer sehr stark empirisch arbeitete („Die neuen Gesichter Gottes“ war ein bekannter Buchtitel von ihm), eine Angleichung nicht nur der theologischen Sprache, sondern auch der kirchlich zu vertretenden Inhalte an die Vorstellungswelt heutiger Menschen. Zu verabschieden seien deshalb Vorstellungen, wie sie der traditionellen Sühnopfertheologie zugrunde liegen, dass nämlich Gott für die Sünden der Menschen habe ein Opfer bringen müssen.
Die bis zur 4. Auflage von „Notwendige Abschiede“ vor sich hindümpelnde Debatte nahm richtig Fahrt auf, als mit dem früheren Bonner Superintendenten Burkhard Müller ein kirchlicher Praktiker dem Universitätstheologen Jörns beipflichtete und in einem Rundfunkbeitrag 2008 die gleiche Forderung im Blick auf die Sühnopfertheologie stellte. Der an der Universität Bonn lehrende Ethiker Ulrich Eibach widersprach heftig: „Das ist Häresie! Das sagen wir aber heute nicht mehr, weil wir nicht mehr um die Wahrheit ringen. Die Postmoderne kennt keine Wahrheit, jeder macht seine eigene Wahrheit.“ Auch Herbert Schnädelbach, mit dem Atheismus ringender Philosophieprofessor und Sohn eines methodistischen Pfarrers aus der Pfalz, beteiligte sich an der Debatte: „Gott schickt seinen Sohn in einen blutigen Tod, um sich mit sich selbst zu versöhnen. Ich finde das finster und abschreckend.“
Noch im selben Jahr warb das Leitende Geistliche Amt der EKHN für eine differenzierte theologische Betrachtung und stellte in einem Grundsatzdokument fest, dass das Kreuz unterschiedlich gedeutet werden könne; die opfertheologischen Deutungen seien nur eine Möglichkeit. In eine ähnliche Richtung versuchte 2010 eine gutgemeinte, aber komplett überpädagogisierte Arbeitshilfe der rheinischen Landeskirche unter dem Titel „Aus Leidenschaft für uns. Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu“ zu gehen. Leider erreichte dieser Text bei weitem nicht das Reflexionsniveau der EKHN-Studie und beschränkte sich auf meditative Impulse und liturgische Vorschläge. Theologisch verlief die Debatte nach 2010 mehr oder weniger im Sande.
Fünf Jahre später hat nun der Rat der EKD einen von der Kammer für Theologie erarbeiteten Grundlagentext mit dem Titel „Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu“ veröffentlicht. Und wie es in EKD-Texten so üblich ist, wird versucht, für alle Richtungen Verständnis zu zeigen und in großer Harmonie auf die bevorstehende Allversöhnung hinzuarbeiten. Wer dieses Verfahren wegen der zurecht geübten massiven Kritik im Falle der berühmt-berüchtigten „Orientierungshilfe“ zu Ehe und Familie in Zweifel zieht, muss im vorliegenden Fall umdenken: Tatsächlich zeichnet sich das gewählte Verfahren, alle Positionen zu berücksichtigen, als das wohl einzig sachangemessene aus.
Nach dem obligatorischen Vorwort des aktuellen Ratsvorsitzenden und einer knappen Einführung folgt eine etwa 30-seitige Analyse des biblischen Befundes. Etwa die Hälfte des 194-seitigen Textes machen die Teile III. und IV, nämlich die „theologiegeschichtlichen Erkundungen“ und die „frömmigkeitsgeschichtlichen Einblicke“, aus. Diese Rekonstruktion der unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Deutungen des Kreuzestodes Jesu in ausgewählten Epochen der Kirchengeschichte und, im Falle von Reformation und Neuzeit, bei unterschiedlichen Autoren der gleichen Epoche, stellt sich nach Lektüre des gesamten Textes als die eigentliche theologische Leistung der Autoren heraus. Nicht nur, dass es herrliche Miniaturen zu genießen gibt – wohl selten ist es jemandem gelungen, die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury auf so engem Raum so klar darzustellen –, auch die theologischen Grundentscheidungen an den historischen Wendepunkte etwa in der Reformationszeit und im Transformationsprozess vom Alt- zum Neuprotestantismus unter dem Einfluss von