Informieren – Transformieren – Reformieren. Uber die eigentlichen Aufgaben der sog. Mittleren Ebene.
Ein Kommentar von Maximilian Heßlein.
80 Jahre ist es in diesen Tagen her, dass die Barmer Theologische Erklärung das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Für die Evangelische Kirche ist das der grundlegende Text ihres Kircheseins im 20. und anbrechenden 21. Jahrhundert, weil sie neben der klaren Ausrichtung an Jesus Christus, weil sie über Zuspruch und Anspruch Gottes an uns auch etwas sagt zur Gestalt der Kirche und zu ihrem Leben in der säkularen Welt.
80 Jahre sind also seither vergangen und der Befund ist eindeutig. In dieser Zeit hat sich die Evangelische Kirche massiv verändert. Sie ist beweglicher, vielfältiger, in der Öffentlichkeit einflussreicher und an Gebäuden und Geldmitteln reicher geworden. Wer in die Zahlen und das Leben der Kirche schaut, wird das nicht übersehen können.
Nun haben sich an diesem Wochenende etwa 800 Vertreterinnen und Vertreter der 600 verschiedenen Kirchenkreise, Dekanate und Synodalverbände der EKD an eben diesem Ort der Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung getroffen, um die Veränderungen der Kirche zu beleuchten. Sie sollten und wollten sich informieren, transformieren und reformieren. So jedenfalls war der öffentliche Anspruch des Zukunftsforums in Wuppertal überschrieben. Kirchenkonferenz und Rat der EKD hatten dazu eingeladen.
Dabei wurde im Vorfeld festgestellt: „Die evangelische Kirche verändert sich. Herausgefordert von wachsender religiöser Vielfalt und individualisierter Daseinsgestaltung, von sinkenden Mitgliederzahlen und Finanzmitteln, ist sie auf der Suche nach theologisch verantworteten Schwerpunktsetzungen, nach beweglicheren Formen und stärkerer Außenorientierung.“
Zugleich wurde in der Einladung zum Zukunftsforum der sog. Mittleren Ebene, also der Kirchenleitung in Kirchenkreisen und Dekanaten, eine besondere Rolle zugespielt: Die Mittlere Ebene habe eine Schlüsselfunktion in der Bestärkung, Verbreiterung und Nachhaltigkeit der Veränderungsprozesse.
Der geneigte Leser staunt und kommt aus dem Staunen so schnell auch nicht heraus. Nicht nur, dass der Veränderungsprozess überhaupt nicht mehr hinterfragt wird – die V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung deutet ja zumindest an, dass die Veränderungen in keiner Weise greifen, sondern den Abbau der Bindungen eher noch beschleunigen. Darüber hinaus aber wird unter dieser Aufgabenzuschreibung ein Kirchenbild im Verständnis zementiert, das eine klare hierarchische Ordnung erkennen lässt. Im Kirchenamt, der Kirchenkonferenz und im Rat der EKD wird gedacht und wird die Gestalt der Evangelischen Kirche für die nächsten Jahren festgelegt. Dann wird über die Landeskirchen dieses Denken und die konkreten Ausformungen immer weiter gegeben, bis es über die Kirchenkreise und Dekanate letztlich bei den Gemeinden, den ortsnahen kirchlichen Arbeitsformen und bei den Menschen ankommt.
Eigentlich ist es eine Schande, dass ausgerechnet in Wuppertal ein solcher Prozess weitergetrieben wird. Ist doch gerade in Barmen ganz anderes über die Kirche gedacht worden. Es gibt nur einen Herrn, der die Kirche lenkt. Er heißt Jesus Christus. Es gibt keine Herrschaft der einen über die anderen. Es gibt vielmehr den Auftrag, sein Wort auszurichten an alles Volk. Sein Wort aber wird hörbar unter den Menschen, in deren Versammlung im Glauben. Es ist nicht festgeschrieben in Prognosen und Annahmen oder wiederkehrend falschen Voraussetzungen.
Dabei ist festzuhalten: Die Herausforderungen sind in der Einladung zum Zukunftsforum klar benannt. Es ist wichtig und gut, dass sich die Kirche diesen Herausforderungen bewusst stellt. Es ist aber mindestens so wichtig, dass die Kirche überprüft, ob die benannten Herausforderungen auch wirklich stimmen, oder ob mit diesen Dingen nicht vielmehr ein Herrschaftsinstrument etabliert und legitimiert wird, um die Kirche nach kirchenleitenden Vorstellungen zu verändern.
