Archiv der Kategorie:
Zeitgenossen

Reiner Lesegenuss mit ernster Absicht: Berufsverbot für Betriebswirte! von Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius.

Vortrag auf der Leipziger Buchmesse am 18. März 2010

In: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 194, Juni 2010. SH-Verlag, Köln

hier: kurze Auszüge

2. Nur um mich zu schonen und nicht weiter die Ohren zu reizen, entschied ich, nicht über die Krise zu schreiben und zu reden, die mich derzeit am meisten beschäftigt, die Europa-Krise. Nein, nicht die griechische Schulden-Schlamperei. Sondern Italien, wo man beobachten kann, wie die Demokratie die Demokratie abschafft, Monat für Monat ein Stück mehr…

3. Im Jahr 1998 verfasste der Autor, der hier spricht, ein kurzes “Selbstporträt mit Schimpansen”, das unter anderem folgenden Gedanken enthielt: Er sei einer “aus der Generation, die es so gut hatte wie keine vor ihr und so gut, wie es keine nach ihr haben wird”. Nein, das war keine Beschwörung kommender Krisen…

4. Denn: Krise ist immer. Und das Reden über Krisen ist kaum weniger banal ist als die Krisen selbst. An Krisen mangelte es nie, wird es nicht mangeln. Krisen sind der Normalzustand. Also kein Grund, hysterisch zu werden…

5. Jeder halbwegs informierte Mensch weiß: die Finanzkrise ist nicht vorbei, sie fängt erst an. Die Krisen werden sich eher potenzieren als minimieren. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die wichtigsten Probleme in absehbarer Zeit nicht gelöst werden: die Regulierung der Finanzmärkte, die Regulierung der Klimaveränderungen, der Hochrenditen-Wahn der Wirtschaft, die heikle einseitige Abhängigkeit der US-Wirtschaft von China…

6. …Die Suche nach Orientierung, wegweisender Vernunft und minimalen Sicherheiten, ist verständlich…..

7. Eins allerdings hat die bisherige Krisendeutungskunst übersehen: Wird von Krise geredet, schwindet der Humor. Denn das erste Opfer der Krise ist nicht, wie eine leichtfertige Plattitüde es vom Krieg behauptet, die Wahrheit, sondern der Humor. Niemand scheint die Komik zu bemerken oder zu bedenken, die darin liegt, dass die Finanzkrise eine Folge des Überflusses ist, des Überflusses an Geld, an Kapital. Die Labilität des Wirtschaftssystems kommt nicht daher, dass in den Gesellschaften zu wenig Geld vorhanden wäre, also aus Not, sondern daher, dass zu viel da ist. Und dies Geld ist auch noch viel zu billig zu haben, für ein Prozent, mehr oder weniger…

8. Und da ist noch ein zweiter komischer Aspekt: Was früher die Marxisten wollten, die Verhältnisse zum Tanzen bringen, erledigen heute die Betriebswirte. Fachidioten, die nicht unterscheiden können zwischen Kostensenkung als einem wirtschaftlich sinnvollen Ziel – und Kostensenkungswahn. Die nicht unterscheiden zwischen Größe als einem wirtschaftlich sinnvollen Ziel – und Größenwahn…

9. Wer die Krisen ernsthaft bekämpfen will, dem würde ich in aller Heiterkeit als erstes ein einfaches Rezept empfehlen, das zwar nicht alle Probleme lösen dürfte, aber doch ein konstruktiver Anfang wäre: Berufsverbot für Betriebswirte!…Und dann ruf ich schnell noch, ehe man mich an den Pranger stellt: Ludwig Erhard hat schon gesagt, die Wirtschaft bestehe zur Hälfte aus Psychologie. Heute, meinen sogar Manager, sei man bei 99 Prozent angelangt. Also müsste sowieso mehr Menschenkenntnis gelehrt und gelernt werden als Finanzmathematik. …

10. Meine Damen und Herren, Sie wissen, es steht nicht in meiner Macht und es gehört nicht zu meinen Vergnügungen, Verbote auszusprechen. Ich möchte nur daran erinnern, dass man in der Bundesrepublik vor rund vierzig bis dreißig Jahren schon einmal ein Berufsverbot praktiziert hat. Für den öffentlichen Dienst, z.B. als Lehrer, wurde nicht zugelassen, wer angeblich oder tatsächlich nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stand, was vor allem für junge Leute galt, die von Marx mehr hielten als von Schumpeter…

11. Kurz nachdem dies skizziert war, stand in einem Kommentar des Tagesspiegel die Formulierung “staatszersetzender Koalitionspartner”, darunter die Sätze: “Noch stehen die meisten Bürger zu diesem Staat. Aber wenn es nicht gelingt, die Zinslast wieder zu verringern, dann wird diese breite Zustimmung früher oder später verschwinden und mit ihr die Stabilität des ganzen Landes.” (12.1.10)…

12. Wenn die Geldmenschen schon nichts lernen aus der Krise, dann ist den Wortmenschen das Lernen ja nicht verboten. “Man darf sich von der Macht der anderen nicht dumm machen lassen,” so zitiert Alexander Kluge Adorno, “und man darf sich durch die eigene Ohnmacht nicht dumm machen lassen.”
Überall da, wo mit der Dummheit gehandelt wird, wo mit Derivaten, Zertifikaten, Blasen, Quotengier, Bestsellergier, kurz, wo mit Leere, mit leeren Versprechungen, gerade auch in der Politik, mit Hohlräumen, mit Nullen oder Null-Informationen oder Nullgeschwätz, wo mit Illusionen und Lügen gehandelt wird, wo Quantität mehr zählt als Qualität, Bildungs-Leistungspunkte mehr zählen als Bildung und Leistung, war Krise oder ist Krise oder wird Krise sein. Und das ist, um es flapsig zu sagen, auch gut so…

Vollständiger Vortrag.

