Politisch ist es zumindest riskant, gegen einen Demonstrationszug der Blockupy-Bewegung, in dem bürgerliche und vor allem auch ältere Mitmenschen einen Großteil der TeilnehmerInnen ausmachen, derart rabiat vorzugehen, wie es am 1. Juniwochenende 2013 in Frankfurt geschehen ist. Der Bericht des Mitbegründers der ethikon-Stiftung Axel Köhler-Schnura beunruhigt und erschüttert. In einem offenen Brief, den zahlreiche angesehene Persönlichkeiten unterzeichnet haben, werden die Ereignisse von Frankfurt komprimiert geschildert und eine zum Teil einseitige Berichterstattung korrigiert. Die Frankfurter Rundschau bestätigt im Wesentlichen diese Darstellungen und bietet zudem eine umfangreiche Fotodokumentation zu dem Blockupy-Protest und zu der polizeilichen Gewalt. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Interview mit dem Staatsrechtler und Spezialisten für Polizeirecht und innere Sicherheit Christof Gusy der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der den Polizeieinsatz als „unverhältnismäßig“ und „nicht zu rechtfertigen“ qualifiziert.
Sichtbar wird das Bild einer kalkulierten Strategie: Über Stunden hinweg wurden erkennbar friedliche Menschen eingekesselt und in rhythmischen Abständen Prügel- und Reizgasattacken ausgesetzt. Dem bürgerschaftlichen Engagement sollte der Schneid abgekauft, dem Citoyen die Haltung des marktkonformen Untertanen eingeprügelt werden. Einem ehemaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus hatte eine ähnliche Strategie bei „Stuttgart 21“ das Amt gekostet. Damals allerdings dokumentierte neben den überwiegend öffentlich-rechtlichen Sendern die bürgerschaftliche Video-Überwachung insbesondere durch die „Parkschützer“ in Echtzeit die politisch lancierte Brutalität des Staatsapparats. Das Element dieser heilsamen Öffentlichkeit war diesmal deutlich reduziert, vermutlich auch wegen der geringeren Anzahl der Protestierer. Deswegen ging man das Risiko öffentlicher Empörung mit politisch ungewollten Nebenwirkungen kalkuliert ein, war doch Ziel des Protests das „Allerheiligste“ des deutschen Kapitalismus: das Frankfurter Bankenviertel und der Sitz der EZB.
Die neureligiöse Rede vom Markt als höchster Instanz
In den USA gibt es religiöse Fanatiker fundamentalistisch-christlicher Provenienz, die vor sog. „Abtreibungskliniken“ mit Kleinkalibergewehren Ärzte, Schwestern und schwangere Frauen erschießen. Islamistische Fundamentalisten sprengen sich selbst und überwiegend andere Moslems bei „Selbstmordattentaten“ in die Luft. Auch der Massenmörder Anders Breivik war in gewisser Hinsicht religiös motiviert, zumindest hatte er mit anderen Fundamentalisten ein klares Weltbild gemeinsam, das auf die Aufteilung des Kosmos in „Gut“ und „Böse“ hinausläuft. Religion hat, wenn sie sich einem fanatischen Dualismus hingibt, eine erschreckend destruktive Seite.
Dass Ideologien sich zu Ersatzreligionen entwickeln können, ist nichts Neues. Die neoklassische Theorie hat das Potential, den Markt von einem pragmatisch zu handhabendenden Instrument zu einer höchsten Instanz mit religiösem Charakter wuchern zu lassen. Naomie Klein schildert in ihrem Buch „Die Schockstrategie“ eindrücklich, welch eine Blutspur die von Milton Friedman angeleiteten „Chicago-Boys“ im Verbund mit dem CIA und örtlichen Diktatoren in Ländern wie Chile, Argentinien oder Indonesien hinterlassen haben. Die Verteufelung nicht nur des Kommunismus oder des Sozialismus, sondern auch des Sozialen im Allgemeinen ist ein Hinweis auf einen gefährlichen Dualismus, der zur Rechtfertigung solcher Gewaltexzesse diente. Der Begriff „alternativlos“, von Maggy Thatcher bis Angela Merkel immer wieder missbraucht, um den materiellen Status von abhängig Beschäftigten und EmpfangerInnen staatlicher Transferleistungen zu reduzieren, teilt ebenfalls die Welt in schwarz und weiß auf – Marktfundamentalismus.
