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Abschaffung der Militärseelsorge. Von Pfarrer i. R. Hans Dieter Zepf

Ein Kommentar zum Bericht über die EKD – Seite Traumjob Militärpfarrerin:

07/2017 

I. Die Entstehung des Militärseelsorgevertrages und das Scheitern eines Reformversuches

Militärseelsorge hat es schon in früheren Zeiten gegeben. Sie hat eine lange Tradition. Diese Tradition wurde nach der Wiederbewaffnung nach dem zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Zwar stand die überwiegende Mehrheit der Menschen in Westdeutschland der Wiederaufrüstung ablehnend gegenüber, aber Adenauer setzte seine Remilitarisierungspläne gegenüber dem Mehrheitswillen durch. Zwei Stimmen gegen die Wiederaufrüstung der BRD seien für viele hier stellvertretend genannt. In einem offenen Brief an Adenauer formulierte Martin Niemöller: „Wenn der gegenwärtige Bundestag über diese Frage entscheidet, so käme das einem Volksbetrug gleich, da kein deutscher Wähler bei der Wahl im Sommer 1949 die Absicht gehabt hatte, dem Deutschen Bund die Vollmacht zu einer Kriegsrüstung oder Kriegsbeteiligung zu geben.“ Und als Adenauer am 29. August 1950, ohne das Bundeskabinett zu informieren, „…seine Bereitschaft erklärt, im Falle der Bildung einer internationalen westeuropäischen Armee einen Beitrag in Form eines deutschen Kontingents zu leisten“, trat Heinemann als Innenminister zurück mit folgender Begründung: „ Ist es vertretbar, dass eine Erklärung von solch entscheidungsvoller Tragweite vom Bundeskanzler abgegeben wird, ohne dass das Kabinett an der Willensbildung beteiligt ist ? … Wenn in irgendeiner Frage der Wille des deutschen Volkes eine Rolle spielen soll, dann muss es in der Frage der Wiederaufrüstung sein.“ (Zitate aus Ulrich Albrecht: Die Wiederaufrüstung der BRD)

Im Gefolge der Wiederaufrüstung der BRD kam es zum Militärseelsorgevertrag. Am 8. März 1957 stimmte die Synode der evangelischen Kirche dem Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge nach heftiger Debatte mit Zweidrittelmehrheit zu mit Unterstützung der Synodalen aus der DDR. Die DDR –Vertreter enthielten sich nicht der Stimme, obwohl der Vertrag aufgrund der verfassungsrechtlichen Trennung von Staat und Kirche für die DDR nicht zutraf. Die Synode wurde vor vollendete Tatsache gestellt. Der Militärseelsorgevertrag war bereit am 22. Februar 1957 von Adenauer, Strauß, Bischof Dibelius und dem Leiter der Kirchenkanzlei Brunotte unterzeichnet worden. Ein Skandal!

Zum ersten Mal wurde die Militärseelsorge nicht wie bisher allein durch den Staat geregelt, sondern durch eine Vereinbarung zwischen Kirche und Staat. Mit diesem Vertrag setzten sich die konservativen Kräfte in der Kirche durch. Ich nenne einige wichtige Regelungen des Militärseelsorgvertrages von 1957:

Die Militärseelsorge als Teil der kirchlichen Arbeit wird im Auftrag und unter der Aufsicht der Kirche ausgeübt (Abschnitt I, Grundsätze, Artikel 2, 1).

Der Staat sorgt für den organisatorischen Aufbau der Militärseelsorge und trägt ihre Kosten (Abschnitt I, Grundsätze, Artikel 2,2). Die Kirche begibt sich damit in Abhängigkeit. „Wes Brot ich ess,`des` Lied ich sing“.

Die Militärseelsorge wird von Geistlichen ausgeübt, die mit dieser Aufgabe hauptamtlich beauftragt sind (Militärgeistliche) (Abschnitt I, Grundsätze, Artikel 3,1). Anmerkung: Militärgeistliche werden durch den MAD überprüft!!

Die kirchliche Leitung der Militärseelsorge obliegt dem Militärbischof (Abschnitt III, Militärbischof, Artikel 10).

Der Militärbischof wird vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland ernannt. Vor der Ernennung tritt der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland mit der Bundesregierung in Verbindung, um sich zu versichern, dass vom staatlichen Standpunkt aus gegen den für das Amt des Militärbischofs vorgesehenen Geistlichen keine schwerwiegenden Einwände erhoben werden (Abschnitt III, Militärbischof, Artikel 11).

Zur Wahrnehmung der zentralen Verwaltungsaufgaben der evangelischen Militärseelsorge wird am Sitz des Bundesministeriums für Verteidigung ein „Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr“ eingerichtet, das dem Bundesminister der Verteidigung unmittelbar nachgeordnet ist (Abschnitt IV, Kirchenamt, Artikel 14). Eine enge Verquickung von Verteidigungsministerium und Militärseelsorge ist offensichtlich. Der Leiter des Amtes, der Militärgeneraldekan, ist in kirchlichen Fragen dem Militärbischof unterstellt, was Verwaltungsaufgaben betrifft, die mit der Militärseelsorge zusammenhängen, dem Bundesverteidigungministerium.

Die Militärgeistlichen stehen in einem geistlichen Auftrag, in dessen Erfüllung sie von stattlichen Weisungen unabhängig sind ( Abschnitt V, Militärgeistliche, Artikel 16).

Von Anfang an bis heute war und ist dieser Vertrag umstritten. Insbesondere geht es dabei um den Bundesbeamtenstatus der Militärpfarrer, die Stellung des „Evangelischen Kirchenamtes für die Bundeswehr“ als Bundesoberbehörde, die Mitwirkung des Staates bei der Ernennung des Militärbischofes und den Lebenskundlichen Unterricht, für den es keine vertragliche Regelung gibt. Der LKU ist eines der Hauptarbeitsfelder der Militärgeistlichen. Er wird auf den „Grundlagen christlichen Glaubens“ erteilt, „sittliche Fragen“ werden behandelt. Er soll das „Pflichtbewusstsein“ der Soldaten stärken und ihnen die „Gemeinschaft“ als „verteidigungswert“ vermitteln (ZDv 66/2). Der LKU wird u.a. von dem früheren Ratsvorsitzenden der EKD Huber für verfassungswidrig bzw. bekenntniswidrig gehalten.

Die Militärseelsorge ist in militärisch-staatliche Strukturen eingebunden. Die Freiheit des Evangeliums ist damit eingeschränkt. Die Militärpfarrer/innen stehen im Konflikt zwischen Staat und Kirche (doppelte Loyalität). Die Militärseelsorge schweigt zu der Tatsache, dass der Auftrag der Bundeswehr ausgeweitet wurde zu einer Interventionsarmee. Die Militärseelsorge schärft nicht die Gewissen der Soldatinnen und Soldaten (Kriege, die völkerrechts – und grundgesetzwidrig sind (Kosovo-Jugoslawienkrieg, Afghanistankrieg).

Mit der deutschen Wiedervereinigung war auch der Weg frei für den Zusammenschluss der ostdeutschen evangelischen Kirche mit der westdeutschen evangelischen Kirche. Die ostdeutschen Landeskirchen lehnten die Übernahme des Militärseelsorgevertrages ab. Sie waren nicht gegen Seelsorge an den Soldaten, sondern ihre Kritik richtete sich gegen den Status der Militärseelsorger als Bundesbeamte. In der ehemaligen DDR gab es keine Militärseelsorger wegen der Trennung von Staat und Kirche.

Im Militärseelsorgevertrag von 1957 sahen die ostdeutschen Landeskirchen eine zu große Staatsnähe. Auch im Westen sprachen sich mehrere Synoden für eine Neuregelung der Militärseelsorge aus. Es ging als um eine Soldatenseelsorge in kirchlicher Verantwortung.

Über die Frage der Neuregelung der Militärseelsorge kam es zu einer langen Debatte in der evangelischen Kirche. Bei der EKD- Synode in Halle 1994 wurde beschlossen, dass die Landeskirchen entscheiden konnten, dass auch kirchliche Dienstverhältnisse möglich sind.

In den 1995 folgenden Gesprächen mit dem Staat, weigerte sich die damalige Regierung (unter Kohl) den Militärseelsorgevertrag entsprechend dem Synodenbeschluss von Halle zu ändern. Die Bundesregierung war der Auffassung, dass sie am bisherigen Militärseelsorgevertrag festhalten wolle, da er eine optimale seelsorgerliche Betreuung der Soldaten gewährleiste, außerdem sei die Gleichbehandlung zwischen evangelischen und katholischen Christen in der Bundeswehr sichergestellt. Für den Bereich der östlichen Landeskirchen bot die Regierung weitere Gespräche an.

Übrigens: die führenden katholischen Kirchenvertreter hatten keine Probleme, sie übten keine Kritik am Militärseelsorgevertrag von 1957; für die katholische Kirche gilt noch immer das am 20. Juli 1933 zwischen dem Vatikan und dem 3. Reich abgeschlossene Reichskonkordat.

Als Ergebnis dieser Staat-Kirche-Gespräche entstand 1996 eine Rahmenvereinbarung, die ausschließlich für die neuen Bundesländer Gültigkeit hatte und bis Ende 2003 befristet war.

Wesentliche Punkte aus dem Militärseelsorgevertrag wurden in die Rahmenvereinbarung übernommen. Neu ist, dass die Pfarrer im Gegensatz zum Militärseelsorgevertrag nicht Staatsbeamte, sondern Kirchenbeamte sind, also im unmittelbaren Dienst der EKD stehen. Die wichtigste Forderung der östlichen Landeskirchen wurde damit erfüllt.

Die EKD-Synode in Amberg im November 2001 fasste einen Beschluss zur Änderung der Grundordnung der EKD (die Seelsorge in der Bundeswehr soll zur Gemeinschaftsaufgabe der EKD erklärt werden !, sowie einen Beschluss zum Abschluss einer Verwaltungsvereinbarung zur Ergänzung des Militärseelsorgevertrages ( u.a. sind Regelungen zu treffen zu: dem Status der Militärpfarrer- und pfarrerinnen als Bundesbeamte und-beamtinnen auf Zeit oder als Angestellte, dem vermehrten Einsatz nebenamtlich tätiger Militärpfarrer und Militärpfarrerinnen.