Pietismus, Aufklärung und Rationalismus, werden deutlich. Und innerhalb der einzelnen Wendepunkte kommen jeweils die entscheidenden Positionen in ihrer Unterschiedlichkeit zum Tragen und können vom Leser nachvollzogen werden: So folgen der Darstellung von Luthers Kreuzestheologie die „Akzente reformierter Theologie“, und dem individualethischen Blick Immanuel Kants auf die „allerpersönlichste Schuld“ kontrastiert die „Wirkung Jesu Christi auf das neue Gesamtleben vom Menschen“ bei Friedrich Schleiermacher. Dass mit einem Blick auf „Hegels Verständnis des Kreuzesgeschehens“ gerade jener Philosoph, dessen gegenwärtige Rezeption in starkem Kontrast zu seiner enormen Wirkungsgeschichte steht, wieder einmal Gegenstand einer kirchenoffiziellen Abhandlung wird, sei nur am Rande notiert.
Es ist bezeichnend, dass sich die Darstellung aktueller Positionen nicht an theologischer Literatur, sondern an Phänomenen religiöser Ästhetik und Gegenwartsdeutung orientiert. So geht es unter V. („Für uns gestorben“ – Wiederentdeckung des Kreuzes?) um den Mentalitätswandel an der Jahrtausendwende, Passionskonzerte, Jesusfilme, neue Lieder und die immer wieder neuen Individualisierungsschübe der postmodernen Gesellschaft. Die zuvor dargestellten biblischen, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Erwägungen waren kein gelehrter Selbstzweck, so die Botschaft, sondern notwendiger Wissensbestand, um die vielfältigen Spuren der Passionsgeschichte im kollektiven Gedächtnis des Abendlandes zu entdecken und damit die Semantik unserer christlichen Existenz richtig verstehen zu lernen.
Eine Verständigung über das Kreuzesgeschehen kann demnach nur als mehrschichtiger Prozess gedacht werden. Von daher wäre es nicht nur unangemessen, sondern dem Gegenstand gegenüber respektlos, würden die Autoren auf den verbleibenden 30 Seiten das zu leisten versuchen, was weder einem Martin Luther, noch einem Friedrich Schleiermacher und all den anderen gelungen ist, nämlich eine Deutung des Todes Jesu vorzulegen, die keine offenen Fragen mehr kennt. Der Text endet deshalb mit einem Katalog der „wichtigsten gegenwärtigen Fragen an den Sinn von Jesu Leiden und Tod“ und dem Versuch einer Antwort auf jede dieser Fragen.
Wie das aussieht, kann exemplarisch an einer Frage nachvollzogen werden, die den Opfergedanken vom Neuen Testament bis in die Gegenwart verfolgt. Die Frage lautet: „Wieso ist aber im Neuen Testament und auch danach in Liedtexten und sogar in Predigten vom Opfer die Rede?“ Die Antwort verweist zunächst darauf, dass das Opfermotiv nur „einer von mehreren Deutungsversuchen des Todes Jesu“ sei und diene, wie alle anderen Deutungsversuche auch, einer Annäherung an das Verständnis dieses Todes. Dabei, so weiter, führe das Opfermotiv „besonders eindringlich die Bedingungslosigkeit der Hingabe vor Augen, in der Gott in Jesus Christus für die Menschen eintritt“. Freilich biete das Opfermotiv keine erschöpfende Deutung des Todes Jesu. Das biblische Repertoire an Deutungsmotiven kenne noch weitere Möglichkeiten, etwa die Motive „vom Passalamm, vom Loskauf, von der Stellvertretung und von der Neuschöpfung“. Entscheidend ist dann der Hinweis, jedes dieser Motive stelle „auf seine Weise ein entscheidendes Moment des Todes Jesu in den Vordergrund“.
Der Text argumentiert folglich mit der Vielschichtigkeit des biblischen Zeugnisses und macht somit, ohne es auszusprechen, klar, dass jede sich als abschließend verstehende Deutung der Komplexität dieses Zeugnisses nicht gerecht wird. Eine zweitausendjährige Auslegungsgeschichte lässt sich nicht durch eine weitere Auslegung beenden, sondern drängt nach ständiger Fortschreibung. Gute Theologie war sich zu jeder Zeit dieser hermeneutischen Regel bewusst, und sollte diese einmal nicht mehr gelten, wäre es das Ende der Theologie, wie wir sie kennen.A

