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Islamforscher im Gespräch. „Radikalisierung ist keine Folge gescheiterter Integration“. Interview mit Olivier Roy in der FAZ.

Nach den Anschlägen von Brüssel warnt Olivier Roy vor einer vorschnellen Verknüpfung von Islam und Terror. Im Interview erklärt der Islamforscher, was das eigentliche Problem des Dschihadismus ist. vom 26.03.2016, von MICHAELA WIEGEL, PARIS, FAZ, hier: 08/2016

Herr Roy, sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Terrorismus und gescheiterter Integration in europäischen Einwanderungsgesellschaften?
Ich glaube nicht, dass die islamische Radikalisierung die Folge einer gescheiterten Integration ist. Das ist ein Scheinproblem. Viele der jungen Leute, die in den Dschihad ziehen, sind integriert. Sie sprechen Französisch, Englisch oder Deutsch. Der „Islamische Staat“ (IS) hat ein frankophones Bataillon gegründet, weil die jungen Franzosen oder Belgier kaum Arabisch können…
Geben Sie dann Premierminister Manuel Valls recht, der eine Debatte über den Nährboden des Terrorismus ablehnt?

Nein, im Gegenteil, ich will zur Debatte über den Nährboden des Terrorismus beitragen. Valls übt sich jetzt in einer Form von Populismus, er hat nur noch wenig von einem Politiker der Linken, er ist autoritär und antiintellektuell. Der Nährboden des Terrorismus muss erforscht werden. Zu meiner eigenen Überraschung arbeite ich viel mit Psychologen und Psychoanalytikern zusammen. Das Risikoverhalten junger Leute und insbesondere die Faszination für Suizid und Gewaltphantasien haben stark zugenommen. Diese Dimension muss stärker berücksichtigt werden.

…  Das vollständige Interview.

Der Politikwissenschaftler Olivier Roy über wichtige Erkenntnisse gegen die „gegenwärtige Hysterie“ in Frankreich hinsichtlich des Islam

24.01.2015; Olivier Roy ist französischer Professor für Politikwissenschaften am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

Es arbeiten mehr Muslime …
… für die französischen Sicherheitsdienste als für al-Qaida. Doch das will niemand wissen…

Die Frage nach dem Zusammenleben hatte sich bereits vor dem Attentat auf Charlie Hebdo gestellt, aber sie war noch „lokalisierbar“: die populistische Obsession gegen die Einwanderung, die Ängste einer konservativen Rechten oder die Religionsfeindschaft von linker Seite, die sich in einen Identitätsdiskurs verwandelt hat, den der Front National (FN) sich angeeignet hat.
Doch nun hat sich die Debatte über Islam und Muslime in Frankreich (nein, es handelt sich nicht um einen französischen 11. September – ein bisschen Haltung und Zurückhaltung bitte!) verselbstständigt. Vereinfacht gesagt, dominieren zwei Diskussionen den öffentlichen Raum. Der bestimmende Diskurs … geht davon aus, dass Terrorismus ein extremer Ausdruck des „wahrhaften“ Islam ist. Dieser lässt sich auf die Ablehnung des Anderen zurückführen zugunsten der religiösen Norm (Scharia) und des Dschihad…

Die Haltung wiederum, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann und die ich als „islamprogressiv“ bezeichnen würde, wird von mehr oder weniger gläubigen Muslimen und vor allem der antirassistischen Bewegung „Nicht in meinem Namen“ vertreten: Der Islam der Terroristen ist nicht mein Islam, ja es ist überhaupt kein Islam, denn der ist eine Religion des Friedens und der Toleranz. (Das übrigens ist ein Problem für die vielen Atheisten muslimischen Ursprungs, die zwischen dem Verdammungsüberangebot des Fundamentalismus und der Nostalgie eines „andalusischen“ Islam, den es nie gab, schwanken.)
Die wirkliche Bedrohung hier ist die Islamfeindlichkeit und die darüber legitimierte Ausgrenzung, ohne dass dabei die Radikalisierung der Jugendlichen entschuldigt wird. Die Aneinanderreihung beider Erzählungen und Diskussionen führt in die Sackgasse…

Trotzdem hört man nicht auf, von der famosen muslimischen Gemeinschaft zu sprechen, bei den Linken wie bei den Rechten – sei es, um den Integrationswillen von Muslimen zu denunzieren, sei es, um Opfer der Islamophobie zu konstruieren.
Die einander entgegengesetzten Diskurse vereinen sich im gemeinsamen Phantasma von einer imaginären muslimischen Gemeinschaft. Doch genau die gibt es nicht. Es gibt nur eine muslimische Bevölkerung. Allein diesen einfachen Umstand zur Kenntnis zu nehmen wäre ein wichtiger Schritt gegen die gegenwärtige Hysterie und gegen die, die noch kommen wird.