Die Kritik der östlichen Landeskirche an dem Status der Militärseelsorger als Bundesbeamte spielte keine Rolle mehr.

Ein Jahr später beschloss die EKD-Synode in Timmendorfer Strand eine
einheitliche Regelung der Militärseelsorge in Ost – und Westdeutschland. Die Änderung der Grundordnung der EKD wurde beschlossen (Wortlaut: „Die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland und der in ihr verbundenen Gliedkirchen“ !– vergleiche Beschluss – EKD-Synode 2001 in Amberg ); ferner billigte die Synode, dass Militärseelsorger auch im Einzelfall als kirchliche Angestellte tätig sein können und nicht in jedem Fall Bundesbeamte werden müssen. Auch der Einsatz von Pfarrern im Nebenamt ist möglich.

Die Beschäftigung von Soldatenseelsorger ausschließlich im kirchlichen Dienstverhältnis war damit vom Tisch.

Erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass im Beschluss von Amberg zur Änderung der Grundordnung, die Seelsorge in der Bundeswehr zur Gemeinschaftsaufgabe der EKD erklärt werden soll, während im Beschluss der Änderung der Grundordnung der EKD in Timmendorfer Strand es heißt: Gemeinschaftsaufgabe der EKD und der in ihr verbundenen Gliedkirchen. Der Beschluss in Timmendorfer Strand steht im Widerspruch zu § 1 des Kirchengesetzes zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland vom 8. März 1957, wo es heißt: „Die Militärseelsorge bildet einen Teil der den Gliedkirchen obliegenden allgemeinen Seelsorge.“

Die Änderung der Grundordnung ist eine Stärkung der EKD, wenn nicht eine Entmündigung der Landeskirchen.

Die Frankfurter Rundschau schrieb in ihrer Ausgabe vom 08.11.02:
„Grundlage des jetzigen Beschlusses ist eine im Juni verbindlich festgelegte Auslegung des weiter gültigen Militärseelsorgevertrages von 1957 zwischen EKD und Verteidigungsministerium. Auf das Aushandeln des neuen Vertrages verzichteten die Kirchenvertreter, weil sie eine Verschlechterung ihres Status´ und finanzielle Einbußen fürchteten. Im Kirchenparlament wurde daher auch kritisiert, die Vereinbarung trage den grundsätzlichen Bedenken gegen die zu große Staatsnähe zu wenig Rechnung und sei in erster Linie von pragmatischen Überlegungen geleitet. Pfarrer Wolfgang Zimmermann …bilanzierte, die ostdeutschen Kirchen hätten damit ihre Ziele nicht erreicht. Für die Soldatenseelsorger gelte weiter das Prinzip der doppelten Loyalität gegenüber Staat und Kirche. Der Magdeburger Bischof Axel Noack sagte, die Neuregelungen gingen zwar in die richtige Richtung, aber die ‚Kröte’, die die östlichen Kirchen jetzt schlucken müssten, schmecke ihm nicht. Zuletzt sei es nur noch um juristische statt um inhaltliche Fragen gegangen. Scheitern lassen mochte er die Vereinbarungen nicht, weil die Militärseelsorge einheitlich geregelt werden müsse. … Der Berliner Synodale Joachim Klasse bezeichnete diese Vorbehalte als reine Theorie. Bisher habe es keine Loyalitätskonflikte der Seelsorger in der Bundeswehr gegeben. Auch das Ratsmitglied sieht die Unabhängigkeit der Geistlichen gewährleistet“.

Mit dem Beschluss über die einheitliche Regelung der Militärseelsorge wurde den östlichen Landeskirchen der Militärseelsorgevertrag von 1957 übergestülpt. Eine Chance wurde verpasst. Auf den Punkt gebracht: „Der Weigerung des Staates, über eine Veränderung des Militärseelsorgevertrages zu verhandeln, hat sich die Kirche gebeugt. Der Staat will kein freie, kritische, am Evangelium orientierte Seesorge, sondern einen in die staatlichen und militärischen Strukturen eingepassten religiös-psychologischen Betreuungsapparat für künftige weltweite Bundeswehreinsätze“ (Dietrich – Bonhoeffer- Verein und Niemöller –Stiftung).

Mit der jetzigen gemeinsamen Regelung für Ost und West bleibt die Problemanzeige der östlichen Kirchen bestehen. Das Angestelltenverhältnis ist keine Alternative zum Staatsbeamtenverhältnis, weil die Loyalitätspflichten des Angestellten dem Staat gegenüber die gleichen sind wie die des Bundesbeamten.

II. Die Militärseelsorge ist abhänging vom Staat

Die behauptete Unabhängigkeit der Militärseelsorge ist nicht gewährleistet, wie folgende vier Beispiele belegen. 1) In der Rahmenvereinbarung der BRD mit der EKD über die evangel. Seelsorge in der Bundeswehr im Bereich der neuen Bundesländer heißt es unter Punkt 3: „Die Pfarrer müssen die freiheitlich – demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anerkennen. Dazu gehört die Achtung vor der Entscheidung der Soldaten zum Wehrdienst mit der Waffe. Die Pfarrer dürfen sich innerhalb dienstlicher Unterkünfte und Anlagen nicht zugunsten oder ungunsten einer bestimmten politischen Richtung bestätigen“. 2) Ein Militärpfarrer an der Artillerieschule der Bundeswehr in Idar-Oberstein verlas im Ostersonntagsgottesdienst 1999 eine Stellungnahme zum Kosovo-/Jugoslawien-Krieg, die er auch an einem Schriftenstand der evangelischen Militärseelsorge auslegte. Er wies unter anderem auf die Völkerrechtwidrigkeit dieses Krieges hin. Ein Offizier und das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr (Behörde des Verteidigungsministerium) schritten dagegen ein. 3) Der damalige evangelische Militärbischof Hartmut Löwe erklärte 1999, Militärgeistliche hätten nicht darüber zu urteilen, ob Auslandseinsätze der Bundeswehr richtig seien. 4) Ein leitender Offizier der Schule für innere Führung sagte 1975: „Wir erwarten von einem Pfarrer, der zu uns kommt als Seelsorger, dass er zur Bundeswehr ja sagt mit allen Konsequenzen, den Ernstfall eingeschlossen. Der Einfluss des Staates auf die Militärseelsorge ist unverkennbar. Alle vier Beispiele sind Verstöße gegen Artikel 4 und 5 des Grundgesetzes, worin es um die Glaubens – und Gewissensfreiheit und um die freie Meinungsäußerung geht. Demokratie und Militär sind nicht auf einen Nenner zu bringen.

Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 warnt in ihrer III. These: “Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung dem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugung überlassen.“

Dem katholischen Theologieprofessor Missalla ist zuzustimmen, wenn er formuliert: „Wenn heute in über 40 Staaten eine katholische Militärseelsorge mit einigen tausend haupt – und ehrenamtlichen Militärgeistlichen – in fast allen Staaten mit Offiziersrang – eingerichtet ist, dann müsste die Kirchenleitung sich eigentlich bewusst sein, dass diese Staaten – nicht zuletzt als Gegenleistung für die investierten Gelder – erwarten, dass die Militärseelsorge die Institutionen Militär und Staat stabilisiert und die Auftragserfüllung der Streitkräfte ebenso unterstützt wie ihre Kampfkraft. Es ist nicht zu erkennen, dass über dieses Thema in der katholischen Kirche … (und auch nicht in der evangelischen Kirche – Anmerkung H. D. Zepf) diskutiert wird, obwohl die Problematik … offenkundig ist.“

Hinzu kommt, dass die Militärpfarrer/innen schweigen zu Missständen in der Bundeswehr (vgl. hierzu Michael Behrendt: Bundeswehrskandal – Bedauerlicher Einzelfall oder mehr? Positionspapier 8, hrsgb. Von der Arbeitsstelle für Frieden und Abrüstung e.V., Berlin) z. B., dass Soldaten in Afghanistan mit Totenköpfen posiert haben (im Krieg verrohen Menschen).

Kein Militärseelsorger darf Soldaten, ob in Friedens – oder Kriegszeiten zur Wehr – oder Kriegsdienstverweigerung aufrufen. Genau das aber wäre vom Evangelium her sein Auftrag. Die Militärseelsorge kann sich nicht auf Jesus berufen. Sie ist eine Sanktionierung von Macht und Gewalt. „Ich habe noch nie begriffen, warum Menschen aufeinander schießen sollen, die sich im Leben noch nie begegnet sind, nur weil Politik versagt. Hier hilft dann die Militärseelsorge jungen Menschen in Seelennot. Der Seelenfrieden rechtfertigt dann das Morden. Wie verkommen ist doch die christliche Moral“ (aus einer Rede zum Antikriegstag am 01. September 1999 von dem DGB – Kreisvorsitzenden Günter Volz, Kreis Schwäbisch Hall und Hohenlohenkreis).

Seelsorge an Soldaten kann deshalb nur bedeuten, Soldaten aufzufordern
aus dem militärischen Denken auszusteigen und den Dienst an der Waffe
zu verweigern. Soldaten, die aus Gewissensgründen die Bundeswehr verlassen wollen, müssen sowohl in seelsorgerlicher als auch in materieller Hinsicht begleitet werden.

Die Kosten der Militärseelsorge trägt fast ausschließlich der Staat.

III. Folgerungen

Die vorgenannten Ausführungen zeigen deutlich, dass die viel gepriesene „Unabhängigkeit der Militärgeistlichen in ihrer seelsorgerlichen Tätigkeit“ falsch ist.

Wenn Seelsorge unter den Soldaten Sinn haben soll, müssen Strukturen geschaffen werden, die völlig unabhängig sind von staatlichen Vorgaben. Es ist eine glatte Lüge, wenn behauptet wird: „Die Militärgeistlichen stehen in einem geistlichen Auftrag, in dessen Erfüllung sie von staatlichen Weisungen unabhängig sind“ (in: Militärseelsorge IV: die Rahmenvereinbarung über die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr in den östlichen Bundesländern-Überprüfung und zukünftige Gestaltung, Dokumente und Materialien, September 2001, Artikel 16, S. 15 – Militärseelsorgevertrag).