Protestantische Prägung: Interview mit Jean Ziegler, Soziologe und Autor, auf 3sat .

Jean Ziegler Professor der Soziologie war einst Chauffeur Che Guevaras und bekannt mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Er studierte Jura, Soziologie und Politische Wissenschaften an der Sorbonne in Paris, in New York, Genf und Bern.

Ein Interview über seine unterschiedlichen Prägungen und seine menschenrechtliche Position. Zum video.

Bleibend aktuell: UNO mystica. Zum 40. Todestag von Dag Hammarskjöld

von Gotthard Fuchs

Längst ist es an der Tagesordnung, Blauhelme der Vereinten Nationen in politische Krisengebieten der Welt zu schicken – aber kaum jemand weiß noch, wer der Erfinder dieser Friedenstruppen war. Wenn Verbrecher vor das Haager Kriegstribunal geschafft werden, macht sich durchaus Genugtuung breit (auch wenn der amerikanische Wirtschaftsdruck im Hintergrund, wie bei der Auslieferung Milosowitschs, schwere Fragen aufwirft, denn was ist mit den Kriegsverbrechern z.B. im eigenen, im atlantischen Haus?) Kaum einer aber weiß, wer diese Idee einer weltweiten Gerichts- und Rechtsinstanz politisch durchzusetzen anfing. Dag Hammarskjöld, von 1953 bis zu seinem Tod 1961 Generalsekretär der UNO, war umgetrieben von einer kosmopolitischen Weltinnenpolitik: überstaatliches Recht und überstaatliche Macht, und das entschieden im Einsatz für die armen und ärmeren Völker und Menschen. Der Schwede aus adeligem Haus, hochbegabt und international viel erfahren, zuletzt stellvertretender Außenminister seines Landes, ist „ein wahrhafter Weltbürger – mit einer interkulturellen Philosophie“ (143) und Spiritualität, ein Globalprayer. Ihm ging es, im ganzheitlichen Sinn, um das Weltkulturerbe (204), um Frieden und Gerechtigkeit für alle, um eine verbindliche Menschheitsethik. Von Globalisierung ist heute viel die Rede – Globalisierung aber von was?

(aus dem Jahr 2011)

Gehen Sie in der linken Leiste auf Spiritualität/Mystik
und beim folgenden (2.) Fenster auf: UNO mystica. Zum 40. Todestag von Dag Hammerskjöld

Neil Young ruft zum Boykott von Starbucks auf

„Ich habe mich täglich für meinen Latte angestellt, aber gestern war das letzte Mal“, schreibt Neil Young in einem Anti-Starbucks-Aufruf auf seiner Homepage.

In einem ausführlichen Statement stellt sich der Folk-Rock-Musiker gegen die Kaffeehauskette. Grund dafür ist ein Gesetz, das im amerikanischen Staat Vermont erlassen wurde. Dieses besagt, dass alle Produkte, die „genetically modified organisms“, also gentechnisch veränderte Organismen enthalten, ab dem 1. Juli 2016 gekennzeichnet werden müssen.

Starbucks soll sich daraufhin mit Monsanto zusammengeschlossen und Klage gegen den Staat erhoben haben…

Zum Artikel in Musik-Express.

Friedenspreis des deutschen Buchhandels an Jaron Lanier, Artikel und Rede des Preisträgers

Der Internet-Pionier Jaron Lanier ist am Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Hier finden Sie Auszüge aus seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche.

Ich habe immer noch größere Freude an Technologie, als ich ausdrücken kann. Die virtuelle Realität kann Spaß machen und wunderschön sein. Trotzdem stehe ich hier, so kritisch. Denn Widersprüche und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, heißt, die Realität zu vermeiden. (…) Zum Beitrag.

Die Rede von Jaron Lanier finden Sie hier.

BAP-Sänger Wolfgang Niedecken sieht Religionen skeptisch

26.07.2014, Osnabrücker Zeitung

Osnabrück. Wolfgang Niedecken (63), Sänger der Kölner Kultband BAP, ist skeptisch gegenüber Religionen: «Ich finde, mit Religion wird viel Schindluder getrieben. Denken Sie nur an die religiös motivierten Kriege auf der ganzen Welt», sagte er der «Neuen Osnabrücker Zeitung» vom Samstag… Zum Beitrag.