So ist die eigentliche Aufgabe der Kirchenleitung, gerade in den Dekanaten und Kirchenkreisen einmal nachzufragen und zu hören, ob denn die Herausforderungen überhaupt richtig benannt sind.
Allein die immer wiederkehrende Feststellung schwindender Finanzmittel ist schlicht und ergreifend falsch. Ja, die Kirchenglieder werden weniger. Die Aktiven aber werden an vielen Stellen mehr. Zugleich steigt auch die Produktivität in diesem Land immer weiter. Es ist genug Geld da. Auch für die Kirche. Die Steuereinnahmen wachsen seit Jahren. Nur wohin wird das Geld verteilt? Wer profitiert von den eingenommenen Mitteln? Und wer bestimmt darüber? Das ist nicht nur in der Kirche eine der Grundfragen menschlichen Zusammenlebens.
Auch gibt es theologische Schwerpunktsetzungen zuhauf und gelebte Frömmigkeit. Die erfährt man allerdings nicht in den warmen Stuben der Kirchenverwaltungen, sondern im dichten Kontakt zu den Menschen. Dort wo der Glaube gelebt wird. Nikolaus Schneider hat diesen Kontakt möglicherweise verloren, sonst müsste er sich nicht „mehr Alltagsfrömmigkeit in den Gemeinden“ wünschen ( wenn er denn wirklich richtig zitiert ist; siehe sein Zitat).
Es reicht der Blick auf die einzelnen Gemeinden. Es reicht der Blick auf die ganz konkrete Verkündigungsbereitschaft der Menschen an Ort und Stelle. In vielen Bereichen wird auf hohem Niveau Theologie betrieben für die Menschen eines Stadtteils oder eines Dorfes, für Umherziehende und Bleibende, für Suchende und für Zweifelnde genauso wie für diejenigen, die in dieser Zeit fest im Glauben stehen. Das kann mehr werden. Das darf auch mehr werden. Die Leitungen jedoch tun gerade so, als gäbe es das gar nicht.
All diese Dinge laufen nämlich dezentral. Sie sind nicht von einem einzelnen Ort aus gesteuert, sondern entstehen dort, wo Menschen sich um Gottes Wort versammeln und miteinander ins Gespräch kommen, ihre Kirche und Gemeinde gestalten und letztlich wirklich die Kirche sind mit all ihren Stärken, aber auch all ihren Schwächen.
So stünde es der EKD wie auch den Kirchenleitungen der einzelnen Landeskirchen eigentlich gut an, vor allem erst einmal zuzuhören, anzuerkennen und wertzuschätzen, was in der Kirche gearbeitet und gelebt wird und zu schauen, wie diese dezentrale Ausrichtung der evangelischen Kirche gestärkt und nicht immer weiter beschnitten werden kann.
Da wäre es gut, nur ein einziges Mal wirklich zuzuhören. Wie viele durch die Umstrukturierungen und Zusammenlegungen abservierte oder überlastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derjenigen kirchlichen Arbeitsfelder, die sich den Zusprüchen und Ansprüchen der Menschen an Ort und Stelle widmen sollen und wollen, sind denn eigentlich mal gefragt worden?
Wer fragt die ausgebrannten und wegen ständiger Deputatskürzungen überforderten Sekretärinnen, die keine Kontaktpflege mehr betreiben können. Immerhin ist diese Berufsgruppe gemäß der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung nach den Pfarrerinnen und Pfarrern diejenige mit den meisten von außen wahrgenommenen Kontakten zu den Menschen.
Wer fragt die Hausmeister, die in fünf Stunden pro Woche ganze Kirchen und zugehörige Gemeindehäuser betreuen sollen?
Wer fragt die Pfarrerinnen und Pfarrer, die alles liegen gebliebene auffangen, Briefe austragen, Wäsche waschen, Stühle stellen, Abendmahlsgeschirr reinigen und nebenher auch Gottesdienste halten, Seelsorge üben und diakonische Aufgaben übernehmen?
Wer fragt die? – Keiner.
Das aber wäre die eigentliche Aufgabe der sog. Mittleren Ebene, wenn sie nicht als Herrschaftsinstrument von den Kirchenleitungen instrumentalisiert würde, sondern als Teil des innerkirchlichen Kommunikationsprozesses wahrgenommen würde, der nicht dem Herrschen und Verwalten, sondern dem Leben der Kirche und ihrer Gestaltung dient.
80 Jahre Barmer Theologische Erklärung sind ein guter Zeitpunkt umzudenken. Eine Chance dafür wurde in Wuppertal und den verschiedenen Orten des Ruhrgebiets schon im Vorfeld vertan.