Erforderlich ist die Kündigung des Militärseelsorgevertrages. Die Kirche muss Seelsorge in Räumen der Gemeinden anbieten. Deshalb: Abschaffung der Militärseelsorge und Einrichtung einer Soldatenseelsorge, die frei ist von staatlichen Vorgaben!
(Nähere Informationen zum Thema: „Abschaffung der Militärseelsorge“ sind unter www.militaerseelsorge-abschaffen.de zu finden).

IV. Schlussbemerkungen

Die unheilvolle Allianz zwischen Kirche und Staat wird – wie wir gesehen haben – bei der Militärseelsorge besonders deutlich. Die Staatshörigkeit des Protestantismus im 3. Reich und die Erfahrungen aus der Bekennenden Kirche, provoziert die Frage, warum wir aus der Geschichte so wenig gelernt haben. Bischof Otto Dibelius hat nach 1945 den Grund geliefert: „Wir müssen wieder da anknüpfen, wo wir 1933 aufgehört haben“. Die konservativen Kräfte im Nachkriegsprotestantismus mit ihren reaktionären Ansichten setzten sich durch. Im August 1945 wurde in Treysa die Evangelische Kirche in Deutschland neu gegründet. Das Erbe der Bekennenden Kirche spielte so gut wie keine Rolle. Das Verhalten der Evangelischen Kirche bei der Wiederbewaffnung und der Einführung der Bundeswehr zeugt von Anpassung.

Und ich frage mit Dietrich Bonhoeffer „Wann wird die Zeit kommen, da die Christenheit das rechte Wort zur rechten Stunde sagt?“.

 

Leonhard Ragaz (1868 – 1945) – Pazifist, Sozialist, Theologe. Von Pfarrer i. R. Hans Dieter Zepf

07/2015

Eine Lebensskize

Der Theologe, religiöser Sozialist, Pazifist und Pädagoge Leonhard Ragaz wurde am 28. Juli 1868 in Tamins, einem kleinen Bergdorf im Kanton Graubünden (Schweiz), als fünftes von neun Kindern geboren. Wie alle Bewohner des Dorfes gehörte auch die Familie Ragaz zum Bauernstand (es gab keine Industrie). Der Vater hatte eine Reihe politische Ämter inne. Die Dorfgemeinschaft war demokratisch strukturiert. Eine Besonderheit stellten die Eigentumsverhältnisse dar. (1) Ungefähr 80% des Bodens war Gemeinbesitz; viele Aufgaben wurden gemeinsam bewältigt. Dieser „Dorfkommunismus“ hat Ragaz geprägt. Hier ist der Hintergrund seiner späteren Sozialismusvorstellung. In seiner Autobiographie schreibt er: „Jedenfalls ist mein Glaube an eine Gemeinschaftsordnung der Wirtschaft, überhaupt der menschlichen Dinge, und in diesem Sinne an den Kommunismus, stark auch in diesem Erleben meiner Kindheit und Jugend begründet.“ (2)

Ragaz studierte Theologie (3) in Basel, Jena, Berlin und wieder in Basel. Nach Beendigung seines Studiums wird er 1890 Pfarrer in drei Bergdörfern (Graubünden). Hier im ersten Pfarramt erschloss sich ihm die Bibel in ganz anderer Weise als in der liberalen Theologie, durch die er geprägt war. Sie wurde ihm lebendig. (4) Aus gesundheitlichen Gründen wechselte Ragaz nach drei Jahren an die Kantonsschule in Chur, wo er als Lehrer für Religion, Deutsch und Italienisch tätig ist. 1895 wird er Stadtpfarrer von Chur. In dieser Zeit engagierte er sich vielfältig in sozialer Hinsicht. Er wurde städtischer Schulrat, Bündner Kirchenrat und Präsident des Armenvereines, außerdem kämpfte er gegen den Alkoholismus. Er wurde selbst abstinent und gründete einen Abstinentenverein. Zur Bekämpfung des Alkohols gründete er das „Rhätische Volkhaus“, das der Wirtshausreform und der Volksbildung dienen sollte.

Der Kapitalismus widerspricht der Ethik Jesu

Im Jahre 1902 wird Ragaz Pfarrer am Basler Münster. 1903 kam es zu einer Wende in seinem Leben, ausgelöst durch ein persönliches Erlebnis. Seinem Tagebuch vertraut er an: „Nun ist mir ein neues soziales Christentum aufgegangen. Ich datiere vom 2. Februar 1903 (morgens zwischen sieben und acht Uhr) eine neue Periode meines Lebens.“ (5) Und am 21.2.1903 lesen wir in seinem Tagebuch: „Die Heilsarmee, die Methodisten, die Sektierer und die rabiaten Sozialisten – das sind die Menschen, die nach der Zukunft weisen. Aus diesen Ebionim wird das Reich Gottes hervorgehen.“ (6)

Am 5. April 1903 kam es in Basel zu einem Maurerstreik. Am gleichen Tag, als der Streik abgebrochen wurde, predigte Ragaz im Münster über das Gebot der
Gottes- und Nächstenliebe (Matthäus 22,34-40). Es ist seine erste religiös-sozialistische Äußerung. Er führte in seiner Predigt unter anderem aus: „Die soziale Bewegung ist eben doch weitaus das Wichtigste, was sich in unseren Tagen zuträgt. Sie wird immer mehr unserem öffentlichen Leben den Stempel aufdrücken. … Wenn das offizielle Christentum kalt und verständnislos dem Wesen einer neuen Welt zuschauen wollte, die doch aus dem Herzen des Evangeliums hervorgegangen ist, dann wäre das Salz der Erde faul geworden. … Das Eine scheint mir klar zu sein: der Christ hat sich immer auf die Seite des Schwachen zu stellen. … Wir müssen verstehen, um was es sich in der sozialen Bewegung im tiefsten Grunde handelt. … Es handelt sich … um nichts mehr und nichts weniger als um einen Riesenschritt vorwärts in der Menschwerdung des Menschen. … Wie heißt die Macht, die bisher der Erreichung dieses Zieles am gewaltigsten und feindlichsten im Wege gestanden ist? Es ist das Geld, der Besitz. … So ist die soziale Bewegung im tiefsten Grunde eine Verwirklichung der Gedanken, die im Mittelpunkt des Evangeliums stehen: der Gotteskindschaft und der Bruderschaft der Menschen. …Ihr könnet darüber streiten wie weit das Ziel auf Erden erreichbar sei, ihr könnet aber nicht leugnen, dass es zum Wesen des Christentums gehört, für seine Erreichung zu arbeiten.“ (7) Diese Predigtzitate belegen die Solidarität Ragaz’ mit der Arbeiterschaft und sein starkes Engagement für soziale Probleme und Fragestellungen.

Im Jahre 1906 kam es zu einer Zusammenfassung seiner bisherigen Gedanken, in der aus einem Vortrag hervorgegangenen Schrift „Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart“. Hier analysierte Ragaz die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation. Der Kapitalismus, der auf Profit ausgerichtet ist, widerspricht der Ethik Jesu. Der neuen Wirtschaftsordnung, die zur Ethik Jesu passt, gibt er den Namen „Sozialismus“, wobei er bei der Verwendung dieses Begriffes Bedenken formuliert: „Ich könnte sie so nennen (gemeint ist die neue Wirtschaftsordnung – Anmerkung des Vf.) und tue es gelegentlich auch, da ich überzeugt bin, dass der Sozialismus in seinen wesentlichen Zügen die Richtung angibt, die aus dem Kapitalismus heraus auf die nächste Stufe der geschichtlichen Entwicklung führen soll. Aber ich möchte nicht den Schein erregen, als ob nun doch wieder die Sache Jesu mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung solidarisch erklärt werden solle, nur diesmal mit der sozialistischen. Es muss in abstracto durchaus die Möglichkeit zugegeben werden, dass, wenn der Sozialismus seinen Beitrag an die Aufwärtsführung der Menschheit geleistet hat, wieder neue und bessere Regelungen dieses Teiles der menschlichen Angelegenheiten kommen können.“ (8)

Im Jahre 1906 wurde die Zeitschrift „Neue Wege – Blätter für religiöse Arbeit“
gegründet. Diese Zeitschrift war für Ragaz das Organ, in dem er bis zu seinem Tode regelmäßig seine theologischen und politischen Überzeugungen veröffentlichte.

Von 1908 – 1921 war Ragaz Professor für systematische und praktische Theologie in Zürich. Als 1912 in Zürich ein Generalstreik ausbrach, stand Ragaz wieder auf der Seite der Arbeiterschaft. Nun kam es zum Bruch mit der Bourgeoisie. „Mein damaliges Auftreten gegen das Bürgertum und sein brutales Dreinfahren mit dem Militär erregte ungeheures Aufsehen, bis weit ins Ausland hinaus. Es zerstörte für immer meine immer noch große Beliebtheit bei einem Teil des Bürgertums und machte mich zum gehasstesten Mann der Schweiz. Nun, da ich hier nichts mehr zu tun hatte, trat ich (1913) in die Sozialdemokratie ein.“ (9) Als der erste Weltkrieg anfing, begann Ragaz’ Entwicklung zum Pazifisten. In der Maiausgabe der „Neuen Wege“ schrieb er 1939: „Ich habe in den furchtbaren Tagen des August 1914 ein Gelübde getan, diesem Kampf gegen den Krieg mein künftiges Leben zu widmen, und gedenke es zu halten.“ (10)

Sein Engagement für den Frieden begründete er biblisch. (11) Ragaz war kein doktrinärer Pazifist. Er konnte unter bestimmten Bedingungen für militärischen Widerstand eintreten. (12)

