von Maximilian Heßlein, Pfarrer der Christusgemeinde Heidelberg
Die sechs Thesen der Barmer Theologischen Erklärung und die dazu gehörenden Verwerfungssätze – sie sind übrigens im Evangelischen Gesangbuch der Badischen Landeskirche unter der Nummer 888 einzusehen – gehören wohl zu den in der Kirche meist zitierten Texten der letzten Jahrzehnte. Sie sind nach meiner Wahrnehmung das neue Bekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland geworden. Ihre Wirkungsgeschichte ist hoch und an ihrer Aktualität und Zeitlosigkeit besteht kein Zweifel. Es sind auf der Grundlage der Schrift entwickelte Glaubenssätze für das Leben der Kirche in einer feindlichen, die kirchliche Existenz bedrohenden Welt. Damit haben diese Sätze nicht nur Wirkkraft für die Kirche selbst, sondern auch für die Gesellschaft, in der die Kirche existiert.
Solches Bekennen aber führt ja immer auch zu Konsequenzen. Die praktische Umsetzung ist gefragt. Was also mache ich mit den Dingen, die ich da bekenne, ganz konkret? Welche Folgen hat der so artikulierte Glaube für mein Handeln?
In der Kirche dieser Tage wird dabei immer wieder vor allem um die vierte These gerungen:
Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.
Das ist im Rückgriff auf Luthers Priestertum aller Gläubigen das Grunddogma evangelischen Kirchenverständnisses heute. Die Kirche ist so gesehen in letzter Konsequenz ein herrschaftsfreier Raum, eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, in der Jesus Christus als der Herr handelt. Weil niemand Herr ist außer Christus allein, kann auch keiner über den anderen herrschen. Vielmehr wird in einem freien Miteinander das Wort Gottes in die Welt getragen. Allein das ist die Aufgabe und der Grund unseres Tuns.
Wie aber mache ich das, wenn ich mit der Kirchen auch einen in dieser Welt existierenden Betrieb am Laufen halten muss? Schließlich wissen auch die Barmer Autoren in der fünften These um die Existenz der Kirche in der Welt. Sie ist noch kein Paradies, sondern sie besteht neben der geistlichen Gemeinschaft als weltliche Organisation inmitten der noch nicht erlösten Welt. Sie ist an wirtschaftliche Grundbedingungen gebunden. Ihre Räume heizen sich nicht allein durch die Wärme der Liebe. Ihr Personal, Pfarrerinnen und Pfarrer, Sekretärinnen und Hausmeister, Verwalter und Architektinnen und auch der Bischof können nicht allein von Gotteslohn leben. Die Kirche muss Löhnen zahlen, Arbeitsmaterial beschaffen und ihre Schätze pflegen. In all diesem Tun ist sie als Organisation eingebunden in weltliches Handeln. Ist auch in dieser Organisation Jesus Christus der alleinige Herr der Kirche?
In diesem Spannungsfeld von geistlicher Gemeinschaft und weltlicher Organisation entstehen immer wieder Konflikte um die Wahrnehmung und Wahrung von Interessen und Bedürfnissen. Die Kirche hat in diesen Tagen vor allem mit schwierigen wirtschaftlichen Prognosen zu tun. Die zur Verfügung stehenden Mittel werden wohl auf mittlere Sicht deutlich weniger werden. So steht es zumindest zu befürchten, wenn man den aktuellen Prognosen der Kirchenleitungen folgt. Zugleich ist die bauliche Substanz kirchlicher Gebäude teilweise in einem beklagenswerten Zustand. Die Arbeitsbelastung wird in manchen Bereichen auf immer weniger Schultern verteilt, während an anderer Stelle ausgebaut wird, um die Komplexität der vorgegebenen Abläufe noch im Griff zu behalten.
Dass dabei übrigens die Mündigkeit der einzelnen Schwestern und Brüder gleich mit aufgegeben wird, steht auf einem Blatt, das bisher nur sehr wenige entdeckt haben. Denn je komplexer und spezialisierte die Dokumente oder Pläne sind, desto weniger kann ich selbst einen Überblick behalten. Zurzeit ist das vor allem im Blick auf neue Haushaltspläne deutlich erkennbar. „Wissen ist Macht“, heißt es bei Francis Bacon. Das mögliche Wissen wird aber auf kaltem Weg an vielen Stellen gerade abgebaut. Das wiederum steigert die Macht und damit die Herrschaft derer, die über spezielles Wissen verfügen.