In der mittelalterlichen Stadt war die Kathedrale das alles überragende Bauwerk. In Metropolen wie Frankfurt sind es die Bankentürme. „Wir müssen die Märkte beruhigen.“ „Das Vertrauen der Märkte muss wiedergewonnen werden.“ Sätze wie diese deuten an, dass der Neoliberalismus mittlerweile so dominant ist, dass unwidersprochen dem Markt die Rolle der höchsten Instanz zugewiesen werden kann. Er überragt und beherrscht alles: Politik, Kultur, Bildung und sogar das kirchliche Leben. Nicht mehr die Verbesserung der Lebensumstände, sondern die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit wird zur absoluten Norm politischen und zunehmend auch gesellschaftlichen Handelns.
Nun gibt es zweifellos Profiteure der marktradikalen Ideologie: jener kleine Prozentsatz von 1-2% Hochvermögenden, die ihr Kapital in den letzten Jahrzehnten alleine auf Grund des schieren Umfangs gewaltig mehren konnten. Sie sind die Individuen, die insbesondere das Finanzmarktgeschehen beherrschen und mit ihrer ökonomischen Macht politische Gegenbewegungen ausbremsen. Dass sie hierbei in der Anwendung ihrer Methoden alles andere als zimperlich sind, hat die Geschichte – zuletzt eben auch in Frankfurt – gezeigt. In der Bankenstadt wurden junge Polizisten und Polizistinnen als Repressionsinstrument des Neoliberalismus missbraucht. Deutliche Kritik an diesem Vorgehen kommt bemerkenswerter Weise aus den eigenen Reihen. In einem Bericht der Frankfurter Rundschau werden Vertreter einer Spezialeinheit der Frankfurter Polizei zitiert: „In der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Frankfurter Polizei herrscht massiver Frust über den Einsatz bei der Blockupy-Demonstration am vergangenen Samstag. Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau äußerten mehrere Beamte die Meinung, ihre zur Verstärkung aus anderen Bundesländern angereisten Kollegen hätten maßlos überzogen.“ „Die Kollegen aus den anderen Bundesländern hätten mit zwei Ketten einen viel zu großen Kessel gebildet. Es sei vollkommen klar gewesen, dass die allermeisten der eingekesselten Demonstranten keine Gewalttäter waren. Bei der Polizei rechnet man deshalb mit zahlreichen Strafanzeigen wegen Freiheitsberaubung.“ Weiter heißt es in dem Bericht: „Unterdessen scheint sich der Verdacht zu bestätigen, dass die Einkesselung der Demonstranten jedenfalls nicht so spontan erfolgte, wie es die Polizeiführung am Montag dargestellt hatte. So berichtet der Frankfurter Arzt Joachim Dlugosch, der mit seiner Familie an dem Protestzug teilgenommen hatte, in einem offenen Brief an Polizeipräsident Achim Thiel von einer Begegnung mit einem Beamten in der Nähe des Schauspiels. Dieser habe gesagt, ‚er wolle uns warnen, es wäre besser, wenn wir uns mit den Kindern entfernen, hier würde gleich etwas passieren‘. Entsprechende Schilderungen aus der Zeit vor dem Polizeieinsatz gibt es von mehreren Demonstranten.“ All dies deckt sich mit den Schilderungen von Axel Köhler-Schnura und belegt, dass die Gewaltmaßnahmen wohl kalkuliert waren. Im Hintergrund zogen offenkundig die Fundamentalisten einer Geldreligion und ihre Helfershelfer die Fäden, denen zur Durchsetzung ihres als absolute Wahrheit erkannten Glaubens jedes Mittel recht ist.