Differenziert legt Wolfgang  Niedecken seine Haltung zu Religion/ kath. Kirche in einem Interview am 25.07.14 in Publik Forum dar. Es kann als ein Kommentar zur Rezension „Theologische Religionskritik“ in dieser Ausgabe der wort-meldungen gelesen werden:

»Barmherzigkeit ist das Allerwichtigste« Bloß keine Korinthenkackerei im Namen Gottes! Das ist seine Leitschnur in Glaubenssachen. Der Musiker Wolfgang Niedecken, Frontmann von BAP, lässt lieber mal Fünfe gerade sein. Und macht aus lauter Liebe ein neues Lied. Peter Otten hat Niedecken besucht und im Interview Überraschendes erfahren… Zum Artikel in Publik Forum.

Zum selben Thema auch ein etwas älteres Interview mit Wolfgang Niedecken aus 2012:

…Sie galten in Köln einst als der Südstadt-Dylan, Ihr großes Idol Bob Dylan, selbst immer wieder auf neuer Sinnsuche, kam oft nach dürren Schaffensphasen mit neuen Ideen auf die Bühne zurück. Sie aber sind sich, in all den Jahren, in all der Zeit, musikalisch weitgehend treu geblieben.

Hatten Sie keine Lust auf derart Ausflüge, zum Beispiel in den Gospel, wie Dylan?

Nein. Ich habe das alles nachvollzogen, was er da gemacht hat. Ich finde auch einiges davon wirklich gelungen, aber einiges ist auch recht bescheiden. Dieses Album „Saved“, das war ein tolles Gospelalbum, ich weiß, aber die Texte berühren mich eher weniger. Wenn jemand so religiös überzeugt ist, dann soll er das ruhig machen. Amerika ist ein freies Land.

Religion ist was ganz, ganz, ganz Wichtiges, ja. Aber ich persönlich habe bei Missionaren immer ein merkwürdiges Gefühl. Sobald mich einer missionieren will, sträubt sich etwas bei mir in den Nackenhaaren. Das geht nicht unbedingt….

Das vollständige Interview (aus 2012).

Fabulierender Jurist mit klarer Prosa: Bernhard Schlink wird 70

6. Juli 2014, NZZ

«Selbs Justiz» hiess sein erstes, damals noch in Koautorschaft mit einem Freund verfasstes belletristisches Werk. Dass ein Jurist seine literarische Karriere mit einem Kriminalroman beginnt, leuchtet ein. Irritieren kann allenfalls, dass der 1944 in Bielefeld geborene, in Heidelberg aufgewachsene Bernhard Schlink kein Strafrechtler ist. Als 1987 der erste Band der Krimi-Trilogie um den Detektiv Gerhard Selb erschien, war der promovierte Verfassungsjurist bereits ein renommierter Rechtsgelehrter, der, philosophisch beschlagen, zu Fragen des Staatsrechts publizierte. Während sein Stern als Schriftsteller stieg, wirkte er als Richter am Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen und als Professor in Berlin. All das liess sich vereinen, erstaunlich mühelos sogar, wie Schlink zugibt: «Vielleicht weil die Wahrheit des Rechts ebenso in Worten und Sätzen liegt wie die Wahrheit von Geschichten und weil die Dinge hier wie dort zu ihrem Ende gebracht werden müssen.»… Zum Artikel.

Seismograf seiner Epoche. Kurt Martis Essays für die Zeitschrift «Reformatio» sind in der Schweizer Literatur einzigartig.

Nicht mehr ganz aktuell, aber bedeutend: 21. Februar 2010, von Manfred Papst

Vor uns liegt ein Buch, das aussieht wie eine Bibel oder ein umfängliches Brevier: 1422 Seiten, Dünndruck, schwarzer Einband, gerundete Ecken, drei Lesebändchen. Es enthält sämtliche «Notizen und Details», die der Berner Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti in den Jahren 1964 bis 2007 für die Zeitschrift «Reformatio» verfasst hat. Die Edition ist ein verlegerisches Wagnis, das man kaum genug loben kann. Denn in jedem dieser über 250 Texte, deren Rubrikentitel auf Ludwig Hohls «Nuancen und Details» anspielt, erweist sich der Autor als unbestechlicher Seismograf seiner Zeit. Jede einzelne dieser Glossen und Betrachtungen, jeder einzelne dieser Essays und Aphorismen ist lesenswert. In ihrer Summe aber bilden sie ein Zeugnis, das in der Schweizer Literatur nach 1945 seinesgleichen nicht hat: 44 Jahre hellwacher Zeitzeugenschaft!

Beeindruckend ist die Vielfalt von Martis Themen: Er spricht von Theologie und Literatur, Philosophie und Ökologie, Politik und Gesellschaft. In seiner ersten Glosse geht es um fromme Schnulzen, Stadtplanung und den windigen Bestsellerautor Paul Carrell; seine letzte handelt von Eventkultur, dem Verhältnis von Glauben und Vernunft und zwei Arten von Fundamentalismus. Marti argumentiert kompetent, aber ohne Allüre. Sein Stil ist glasklar. Er ist aufmerksamer Beobachter und unerschrockener Denker, Aufklärer und Gottesmann zugleich. Zur Rezension in der NZZ.