Herrschaft wird dann ausgeübt, wenn jemand Macht über mich gewinnt, über mein Leben zu entscheiden. Wenn ich gezwungen werde, Dinge anders zu tun, als ich das will, dann werde ich beherrscht. Geht das im Glauben? Geht das also in der Kirche, die ich von diesem Glauben nicht trennen kann?
Die Frage, die sich im Zusammenhang der Wahrnehmung der organisatorischen Interessen und des geistlichen Lebens dann stellt, ist letztlich: Hat jemand das Recht über mein geistliches Leben zu bestimmen, weil es aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten angezeigt ist, eine Kirche zu verkaufen oder eine Gemeinde zu fusionieren, die Liturgie oder Gottesdiensthäufigkeit in meiner Nähe zu verändern? Hat überhaupt jemand in der Kirche das Recht, Gelder zur Verfügung zu stellen oder zu entziehen?
Wenn ich nun die These 4 ernst nehme, dann bleibt eigentlich nur der Schluss, dass es eine solche Herrschaft nicht geben kann. Niemand soll unter einer Entscheidung seine Freiheit verlieren. Also müssen Entscheidungen in diesem Feld in einem breit angelegten Kommunikationsprozess unter Beteiligung der Betroffenen geschehen. Es besteht die Aufgabe, die Menschen mitzunehmen, ihre Mündigkeit und ihr Priestertum zu wahren und zugleich nicht zu einem Stillstand im Handeln zu kommen. Das ist zeitintensiv und gesprächsintensiv. Das braucht eine ungeheuer große Wahrnehmung der verschiedenen Menschen einer Gemeinde, eines Stadtteils oder eines Bezirks. Das braucht auch den nahen Kontakt zu den Menschen, Ansprechbarkeit, Freundlichkeit, Ruhe und unendlich viel Zeit und Muße, sich auf Sorgen und Nöte einzulassen.
Nicht zufällig weist die fünfte These nicht nur auf die Verantwortung der Regierenden, sondern auch auf die Verantwortung der Regierten hin. So haben die Regierenden eigentlich keine andere Aufgabe als den Diskussions- und Kommunikationsprozess am Laufen zu halten und fortzuführen, für sein Gelingen zu sorgen und eine Entscheidungsfindung aller Betroffenen zu ermöglichen. Es geht nicht um das Durchsetzen eines Standpunkts, sondern um das Suchen und Finden desselben, der dann in die Tat umgesetzt wird. Die Regierten aber haben die Aufgabe, sich an diesem Prozess zu beteiligen und nicht die Füße hochzulegen und hinterher zu meckern oder alles besser zu wissen. Die Beteiligung der Betroffenen ist aktiv und passiv für dieses Bild der Herrschaftsfreiheit konstitutiv.
Wenn ich nun aber zu dem Schluss komme, dass die Gleichheit aller und die Herrschaftsfreiheit für die und in der weltlichen Organisation der Kirche gilt, dann gilt sie auch darüber hinaus in der Welt selbst. Das heißt sie gilt auch in unserer Gesellschaft, ist zumindest erstrebenswert und als politisches Ziel festzuhalten. Es geht also darum, im Licht des befreienden Gotteswortes ein gesellschaftliches Gebäude zu errichten, in dem die Menschen, die von einer Entscheidung betroffen sind, auf dem Weg der Entscheidungsfindung mitgenommen werden. Sie müssen gefragt und gehört werden und eine gemeinschaftlich getroffene Entscheidung darf die geäußerten Sichtweisen nicht außer Acht lassen. Das ist ein mühsamer Weg, der auch immer wieder dazu nötigt, den Blick des anderen anzunehmen.
Entscheidend für das Gelingen dieses Vorhabens und der Umsetzung dieses Entscheidungsbildes aber ist der Bruch des hergebrachten Verständnisses verschiedener hierarchischer Ebenen, als gäbe es Menschen, die oben sind, und Menschen, die unten sind. Nein, diese verschiedenen Ebenen sind, Barmen zu Ende gedacht, nicht vorgesehen. Es gibt außer Gott niemanden, der über mir steht. Es gibt aber außer Gott am Karfreitag auch niemanden unter mir. Das Gottesbild darin ist noch einmal eine eigene Diskussion wert.
Einen Konsens wird es auf unseren Weg zu verschiedenen Entscheidungen nicht immer geben können. Das gehört zum Status der Erlösungsbedürftigkeit dazu. Aber die Aufgabe steht unter dem Zuspruch Gottes, dass er letztlich alle Dinge trägt. So ist die Suche und der gemeinsame Weg der Entscheidungsfindung schon der eigentliche Zielpunkt.