Die Theologie steht dem Reich Gottes im Wege

Die große Wende seines Lebens war der Rücktritt von seiner Professur im Jahre 1921. (13) Seine kritische Haltung zur Theologie, aber vor allem zur Kirche, gaben hierzu den Ausschlag. Die Theologie erschien „mir immer mehr als eine Sache, …welche dem Reich Gottes eher im Wege stehe. Abermals wichtiger aber als die Stellung zur Theologie wurde die zur Kirche. Deren Gegensatz zum Reiche Gottes wurde für mich viel akuter als der zur Theologie. … Zwar hätte ich mit meinen Überzeugungen als Pfarrer mit gutem Gewissen in der Kirche bleiben können, aber es wurde mir immer schwerer, junge, völlig unreife Menschen in den Dienst der Kirche einzuführen. Denn ich stand vor einem Entweder-Oder: Entweder enthüllte ich ihnen meine innerste Stellung zur Kirche und versuchte ihnen das Pfarramt in diesem Lichte zu zeigen, – was ich tatsächlich so hielt! – dann lud ich ihnen eine Last auf, die sie in keiner Beziehung tragen konnten, oder ich verhüllte meine Stellung, … und dann machte ich mich der Heuchelei schuldig. An dieser Stelle musste einmal ein Bruch geschehen.“ (14)

Aber auch die Stellung zur Kirche war nicht die innerste Unruhe für Ragaz,
sondern die Nachfolge Christi. „Und doch war auch meine Stellung zur Kirche
nicht meine innerste Unruhe. Diese war, um es sofort zu sagen: die Nachfolge Christi. Sie gesellte sich konsequenterweise als Forderung immer stärker zu der
Erkenntnis des Reiches Gottes. Und zwar sah ich den Weg der Nachfolge nicht auf der theologisch – kirchlichen Linie, sondern er führte mich, so wie es ursprünglich war und sein soll, abwärts, nach unten zu den Armen im Vollsinn des Wortes. Besonders zum Proletariate. … Es war der Weg des Franziskus, der mich rief, der Weg der Armut.“ (15)

Ragaz hat in seiner geistigen Entwicklung einen langen Weg zurückgelegt. Die Spannweite seiner Entwicklung beschreibt er so: „Was im übrigen meine religiöse Entwicklung betrifft, so könnte ich sie vielleicht am besten durch das Stichwort bezeichnen: vom Reiche Gottes zu Christus; so dass mein ganzer Weg wäre: vom Pantheismus zum persönlichen Gott; von Gott zum Reiche Gottes und vom Reiche Gottes zu Christus, seiner ‚Fleischwerdung’.“ (16)

„Reich Gottes“, „Nachfolge“ und „Neue Gemeinde“ in Ragaz` Denken

Im folgenden beleuchte ich die Begriffe „Reich Gottes“, „Nachfolge“ und
„Neue Gemeinde“ im theologischen Denken von Ragaz.

Der Begriff „Reich Gottes“ findet sich schon früh im theologischen Denken von Ragaz. Ich beschreibe sein Verständnis vom Reich Gottes in seiner endgültigen Ausprägung. Es würde zu weit führen, den gesamten Entwicklungsprozess hier darzustellen. (17)

Die Botschaft vom Reiche Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel, sie ist geradezu der entscheidende Schlüssel zur Öffnung der Bibel. „Und das ist der Schlüssel, der nun unserem Geschlechte gegeben wird: Wir erkennen wieder, ohne jene Botschaft der Freiheit für den Einzelnen zu übersehen, als den großen und … einzigen Sinn und Inhalt der Bibel die Botschaft von dem lebendigen Gotte und seinem Reiche der Gerechtigkeit für die Welt, diese Botschaft, welche schon den Sinn der Schöpfung bedeutet und sich dann in Israel, über Mose, die Richter, die Könige, die Propheten hinweg entfaltet, um sich in Christus zu vollenden und durch die Apostel die große Weltbotschaft zu werden.“ (18)

Das Reich Gottes steht im Gegensatz zur Religion; denn im Reiche Gottes kommt Gott zuerst, während in der Religion der Mensch im Mittelpunkt steht.
„Für das landläufige Christentum gilt, dass der Einzelne und sein Heil im Mittelpunkt steht. Das ist eben die Religion im Gegensatz zum Reiche Gottes. …
Im Reiche Gottes aber kommt Gott zuerst und mit ihm sein Reich. Die zentrale Losung heißt hier: ‚Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit’.“ (19) Natürlich ist das Reich Gottes auch das Heil für das Individuum, aber „es bedeutet nicht bloß das Heil für den Einzelnen, sondern auch das Heil für die Welt; es bedeutet nicht nur die Erlösung des Individuums, sondern auch die Erlösung der Gesellschaft.“ (20)

Das Reich Gottes ist nicht machbar, es kommt von Gott, wir können uns ihm nur zur Verfügung stellen. „Das Reich Gottes ist … primär durchaus Gottes Sache. Es stammt von Gott. Es ist Herrschaft Gottes, dessen Wille allein herrschen soll, der auf Erden gelten soll, wie er im Himmel gilt. Es muss kommen und kann nicht gemacht werden. Es ist Gabe, nicht Verdienst. Aber dieser wesentlichen Bestimmung tritt polar die andere entgegen: Das Reich Gottes ist ebenso, wie es die Sache Gottes ist, die Sache des Menschen. Die Gabe ist ebenso Aufgabe, das Geschenk ebenso Verdienst – man darf sich so zugespitzt ausdrücken. Schon das Kommen des Reiches ist auch Sache des Menschen. Es ist gerüstet, es wird angeboten, aber es kommt nicht, wenn nicht die Menschen da sind, die darauf warten, die darum bitten, die für sein Kommen arbeiten, kämpfen, leiden.“ (21)

Worauf es vor Gott ankommt, was sein Wille ist, zeigen die Gleichnisse Jesu, die nach Ragaz vom Wesen und Kommen des Reiches Gottes sprechen. Ihren revolutionären Sinn hat die Auslegungstradition verkannt und sie zu seelsorgerlichen Ratschlägen gemacht, aber „damit hat man ihren wahren Charakter völlig entstellt, ja fast aufgehoben. In Wirklichkeit ist ihr Sinn in erster Linie sozial, d.h.: auf die Gemeinschaft gerichtet. … Das individuelle Moment … fehlt gewiss nicht, aber es ist im sozialen eingeschlossen. … Es gibt nichts Revolutionäreres als die Gleichnisse Jesu. Sie bedeuten ein Umkehrung des Denkens und Seins der Welt wie, nach den Reden der Propheten und neben der Bergpredigt Jesu selbst, nichts sonst. Vor ihnen erscheint das ‚Kommunistische Manifest’ … fast als harmlos.“ (22)

Das Reich Gottes ist auf die Erde gerichtet und nicht auf ein Jenseits. Wenn das Reich Gottes da sein wird, wird auch der Tod besiegt sein. „Das Neue Testament, wie die ganze Bibel, weiß, etwas drastisch gesagt, nichts von einem Jenseits. … Die Bibel aber, und besonders das Neue Testament, weiß bloß von Auferstehung, oder mit anderen Worten, das Neue Testament weiß bloß, wie schon auf seine Art das Alte Testament von einem Kommen des Reiches auf die Erde zur Aufrichtung der Herrschaft Gottes, worin freilich auch der Sieg über den Tod enthalten ist.“ (23)

Es gab und gibt immer wieder Durchbrüche des Reiches Gottes in der Geschichte. Ragaz verweist auf Mose, die Propheten, Christus, Franziskus, die Reformation und ebenso auf die Gegenwart. (24)

Nachfolge und Reich Gottes gehören zusammen; denn „es gibt keine Zugehörigkeit zum Reiche ohne die Nachfolge, und es gibt keine Nachfolge ohne den Glauben an das Reich.“ (25) Nach den obigen Ausführungen über das Reich Gottes, ist dieser Zusammenhang zwischen Reich Gottes und die Nachfolge die logische Konsequenz.

Ragaz’ Verständnis von der Nachfolge ist radikal. Er verbindet sie mit der Selbstverleugnung (Matthäus 16,24). Nachfolge und die Verfolgung privater Interessen schließen sich gegenseitig aus. Die Selbstverleugnung, wie sie Jesus versteht ist „nicht diese oder jene große Selbstüberwindung, diese oder jene Entsagung, sondern es ist die völlige Umkehrung der natürlichen Lebensrichtung, die gänzliche Hingabe des Eigenlebens an Gottes Sache. … Da ist nicht mehr das private Leben hier und Gott dort, sondern das ganze Leben ist von Gott mit Beschlag belegt und hört auf ein privates zu sein.“ (26)

In der Nachfolge kommen in besonderer Weise die Dinge zum Tragen, die im Gegensatz zur Welt stehen. „Es prägen sich aber in der Nachfolge diejenigen Züge besonders aus, welche einen Gegensatz zur Welt bedeuten. Dazu gehört die Liebe, welche im Symbol der Fußwaschung als Dienst am Bruder zum herrlichsten Ausdruck kommt. Sie ist ein gewaltiger Gegensatz zum Stolz und Egoismus der Welt. … Dazu gehört auch der Kampf gegen das Reich der Gewalt, der Weg des Friedens für sich selbst und des Kampfes um den Frieden der Welt. Dazu gesellt sich vor allem auch der Gegensatz zu dem Gott der Welt, dem Mammon. Die Armut in irgend einer Form gehört zur Nachfolge.“ (27)

Die Trägerin des Reiches Gottes ist die Gemeinde. „Die Gemeinde tut als Gemeinschaft das, was in der Nachfolge der einzelne tut: sie übernimmt die Sache Gottes, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als Gabe und Aufgabe und macht sie zu ihrer Sache.“ (28)

Im Gegensatz zur Gemeinde – wie sie Ragaz versteht – ist die Kirche die Trägerin der Religion. Sie vertritt nicht die Sache des Reiches Gottes. (29)

Ragaz’ Kritik richtet sich sowohl gegen die römische als auch gegen die
protestantische Kirche. Zwar sei diese ihrem ursprünglichen Wesen nach
Gemeinde, aber „auch die protestantischen Kirchen sind Trägerinnen der
Religion, nicht des Reiches Gottes geworden. Sie pflegen die Religion.
Sie dienen dem individuellen und unter Umständen, etwa am Bettag … dem kollektiven, ’religiösen Bedürfnis’. Aber sie dienen nicht dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit – dem Reiche Christi. Oder ist es etwas anderes? Hand aufs Herz: Denkt die große Masse unserer Kirchenglieder und getauften Christen etwa im Ernste daran, das Joch des Gottesreiches auf sich zu nehmen, das ‚Gesetz Christi’ zu erfüllen?“ (30)