Zum vollständigen Artikel.

Prof. Olivier Roy, Heilige Einfalt: Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen.

Olivier Roy, französischer Protestant, Jahrgang 1949, lehrt am European University Institute in Fiesole. Sein Buch „Heilige Einfalt: Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“ gilt als Pflichtlektüre. Es liefert eine von der Meinung vieler Medien abweichende Erklärung über die Entstehung von Dschihadismus und Fundamentalismus. Bericht und Leseproben.

29.11.14, Bericht über einen Artikel der SZ in pro:

Beim Dschihadismus geht es nicht um Islam, sagt der Orientalist Oliver Roy. Den Zulauf zu Terrororganisationen wie zum IS bezeichnet er außerdem als Jugendbewegung und er ist für ihn ein Zeichen, dass Integration funktioniert.

Fundamentalismus entstehe, wenn eine Religion aus ihrer Kultur herausgelöst werde. Religion und Gesellschaft könnten sich dann nicht mehr gegenseitig formen und korrigieren, sagte Roy im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Der Orientalist erforscht am European University Institute im italienischen Fiesole die Ursprünge des Fundamentalismus. Er selbst ist Protestant. In seinem Buch „Heilige Einfalt“ erklärt er seine Idee, dass Kultur und Religion sich gegenseitig beeinflussen müssten, um gut zu funktionieren. Nur so bekomme n Fundamentalismendie Gesellschaft eine Werte-Basis und die Religion passe sich den Anforderungen des Lebens an.

Genau das sei beim islamischen – und auch beim christlichen – Fundamentalismus aber nicht gegeben… Mehr dazu.

Zur Vertiefung die Buchempfehlung, Rezension der NZZ und zwei Leseproben:

Olivier Roy, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen

Rezensionsnotiz dazu in der Neuen Zürcher Zeitung, 24.07.2010
„Luzide“ findet Rezensent Clemens Klünemann diese Analyse des religiösen Fundamentalismus von Olivier Roy. Das Buch macht für ihn deutlich, wie die aktuellen Debatten um Burka und Schleier oder früher Gehorsamsgelübde gegenüber der Katholischen Kirche genuin zu den westlichen Gesellschaften gehören und diese mitgeprägt haben. Roys Beschreibung der Entkoppelung von Religion und Kultur im Prozess der Säkularisierung ist in Klünemanns Augen besonders erhellend. Danach nutzen die Religiösen die Abtrennung von der Kultur, um alle gesellschaftlichen Veränderungen zu ignorieren und sich auf dem Markt der Religionen deutlich sichtbar positionieren zu können.

Leseprobe I zu Olivier Roy: Heilige Einfalt.

Kultur und Religion: Der Bruch

Wenn Gläubige und Ungläubige in derselben Kultur zusammenkommen

Die Unmöglichkeit einer religiösen Gesellschaft

Das Religiöse schafft, meistens implizit, ein kulturelles Umfeld, weil die Religion auch als eine Kultur erlebt wird. Dass die Religion folgenreich für die Kultur ist, ist unvermeidlich, denn keine Gesellschaft kann sich ausschließlich mittels eines expliziten Glaubens behaupten. Die Herrschaftsausübung kann nur funktionieren, wenn die dominierende Religion sich zu einer Kultur entwickelt, das heißt zu einem symbolischen und imaginären System, das die gesellschaftliche und politische Ordnung legitimiert, aber den Glauben nicht zu einer Bedingung des Zusammenlebens macht. Konformität und nicht Glaube begründet eine Gesellschaft, das ist der Unterschied zwischen einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft.

Leseprobe II

Die Orthopraxie: Wenn Laien und Religiöse sich darüber verständigen, was richtig ist

Die Säkularisierung bedeutet nicht unbedingt einen Konflikt, nicht einmal die Trennung vom Religiösen. Eine säkularisierte Gesellschaft kann weiter im Einklang mit einer religiösen Kultur und religiösen Werten bleiben. Die Säkularisierung betrifft den Glauben, aber nicht notwendigerweise die Werte. Wenn die Säkularisierung die Politik berührt und das Thema der Trennung von Religion und Staat auf den Plan ruft, verlangt sie nicht unbedingt eine Debatte über moralische Werte: Klerikale und antiklerikale Kräfte können dieselbe Vorstellung von Moral haben, und Veränderungen der Sitten führen nicht automatisch zu einem Konflikt zwischen Religion und Kultur…