Braucht das Christentum ein Opfer? Ein Diskurs über das Fremde im eigenen Glauben. Mit Prof. Hans-Martin Gutmann und Prof. Wilhelm Gräb.

Ein Diskurs über das Fremde im eigenen Glauben
Im Rahmen der Evangelischen Akademiewoche 2014

Der Gedanke des Opfertodes Christi ist vielen Menschen ein Ärgernis.
Christus starb für unsere Sünden, heißt es in der Liturgie zum Abendmahl.
Anders formuliert: Unser Heil wurde durch eine Gewalttat erworben.
Widerspricht das nicht der Liebe Gottes? Wie ist Christi Opfer zu verstehen?
Als Sühnopfer für unsere Schuld, als Hingabe seines Lebens oder
als Akt der Versöhnung der Menschen mit Gott?

Daraus hier wenige Auschnitte:

Prof. Hans-Martin Gutmann: Überlegungen zum „Opfer“

… In den Erzählungen von Jesu Leben, seiner Kreuzigung und der von seinen Freund/innen erfahrenen Auferstehung wird der traditionelle Gewaltopfer-Mythos vom rettenden Tod des schuldigen Opfers anders erzählt, umerzählt und verwandelt. Nicht die Tötung steht im Zentrum dieser Erzählung, sondern das Dabei – Bleiben Gottes in der Situation des Schreckens und die Lebenshingabe Jesu an seine Freundinnen und Freunde: …

Dies schließt nicht nur liturgische, sondern auch politische Konsequenzen ein: Widerspruch gegen Strukturen des Opfern -Müssens, wo immer heute ihre zerstörerische Macht aufscheint – in lebensgeschichtlichen und kommunikativen Mustern, in ökonomischen Konstellationen, in politischen und zivilreligiösen Mythen.
In scharfer Auseinandersetzung mit der vom Klerus der Kirche geförderten do-ut-des Mentalität entwickeln die Reformatoren, insbesondere Luther, eine Theologie des radikalen Umsonst…

Wilhelm Gräb: Braucht das Christentum ein Opfer?
(Thesen zum Gespräch mit Hans-Martin Gutmann)

1. Das Christentum braucht keine Opfer, wenn es sich von dem Menschen Jesus her versteht, dem Menschen, der mit Gott vollkommen in Liebe verbundenen war.
2. Gott hat nicht den Tod Jesu am Kreuz verlangt, um der die gesamte Schöpfung und alle Menschen liebende Gott sein zu können.
3. Es ist überhaupt nicht Gottes Wille, dass Opfer gebracht werden müssen. Gott will weder, dass Menschen gewaltsam zu Opfern werden, noch dass sie sie meinen, sich um anderer willen selbst opfern zu müssen.

Die vollständigen Beiträge.

 Vgl. zum Thema Sühnetodvorstellungen auch die Ausführungen bei Pfr. Günter Unger/München in seinem Buch „Das Glaubensbekenntnis“. Die Rezension finden Sie hier.