Der „marktkonforme“ Mensch
Religionen haben mitunter eine Neigung, ihren Anhängern Askese und Verzicht zur Erweiterung des religiösen Potentials zu predigen. Mit den Austeritätsprogrammen, die insbesondere in den südeuropäischen Ländern umgesetzt werden, aber auch mit der „Schuldenbremse“ in Deutschland will man die „Märkte beruhigen“ und die „Wettbewerbsfähigkeit steigern“. Dass der Aufruf zur Askese, der vor allem dem öffentlichen Sektor und abhängig Beschäftigten gilt, nicht nur materielle Aspekte hat, deutet die Forderung Angela Merkels nach einer „marktkonformen Demokratie“ an. Gemeint ist wohl ein politisches System, das dem Marktgeschehen angepasst ist und die Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Askese bedeutet hier u.a. Verzicht auf unbotmäßigen Protest, wie er sich z.B. im Rahmen von Blockupy in Frankfurt artikuliert hat. Hier waren „Sünderinnen und Sünder“ wieder die Wettbewerbsfähigkeit und den Finanzplatz Frankfurt auf der Straße, denen die unsanfte Behandlung letztlich nur zu dem Besten diente, sie auf den rechten Weg der Marktkonformität zu drängen.
Der marktkonforme Mensch ist zunächst als homo oeconomicus ein mathematisches Konstrukt der Mainstream-Ökonomie. Frank Schirrmacher dokumentiert in seinem höchst informativen, bedrückenden und zugleich anregenden Buch „Ego – Das Spiel des Lebens“, wie sehr jener homo oeconomicus insbesondere durch die Entwicklungen des digitalen Zeitalters in die Realität hineindrängt und wie die Autonomie des wirklichen Menschen immer stärker beschnitten wird. So muss es sein, denn der wirkliche Mensch mit seiner Fähigkeit zu lieben, sich für ein Gemeinwesen einzusetzen und seinem Gerechtigkeitssinn, ebenso wie mit seinen Abgründen – die Bibel beschreibt ihn ziemlich realitätsnah – ist ein bleibender Störfaktor im Marktgeschehen. Die immer rasantere Landnahme des Marktes verlangt nach einem „neuen Menschen“: dem fleischgewordenen homo oeconomicus.
Mit dem Vordringen des Marktes, der in rechter Dosierung wie ein Bewässerungssystem in der Steppe wirken kann, nahm die Anzahl der Menschen zumal in den Reihen der sog. „Verantwortungseliten“ zu, die den Vorgaben des homo oeconomicus entsprechen. Denn die Spielregeln von Wettbewerb und Konkurrenz verlangten nach Persönlichkeiten, die eben nicht nur bei der Produktion von Baustoffen oder Gartengeräten, sondern auch in der Politik, in der Medienlandschaft, dem Bildungswesen, als Künstlerinnen und Künstler oder in Großorganisationen wie den Kirchen rational nach der Vermehrung des eigenen Nutzens strebten. Nicht mehr der Einsatz für andere, für ein besseres Leben oder die Gemeinschaft steht an erster Stelle, sondern die eigene Karriere. Das eigene Selbstbild wird entlastet durch den marktfundamentalistischen Glauben, dass persönlicher Egoismus von Individuen das Gemeinwohl auf wundersame Weise fördert. Die Glaubensgemeinschaft der Geldreligion hat Zuwachs erhalten. Vor allem verfügt sie über nahezu unbegrenzte Ressourcen, um Medien in ihrem Sinne zu instrumentalisieren, politische Prozesse zu steuern und Ungläubige kaltzustellen.
Paulus schreibt im 1. Korintherbrief 13,13: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Diesen Gnadengaben setzen die Jüngerinnen und Jünger der Geldreligion eigene Werte entgegen: „Nun aber bleiben Ansehen, Macht und Geld. Aber das Geld ist der höchste Wert, da es dem Erfolg den Weg ebnet.“
Jesus schreibt ihnen ins Stammbuch: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Matthäus 6,24)
von Hans-Jürgen Volk