Ragaz unterscheidet in seinem Gemeindeverständnis die Gemeinde als engerer und als weiterer Kreis. Die Gemeinde im engen Sinn „bedeutet den sichtbaren und in einem tieferen Sinne des Wortes organisierten Zusammenschluss der ‚Gerufenen’, derer, die das Reich und seine Gerechtigkeit als ihre Sache glauben und wollen.“ (31)

Das Vorbild dieser Gemeinde ist die „apostolische Gemeinde“: „Sie muss nach deren Vorbild (nicht Modell) eine wirkliche Gottesgemeinschaft und Christusgemeinschaft, Liebesgemeinschaft, Lebensgemeinschaft werden, muss
laienhaft, demokratisch, staatsfrei werden, muss aus Institution Charisma, Geistesgemeinschaft werden.“ (32) Die neue Gemeinde bleibt nicht auf sich selbst beschränkt, sondern mit ihren Gaben und Aufgaben ist sie für die Welt da. Damit sind wir beim Gemeindeverständnis im weiteren Sinne. Ragaz meint damit alle Menschen, denen es um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit geht. Er bezeichnet sie als „unsichtbare Gemeinde“. Sie geht über alle Religionen und Konfessionen hinaus. Die Gemeinde im engeren und weiteren Sinne ist die „wahre Oekumene“. (33) Gemeinde im Sinne von Ragaz ist genossenschaftliche Gemeinde. (34)

„Vergessen“, weil unbequem

Leonhard Ragaz, der am 6. Dezember 1945 starb, hat es verstanden Theologie und Praxis miteinander zu verbinden, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben dürften.

Weder in der Theologie der Universitäten noch in den Landeskirchen spielt Ragaz eine Rolle. Dass er in der Theologie fast der Vergessenheit anheim fiel, dürfte wesentlich mit seiner Verabschiedung aus der akademischen Welt im Jahre 1921 zusammenhängen. Seine Reich-Gottes-Vorstellung, mit ihren politischen Implikationen spielt so gut wie keine Rolle im Bewusstsein von Kirchen und Gemeinden.

Ragaz ist ein unbequemer Mahner. Wir sollten sein Kritik nicht überhören.
Anhang
1. Anmerkungen
(1) vgl. hierzu MW I, S. 43-51
(2) MW I, S. 50
(3) Ragaz studierte eher gegen seine Neigung Theologie. „Weil meine Begabung nach dieser Richtung wies, wurde ich trotz unserer eher bedrängten ökonomischen Lage zum Studium bestimmt, und zwar zum theologischen … eher gegen meine Neigung, denn ich war früh schon zwar sehr ‚religiös’ gesinnt, aber nicht ‚kirchlich’ oder gar ‚pfarrerlich’; ich liebte Gottes freie Luft zu sehr!“ (Ragaz: „Meine geistige Entwicklung“ in Biographie, Bd. I, S. 240 f.)
(4) “Die Bibel war mir durch das theologische Studium beinahe zerstört worden. Aber nun zog es mich wieder zu ihr hin. Ich beschloss, sie einmal ganz zu lesen, und zwar nicht nur ohne gelehrten Kommentar, sondern auch ohne jede theologische Brille. So stand ich denn im tiefen Winter um fünf Uhr morgens auf und setzte mich bis zum Frühstück über die Bibel. … Und sie erschloss sich mir. Nicht ganz, gewiss nicht, aber zum ersten Mal. Sie wurde lebendig.“ (MW I, S. 161)
(5) Tagebuch IX, 2.2.1903, zitiert in Biographie, Bd. I, S. 82
(6) Tagebuch IX, 21.2.1903, zitiert in Biographie; Bd. I, S. 83
(7) L. Ragaz: Ein Wort über Christentum und soziale Bewegung, in: Schweizerisches Protestantenblatt Nr. 17, 25.4.1903, abgedruckt in: Leonhard Ragaz: Religiöser Sozialist, Pazifist, Theologe, Pädagoge, S. 31-35
(8) Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart, Basel 1906, S. 33, zitiert in Biographie, Bd. I, S. 115
(9) Ragaz: „Meine geistige Entwicklung“ in Biographie, Bd. I, S. 244f.
(10) Neue Wege, Mai 1939, S. 223
(11) vgl. Bibel IV, S. 165 ff.
(12) vgl. Neue Wege, Mai 1939, S. 224 ff.
(13) In einem Schreiben an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich legte Ragaz ausführlich seine Gründe für den Rücktritt von seiner Professur dar, vgl. Neue Wege Juli/August 1921, S. 284-293
(14) MW II, S. 111f.
(15) MW II, S. 114 f.
(16) Ragaz: “Meine geistige Entwicklung” in Biographie, Bd. I, S. 244
(17) vgl. hierzu: Biographie, Bd. I, Kapitel 2 und 3; Jäger Hans Ulrich: Die sozialethische Funktion des Reichgottesglaubens bei Leonhard Ragaz, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 12. Jg., 1968, S. 221 ff.; Rich, Artur: Leonhard Ragaz. Eine Skizze von seinem Denken und Wirken, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 12. Jg., 1968, S. 196 ff.
(18) Bibel I, S. 21
(19) Botschaft, S. 29
(20) Botschaft, S. 29
(21) Bibel V, S. 139
(22) Gleichnisse, S. 7f.
(23) Gleichnisse, S. 25
(24) Botschaft, S. 309
(25) Neue Wege, April 1927, S. 168, vgl. hierzu auch Neue Wege, Oktober 1944, S. 474 f.
(26) Neue Wege, Mai 1927, S. 205 f.
(27) Bibel V, S. 146
(28) Neue Wege, Oktober 1944, S. 477
(29) vgl. Neue Wege, Oktober 1944, S. 476 f.
(30) ebenda, S. 478 f.
(31) ebenda, S. 480
(32) ebenda, S. 481; vgl. hierzu auch Botschaft S. 205 f.; Bibel VI, S. 13-39 und 128
(33) Neue Wege, Oktober 1944, S. 481; vgl. hierzu auch Botschaft, S. 249
(34) vgl. Die Geschichte der Sache Christi, S. 43
2. Literaturangaben

a ) Schriften von Leonhard Ragaz
Die Bergpredigt Jesu (1945), GTB 451, 3. Aufl., Gütersloh 1983.

Die Bibel – eine Deutung, sieben Bände, Zürich 1947-1950.
Als Neuauflage in vier Bänden hrsgb. in Zusammenarbeit mit dem Leonhard-Ragaz-Institut in Darmstadt durch E.L. Ehrlich, M. Mattmüller und J.B. Metz, Fribourg, Brig 1990. In dieser Neuausgabe sind Bandzahl und Paginierung der Erstausgabe beigefügt. (= Bibel; Band- und Seitenzahl wurden nach der Erstausgabe zitiert)

Die Geschichte der Sache Christi. Ein Versuch, Bern 1945 (= Geschichte der Sache Christi)

Mein Weg, zwei Bände, Autobiographie von Leonhard Ragaz, hrsgb. von Cl. Ragaz-Nadig , Zürich 1952. (=MW I, MW II)

Dein Reich komme. Predigten, zwei Bände, 3. Auflage, Erlenbach-Zürich 1922

Die Botschaft vom Reiche Gottes. Ein Katechismus für Erwachsene, Bern 1942. (=Botschaft)

Die Gleichnisse Jesu. GTB 1428, 4. Auflage, Gütersloh 1990 (=Gleichnisse)

Weltreich, Religion und Gottesherrschaft, zwei Bände, Erlenbach-Zürich 1922.
b) weitere Literatur
Neue Wege, Blätter für religiöse Arbeit, 1906 ff. (=Neue Wege)

Leonhard Ragaz – Religiöser Sozialist, Pazifist, Theologe und Pädagoge, hrsgb. vom Leonhard-Ragaz-Institut Darmstadt, Darmstadt 1986

Mattmüller, Markus: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Band I: Die Entwicklung der Persönlichkeit und des Werkes bis ins Jahr 1913, Zürich 1957. Band II: Die Zeit des ersten Weltkrieges und der Revolution, Zürich 1968 (= Biographie)

Neuorientierung der Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche Baden?

03/2015, Hans Dieter Zepf, Pfarrer i. R.

Der Arbeitskreis Frieden im Evangelischen Kirchenbezirk Breisgau – Hochschwarzwald beantragte im Frühjahr 2011 in einer Eingabe an die Evangelische Bezirkssynode Breisgau – Hochschwarzwald eine Neuorientierung der evangelischen Friedensethik. Er hatte in seinem Schreiben vom 17.März 2011 an die Bezirkssynode mit der Bitte um Weiterleitung an die die Landessynode ausgehend von der Jahreslosung 2011 „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Römer 12,21) diesen Impuls zum Anlass genommen die „friedensethische Position der Evangelischen Kirche in Deutschland – „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen von 2007 in wesentlichen Teilen in Frage zu stellen“.

Unter der Überschrift „Anregungen für eine Neuorientierung evangelischer Friedensethik“ werden nach einleitenden Bemerkungen 10 Thesen formuliert. Die einleitenden Bemerkungen sowie die 10 Thesen sind im vollen Wortlaut wiedergegeben:

„Die bisherigen friedensethischen Äußerungen der EKD bestätigen im Grunde – bei kleineren, vorsichtigen Veränderungsvorschlägen – die vorherrschende
sicherheitspolitische Auffassung, dass man auf eine militärische Option (das heißt im Zweifelsfalle, zur Kriegsführung bereit zu sein) zur Friedenssicherung nicht verzichten könne und eine Beteiligung an einem Krieg, eine für Christen mögliche Handlungsoption sei. (54, 60, 61, 66 u.a.)

Dabei wird offenbar übersehen, dass Jesus in dem, bei jeder Taufe in Erinnerung gebrachten,„Missionsbefehl“ (Mt 28,20) auffordert, alles zu halten, was er befohlen hat. Eine der zentralsten und von ihm selbst praktizierten Aufforderungen sind die zu Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38 ff) bzw. die alle biblischen Gebote zusammenfassende Goldene Regel (Mt 7,12). Nach Jesus ist Gewaltverzicht und Feindesliebe Ausdruck unserer Gotteskindschaft (Mt 5,44-48) als auch ein Gebot der Klugheit (Mt 7,24ff.).

Eine Reihe von evangelischen Christen haben ihre Nachfolge an diesem Wesenskern christlichen Glaubens orientiert und werden deshalb nicht ganz zu Unrecht auch als „evangelische Heilige“ verehrt und in der kirchlichen Jugendarbeit und im Religionsunterricht zusammen mit weiteren, sich auf Jesus berufenden Menschen unseren Kindern und Jugendlichen als Vorbilder nahe gebracht. Beispielhaft möchten wir Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer, den späten Carl Friedrich von Weizsäcker, Martin-Luther King, Desmond Tutu und die vielen Christen in den Friedensgruppen der ehemaligen DDR wie beispielsweise Christian Führer nennen, die konsequent und glaubwürdig die von Jesus Christus gelehrte Gewaltfreiheit im 20. Jahrhundert praktiziert und vertreten haben. Bedauerlichweise scheinen diese Glaubenszeugen, wenn es wie in der EKD-Denkschrift um eine friedensethische Positionsbestimmung geht, dann plötzlich nicht mehr zu existieren oder für die reale Welt nicht mehr beispielhaft zu sein.
Um Anhaltspunkte für die anstehenden Fragestellungen zu geben, seien nachfolgend einige Thesen formuliert:

1) Die im biblischen Schöpfungsglauben bezeugte Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet seine unantastbare Würde und verwehrt damit die bewusste Inkaufnahme seiner Verletzung oder gar Tötung, wie sie geplant und vorbereitet vor allem im Krieg geschieht. Als Kinder des himmlischen Vaters ist es uns
nicht möglich, Konflikte mit Kriegsandrohung verhindern oder mit Krieg lösen zu wollen, ohne die Substanz des Evangeliums aufzugeben.

2) Nach über 1600 Jahren „konstantinischem Zeitalter“, in dem staatliche Machtpolitik mehr oder weniger die Bibelauslegung bestimmt hat – mit im wahrsten Wortsinne verheerenden Folgen, ist es an der Zeit, sich auf die Ursprünge unseres Glaubens an den Gott des Friedens zu besinnen und daraus die notwendigen Veränderungen abzuleiten. Die Gewaltfreiheit Jesu wieder ins Bewusstsein zu rücken, ist dringlicher denn je und sowohl eine stetige innerkirchliche Bildungsaufgabe wie auch ein missionarischer Auftrag in dieser Welt.

3) Die historische Verantwortung, die wir heutige Christen in Deutschland nach zwei von deutschem Boden ausgegangenen schrecklichen Weltkriegen haben, lehrt uns, Krieg unter keinen Bedingungen als eine mögliche Handlungsoption zu akzeptieren. Wenn Krieg „Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen“ ist (Ökumenische Vollversammlung in Amsterdam, 1948)7, dann ist es konsequent, für die vollständige militärische Abrüstung unseres Landes, das heißt, die ersatzlose Abschaffung der Bundeswehr einzutreten. Deutschland sollte aus seiner historischen Verantwortung heraus den Anfang der Entmilitarisierung machen.

4) Die Gewaltfreiheit als Ausdruck der christlichen Nächstenliebe ist eines der zentralen Wesensmerkmale des christlichen Glaubens, symbolisiert durch das Kreuz und die Auferweckung Christi. Das Vorbild des gnädigen und barmherzigen Gottes, der sich uns gerade im Leben Jesu in einzigartiger Weise geoffenbart
hat, ruft uns alle zu einem gewaltfreien Verhalten im persönlichen wie im politischen Bereich auf. Dabei geht es nicht um ein passives Hinnehmen des Bösen, sondern um ein Aktivwerden mit dem Ziel, das Böse durch Gutestun zu überwinden (Jahreslosung 2011). Hierfür gilt es, die vielen Erfahrungen mit
Gewaltfreier Aktion in der Vergangenheit und Gegenwart, so auch den in der EKD-Denkschrift erwähnten Zivile Friedensdienst (182), zum Vorbild zu nehmen und in kreativer Weise für neue Konfliktsituationen (z.B. als Soziale Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland) weiterzuentwickeln. Dazu sollten auf
EKD- oder landeskirchlicher Ebene Forschungsaufträge erteilt bzw. Arbeitsgruppen eingerichtet werden. Wir Christen würden dadurch unserem Auftrag nachkommen, Salz und Licht der Erde zu sein.

5) Dass auch ein entmilitarisiertes Land mit Risiken zu rechnen hat, ist uns bewusst. Diese sind jedoch im Vergleich mit den in Geschichte und Gegenwart bekannten Folgen militärischer Rüstung undKonfliktaustragung eher in Kauf zu nehmen. Hinzu kommen die Vorteile einer Entmilitarisierung: Sicherheitsgewinn durch Angstabbau bei möglichen Gegnern, Glaubwürdigkeits- und Ansehensgewinn, Kosten- und Ressourcenersparnis und vermehrtes Engagement für Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung sowie Vorbild- und Modellfunktion für andere Länder. (Ein Beispiel hierfür könnte die mit der Gründung der Bundesrepublik beschlossene beispiellose Abschaffung der Todesstrafe sein, die heute zum europäischen Standard geworden ist.)

6) Das Vertrauen auf militärische Gewalt und entsprechende Bündnispolitik wurden schon in der Geschichte Israels als ein Widerspruch zum Vertrauen auf den HERRN kritisiert (sehr eindrücklich in Esra 8,22 ff). Auch Jesus warnt vor der Unmöglichkeit, zwei Herren dienen zu können, in diesem Fall Gott oder Mars. Insbesondere sehen wir uns durch die Seligpreisungen Jesu für die Sanftmütigen und die Friedensstifter (Mt 5,5.9) auch geistlich ermutigt, diesen Weg einzuschlagen.

7) Die wesentliche Voraussetzung zu einem dauerhaften Frieden ist nach biblischem Zeugnis die Gerechtigkeit. Wenn Menschen im sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenleben fair miteinander umgehen, werden wesentliche Voraussetzungen zum Krieg abgebaut. Die Goldene Regel Jesu („Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das sollt auch ihr ihnen tun.“ Mt 7,12) kann in allen Lebensbereichen zu einem fairen Verhalten sensibilisieren und den Weg zu mehr Gerechtigkeit weisen. Wie in der EKD-Denkschrift zutreffend ausgeführt, erfordert ein Mehr an weltweiter Fairness, dass in den gegenwärtig reichen Ländern ressourcensparender gelebt wird. Persönliche und institutionelle CO2 –Bilanzen können ein hilfreicher Indikator für das individuelle und kollektive Verhalten sein und Veränderungen einleiten, wie auch die Sensibilisierung und Werbung für den Kauf von Fair-Trade-Produkten.

8) Die drei aus der prophetischen Tradition des Ersten Testamentes stammenden Kriterien zur einer friedlicheren Welt (Jes 2,1 ff/Mi 4,1 ff.) geben auch für die Gegenwart wichtige Impulse:

> Schaffung und Erhaltung gerechter Strukturen in und zwischen den Völkern sowie Anerkennung übergeordneter Schiedsinstanzen für Konfliktregelungen
(zwischen den Staaten- Zusatz zum besseren Verständnis v. H.D.Z.)

> Konversion der Kriege ermöglichenden und auch hervorrufenden Rüstungsproduktionen in zivile, lebensdienliche Produktionen

> Weigerung der BürgerInnen, sich für Militärdienste zur Verfügung zu stellen

9) Eine dem gedeihlichen Zusammenleben der Menschen verpflichtete rechtsstaatliche Polizei- und Justiz (nur dies lässt sich nach unserer Auffassung aus Rö 13 ableiten), die Gewalt ausschließlich nach den zivilen Notwehr- und Nothilferegeln anwenden darf, ist mit den christlichen Grundsätzen vereinbar. Diese kann zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Terror, internationalem Menschenhandel usw. unter denselben Bedingungen auch auf übergeordneten Ebenen wie EU oder UNO eingerichtet werden.

10) Das Nachdenken über eine christliche Stellungsnahme zur Friedensethik muss in erster Linie von der christlichen Friedenstheologie abgeleitet werden. Dabei gilt es, die verschiedenen Traditionen in unserer Kirche zu Wort und ins Gespräch kommen zu lassen. Da Gewaltfreiheit im Unterschied zu militärischer Gewalt nicht direktiv verordnet werden kann, sondern vom Engagement vieler Menschen lebt, ist eine breite Diskussion in den Gemeinden und Kirchenbezirken erforderlich“.

Diese Thesen sind bemerkenswert. Ihr Kernpunkt ist die Aufgabe des Ultima-Ratio-Denkens, dem die Friedendenkschrift von 2007 verhaftet bleibt.

Aufgrund der Eingabe des Kirchenbezirkes wurde eine Arbeitsgruppe im Aufttrag des Evangelischen Oberkirchenrates gebildet, die 2012 einen Entwurf für ein Positionspapier erarbeitete. Diese Arbeisgruppe bestand aus Mitgliedern der Landessynode, des Kollegiums des evangelischen Oberkirchenrates und Fachleuten.
Die Zusammensetzung der Arbeitgruppe signalisiert die Bedeutung der Eingabe des Kirchenbezirkes. Das Positionspapier wurde dann mit einer Stellungnahme der Militärseelsorge an die Bezirkssynoden mit der Bitte um Beratung und Stellungnahme weitergeleitet. Es wurde auch in den Kirchenbezirken, in Kirchengemeinden und Gruppen diskutiert.

Kern des Positionspapieres ist ebenso wie in der Eingabe des Kirchenbezirkes die Ablehnung der Ultima-Ratio. In der Zusammenfassung des Positionspapieres heißt es: „Der Krieg muss ein für allemal geächtet werden! Er darf für Christen nicht mehr zu den Handlungsoptionen gehören. In der Nachfolge Jesu und der Aufnahme der Weisungen der Bergpredigt sind gewaltfreie Methoden die für Christen gebotene und politisch vernünftige Handlungsoption zur Verteidigung von Menschenrechten und zur Überwindung von Unrecht und Unterdrückung“ (Hervorhebung H.D.Z.).

Der Diskussionsprozess ergab – wie zu erwarten war – Kritik und Änderungsvorschläge. (Einzelheiten siehe hierzu unter www.ekiba.de/friedensethik).

Änderungsvorschläge und Kritik wurden von der Arbeitsgruppe in einem zweiten Entwurf eingearbeitet, der den Titel trägt: „Richte unsere Füsse auf den Weg des Friedens (LK 1,79) Ein Diskussionsbeitrag aus der Evangelischen Landeskirche in Baden“ .“ Aus dem Positionspapier wurde ein Diskussionspapier“, das die Landessynode am 24. Oktober 2013 veabschiedete. In einem Hinweis zum Text des Diskussionsbeitrages heißt es : „Er soll dazu dienen, die Auseinandersetzung über friedensethische Fragen zu fördern“.

Im folgenden zitiere ich aus dem Diskussionspapier, da es für alle weiteren Diskussionen grundlegend ist. Das Papier hat zwei Punkt, wobei Punkt zwei sechs Unterpunkte hat.

1. Ausgangslage: die militärischen Interventionen in Jugoslawien, Irak, Afghansitan, und Libyen werden humanitär begründet. „Die Ergebnisse dieser Interventionen zeigen, dass sie die menschenrechtliche Problematik nicht zu lösen vermögen, sondern eher noch verschärfen. … Militärische Interventionen können die Machtverhältnisse verändern, nicht aber den Frieden bringen oder langfristieg zur Verbesserung der Menschenrechte beitragen“.

Beispiele gewaltfreier Bewegungen machen deutlich wie Veränderungen möglich sind. „Untersuchungen von US-amerikanischen Forscherinnen, die sämtliche Bürgerkriege und Aufstände zwischen 1900 und 2006 analysiert haben, belegen, dass gewaltfreie Revolutionen weit erfolgreicher ihre Ziele erreichen als bewaffnete Revolutionen und weniger Menschenleben und Traumatisierungen beklagt werden müssen“.

Weltweit kann das Ansteigen der Rüstungsausgaben beobachtet werden. Deutschland liegt mit seinen Waffenexporten an dritter Stelle. „Unsere Volkswirtschaft – und mit ihr die Kirchen profitieren von Gewalt und Krieg“.
Anmerkung: Inzwischen liegt Deutschland an vierter Stelle. Amerika, Russland und China liegen davor.

2. Biblische und theologische Einsichten

2. 1 Biblische Orientierung

„Eine gesamtbiblische Perspektive lässt keine theologische Rechtfertigung von Krieg zu. … Jenseits dieser gesamtbiblischen Perspektive werden immer wieder einzelne Bibelstellen herausgegriffen, um Gewalt oder Krieg mit ihnen zu rechfertigen“. … Aus der „Gottebenbildlichkeit bezieht der Mensch seine besondere Würde. Hierin ist auch die ´Weisung zum Schutz des menschlichen Lebens´das Gebot ,Du sollst nicht töten´ im Dekalog begründet (Exodus 20,13. (Die Einheitsübersetzung schreibt, dem hebräische Urtext angemessener: ,Du sollst nicht morden´ ;gemeint ist das unrechtmäßige Töten eines Menschen“ Hervorhebung H.D.Z. – Gibt es das rechtmäßige Töten von Menschen?? Im Positionspapier wird diese Unterscheidung nicht getroffen).

In der Bergpredigt fordert Jesus zur aktiven Gewaltfreiheit auf. „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin (Mt. 5,39). Dieses Verhalten nimmt die Gewalt weder passiv hin, noch wird mit Gegengewalt reagiert. Vielmehr gibt es dem Angegriffenen seine Würde zurück, lässst die Aggressivität ins Leere laufen und führt so aktiv aus der Gewaltspirale heraus“.

2.2 Ethos der Gewaltfreiheit in der Bergpredigt versus Lehre vom gerechten Krieg

Als das Christentum nach der konstantinischen Wende zur Staatreligion wurde, wurde die Bergpredigt „zur Sonderethik für besonders berufene Christen (z.B.Mönche oder Priester)“. … Die Lehre vom gerechten Krieg „entwickelte der Kirchenvater Augustin“ … Damit soll „die zerstörerische Kraft des Krieges“ eingedämmt werden.

2.3 Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden – Stationen auf dem Weg der Friedensethik

Anstelle der Lehre vom gerechten Krieg wurde das Konzept des gerechten Friedens entwickelt. „Die Abkehr vom Konzept des ,gerechten Kriegs´ begann unter dem Eindruck der Verheerungen des 2. Weltkrieges“.

„Der ,ökumenischen Aufruf zum gerechten Frieden´ von 2011 stellt im Blick auf die immer wieder aufbrechende Kontroverse um die Anwendung von militärische Gewalt fest: ,Jahrzehntelang haben die Kirchen mit ihrer Uneinigkeit in dieser Frage gekämpft; aber der Weg des gerechten Friedens zwingt uns jetzt, darüber hinaus zu gehen. Lediglich Krieg zu verurteilen reicht jedoch nicht aus; wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um Gerechtigkeit und friedliche Zusammenarbeit zwischen den Völkern und Nationen zu fördern. Der Weg des gerechtenFriedens unterscheidet sich grundlegend vom Konzept des „gerechten Krieges`´ und umfasst viel mehr als den Schutz von Menchen vor ungerechtem Einsatz von Gewalt; außer Waffen zum Schweigen zu bringen, schließt er soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Sicherheit für alle Menschen ein`. Und: Als Christinnen und Christen fühlen wir uns verpflichtet, ,jede theologische oder andere Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt in Frage zu stellen und die Berufung auf da Konzept eines „gerechten Krieges„ und dessen übliche Anwendung als obsolet zu erachten`“.

2.4 Ungeklärte Fragen der EKD-Denkschrift des ÖRK

Die EKD-Denkschrift von 2007 bekräftigt zwar die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“, allerdings lässt sie „den Einsatz militärischer Gewalt zu, für den Fall, dass andere Mittel der Konfliktlösung versagen“. Die Frage der sogenannten „Schutzverantwortung“ ( responsibility to protect) wird in der Ökumene kontrovers diskutiert.

Die Idee des „just policing“ wird international diskutiert. „Dabei wird konsequent zwischen militärischer Gewalt und polizeilichem Zwang unterschieden. … An dieser Idee muss noch grundlegend weiter geforscht und gearbeitet werden“.

2.5 Friedensethische Wegweiser

1. „ ,Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens`: Das weite Verständnis vom gerechten Frieden und die Praxis der Gewaltfreiheit Jesu fordern uns zu einem Weg heraus, auf dem theologisches Nachdenken und kirchliche Praxis unbedingt zusammen gehören und einander beeinflusssen. Dieser Weg kann nicht verordnet werden, sondern hängt vom Engagement vieler ab. Er ist deshalb einladend und bemüht, auch kontroverse Fragen im Sinne der Friedesverheißung auszutragen.

2. Im Mittelpunkt dieses Weges steht die Praxis der aktiven Gewaltfreiheit. Diese zu lernen und zu lehren ist eine zentrale Aufgabe der Kirche. Sie entspricht damit ihrem Auftrag, Kirche des Friedens zu sein.

3. Gerechter Friede fordert uns heraus, vom Frieden her zu denken und die Konsequenzen unseres Handeln im Blick auf alle Dimensionen des gerechten Friedens zu betrachten. Im Zusammenhang mit der Friedenskonvokation in Kingston/Jamaica wurde der Friedensbegriff in vier Dimensionen entfaltet:

– Frieden in der Gemeinschaft: Hier kommen alle Themen des friedlichen Miteinanders im Nahbereich in den Blick

– Frieden mit der Erde: Hier werden alle Fragen des Umganges mit der Schöpfung und den in ihr vorhandenen Ressourcen thematisiert.

– Frieden in der Wirtschaft: Hier geht es um ein gerechtes Wirtschaften global wie regional, das dem Frieden dient.

– Frieden zwischen den Völkern: Hier kommen die friedensethischen Fragen im engeren Sinn sowie alternative zivile Schritte der Konfliktbearbeitung und – prävention inden Blick“.

2.6 Zusammenfassung
„Carl Friedrich von Weizsäcker hatte schon 1963 erklärt: ,Der Krieg als Institution muss in einer fortlaufenden Anstrengung abgeschafft werden` Angesichts der schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde sowohl von der Ökumene und von den Vereinten Nationen, als auch von der badischen Landeskirche wiederholt die Ächtung des Krieges ausgesprochen: ,Krieg scheidet als Mittel der Politik aus und darf nach Gottes Willen nicht sein!“ Daher muss der Tendenz gewehrt werden, den Krieg wieder als normales Mittel der Politik anzusehen und wirtschaftliche Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen. In der Konsequenz bedeutet dies, auf militärische Einsätze zu verzichten.
In der Nachfolge Jesu Christi steht uns eine Fülle ziviler, gewaltfreier Mittel zur Verfügung, um uns national und international für gerechten Frieden einzusetzen. Als Christen sehen wir für diesen Weg alle Verheißungen. So kann wirkliche Versöhnung zwischen verfeindeten Parteien wachsen.
In Ergänzung zu gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung sind allein rechtstaatlich kontrollierte polizeiliche Mittel ethisch legitim. In kriegsähnlichen Konfliktsituationen, die die nationalen Polizeikräfte überfordern, ist an internationale, durch das Völkerrecht legitimierte, z.B. den Vereinten Nationen unterstehende Polizeikräfte zu denken“.

Schlussbemerkungen

Im Positionspapier wird das Ultima-Ratio-Denken abgelehnt, im Diskussionspapier nicht wie ein Vergleich der jeweiligen Zusammenfassung unschwer erkennen läßt (vgl auch Zitat des Positionspapieres auf Seite 4).

Positiv ist zu bemerken, dass die Evangelische Landeskirche in Baden einen Diskussionsprozess ausgelöst hat, der hoffentlich von allen Landeskirchen und auf EKD-Ebene aufgenommen wird.

 

Ludwig Baumann: Niemals gegen das Gewissen, Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs. Eine Buchbesprechnung von Pfr. i.R. Hans Dieter Zepf.

Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2014, (in Zusammenarbeit mit Norbert Joa), ISBN: 978 – 3 – 451 – 30984 – 7

02/2015, von Hans Dieter Zepf, Pfarrer i. R.

Ludwig Baumann ist der letzte noch lebende Wehrmachtsdeserteur. Er schildert auf 126 Seiten seinen zähen Kampf für seine Würde, für Gerechtigkeit und Frieden. Es ist eine bewegende und bewegte Lebensgeschichte.

Ludwig Baumann wurde 1921 als Sohn eines Tabakhändlers geboren geboren. Er wollte kein Soldat werden und wurde es doch am 6. Februar 1941, bei der Kriegmarine. In der Hafenkompanie Bordeaux reifte in ihm und seinem Freund Kurt Oldenberg der Entschluss: „Diesen Krieg, diese Verbrechen wollen wir nicht mitmachen.

Wir wollen keine Leute umbringen.

Wir wollen ganz einfach leben.

Wir werden abhauen. Wir wollen frei sein.“ (S. 28)

Am 3. Juni 1942 desertierten beide und wurden von einer deutschen Zollstreife erwischt.

„Am 30. Juni war unser Prozess – er hat gerade mal 40 Minuten gedauert. Dann verlas Marinekriegsgerichtsrat Dr. Carl Lüder das Urteil: ´Die Angeklagten Baumann und Oldenburg werden wegen schweren Diebstahls und Fahnenflucht im Felde zum Tode verurteilt (…). Die Flucht von der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann.`“ (S. 34f.)

Am 20. August 1942 wurden Ludwig Baumann und sein Freund Kurt Oldenberg begnadigt, sieben Wochen nach dem Todesurteil. Das Todesurteil wurde umgewandelt in eine 12-jährige Zuchthausstrafe. Beide erfuhren erst acht Monate später davon. Die Begnadigung erfolgte aufgrund einer Intervention des Vaters von Ludwig Baumann.

„Gleich nach meinem Todesurteil hatte er sich an einen Geschäftsfreund gewandt und dieser sich an Großadmiral Rader – die beiden waren Offiezierskameraden aus dem ersten Weltkrieg. Raeder anwortete, er sei bereit, diesen Baumann und seinen Freund Oldenburg zu begnadigen, und es läge nun an beiden, dem Führer durch Tapferkeit und Mut zu beweisen, dass sie der Begandigung würdig seien. Kurz: Wir sollten ins Strafbataillon und – falls wir das überlebten – unsere zwölf Jahre Zuchthaus nach Kriegsende absitzen. Das Schreiben des Oberkommandos der Kriegsmarine endet:
,Die Verurteilten sind zur Überprüfung ihrer Eignung für die Bewährungstruppe in das Wehrmachtsgefängnis Torgau einzuweisen. – Berlin, den 20. August 1942´“. (Seite 49 f.)

Nach einem sechswöchigen Aufenthalt im Emslandlager Esterwegen (Konzentrationslager) ging es weiter ins Wehrmachtsgefängnis Torgau, dann in die Strafdivision 500 im Osten. „In der Strafdivision 500 war man nicht lange – wir waren eingesetzt zum Minenräumen, gegen Partisanen, als Stoßtrupps oder Vorauskommandos. Eine typische Meldung an die Heeresleitung hieß: ,Bewährungsbataillon hat sich ausgezeichnet geschlagen – fast aufgerieben.` Ein Bataillon mit 800 Mann waren nach drei Monaten gewöhnlich vernichtet“. (S. 72)

Ludwig Baumann überlebte den Krieg (sein Freund Kurt Oldenburg nicht). Er kehrte aus russischer Gefangenschaft kurz vor Weihnachten nach Hamburg zurück.

Ludwig Baumann war ein gebrochener Mann. Die Nachkriegjahre waren geprägt von
von Schicksalsschlägen. Er berichtet: “Ich stieg in das Familiengeschäft ein. Als Großhändler erhielt Vater auch unter britischer Besatzung weiterhin große Tabak-Kontingente und wir belieferten unter anderen die Hamburger Gefängnisse, ganz legal. Ich erklärte ihm, dass man mit einem Teil des Tabaks auf dem Schwarzmarkt sehr viel Geld machen könne, schließlich waren Zigaretten die Leitwährung Nach allem, was ich erlebt hatte, kam mir eine geregelte Arbeit gar nicht in den Sinn. Den meisten Opfern der Kriegsgerichte ging es ähnlich: Unsere Leute waren einfach kaputt, auch weil sie nach dem Krieg so demütigend behandelt wurden. Und selbst wer wollte, hat oft keine richtige Arbeit bekommen, wir waren ja alle vorbestraft. Bald hatte ich schräge Freunde, die mithalfen, unsere Zigaretten zu veschieben, und zog mit ihnen auch nachts durch die Kneipen in Sankt Pauli. Da ging das richtig los mit dem Trinken. … Ich hatte gehofft, dass mein Handeln jetzt, nach dem Krieg, anerkannt würde. Auf dem Schwarzmarkt gab ich mich einmal als Deserteur zu erkennen. Da wurde ich von ehemaligen Soldaten als Feigling und Verräter zusammengeschlagen und flüchtete blutend auf die nächste Polizeiwache, um dort Schutz zu suchen und Anzeige zu erstatten. Aber dort haben sie mir den Rest gegeben und mich noch mal fürchterlich verprügelt. Ich bin nie wieder zur Polizei gegangen.

Noch in derselben Nacht wurden meinem Vater die Scheiben eingeworfen. Da dämmerte mir: Für die anderen sind wir weiterhin, Feiglinge, Kameradenschweine und Verräter.` Und irgendwann glaubte ich das auch. Und schwieg. Und verdrängte. Und trank“. (S. 94)

Nach dem Tod seines Vaters erhielt er ein beträchtliches Erbe, das er nach drei Jahren mit anderen vertrunken hatte. Seine Frau Frau Waltraud starb nach dem sechsten Kind.

Der Abschied vom Alkohol dauerte Jahre. Der endgültige Wendepunkt kam, als ein Psychologe ihm sagte: „Herr Baumann, wenn sie weiter trinken, wird sich das Jugendamt um ihre Kinder kümmern“. (S. 98) Von da an übernahm er Verantwortung für sich und seine Kinder.

Ludwig Baumann ging es nicht um Ehre, sondern um Würde. Die wurde vielfach mit Füßen getreten, wie die folgenden Beispiele belegen.

„ ,Post vom Dezember 1993 – Absender anonym

Sehr geehrter Herr Baumann!

Ich kann nur bedauern, dass sie nicht erschossen oder geköpft wurden. Wo in der Welt haben habe Deserteure sich eingebildet, noch Kränze geflochten zu bekommen? Halunken, Strolche, feige Schurken waren sie. Diese Deserteure haben das Leben von Hunderttausenden Kameraden auf dem Gewissen.

Dass sie es wagen, überhaupt noch in der Öffentlichkeit anzutreten, ist eine Schande. Sie mögen dafür in der Hölle büßen.

In meinen Augen sind Sie und die anderen Deserteure elende, verachtenswerte Lumpen und Banditen und Mörder an ihren im Stich gelassenen Kameraden. Sie wollten doch nicht das System bekämpfen, sondern waren ein feiger, hinterhältiger Schurke.

Opfer der Militärjustiz? – Man kann darüber nur lachen.´“ (S. 10)

Der Weg bis zur Rehabilitation war steinig und dornig. 1990 wurde auf Initiative von Ludwig Baumann die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e. V.“ gegründet. „Um für unsere Rehabilitierung zu kämpfen, die Aufhebung unserer Urteile, für unsere späte Würde.“ (S. 56) Erst 57 Jahre nach Kriegsende hat der Deutsche Bundestag am 17. Mai 2002 die Urteile gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer aufgehoben. Sie sind nun nicht mehr vorbestraft. Einer der größten Widersacher – was die Rehabilitation betrifft – war der Bundestagsabgeordnete und rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

„Mitteilung 362 der Unionsfraktion: 1. März 2002 – Geis: eine Schande

,Die Geschichtsforschung … hat längst nachgewiesen, dass die Deserteure in der Regel keine Widerstandskämpfer waren, sondern dass viele von ihnen auch nach heutigen Maßstäben aus verwerflichen Gründen gehandelt haben … Wenn wir diejenigen, die weggelaufen sind und damit andere in Not gebracht haben, jetzt als die eigentlichen Helden des Krieges rechtfertigen, begehen wir gegen die Unrecht, die ausgehalten haben, um den Schaden für unser Volk zu begrenzen. Fast 60 Jahre nach dem Krieg handeln wir schändlich gegen unsere Väter, die in den Krieg ziehen mussten, die nicht geflohen sind, ihr Leben eingebüßt haben oder schwer verwundet worden sind oder erst nach langer Kriegsgefangenschaft heimkehren konnten.´“ (S. 110)

Ludwig Baumann kämpfte nicht nur jahrzentelang für die Rehabilitierung der Deserteure, sondern auch gegen den Krieg, für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.

Das Buch ist das Zeugnis eines mutigen und außergewöhnlichen Mannes, der trotz vieler Schicksalsschläge nicht kapituliert hat.

Dieses Buch sollte zur Pflichtlektüre an unseren Schulen werden, im Geschichts-,und Religionsunterricht, ebenso im Konfirmandenunterricht.

Da Buch endet mit denWorten: „Ich bin nun wohl der letzte Deserteuer.

Lange dachte ich, mein Leben sei wertlos, ich sei wertlos. Darum habe ich mich auch lange geweigert, über mein Leben zu sschreiben. Und auch, weil das Erinnern schmerzte. Das sehe ich nun anders. Ich möchte, dass mein Schicksal der Nachwelt erhalten bleibt.

Jüngst fragte mich ein Freund: ,Was soll, was darf jetzt – mit 92 – noch kommen in deinem Leben?´

Nun, ich möchte noch so lange wie möglich wach und tatkräftig bleiben.

Und dann in Würde sterben.“