Man darf staunen: Der Ratsvorsitzende Schneider hat in einer ersten Stellungnahme zur neuesten Mitgliederstudie der EKD festgestellt, man wolle die Ergebnisse dieser Studie ernst nehmen. Was soll das heißen? Macht die EKD Studien und nimmt sie nicht ernst? Hat sie früher solche Studien gemacht und sie nicht beachtet?
Es gibt guten Grund zu vermuten, dass Schneider einen wunden Punkt benennt. Seit vierzig Jahren nämlich zeigen alle Mitgliedschaftsstudien, dass die Verbundenheit der ev. Christen zu ihrer Kirche in der Kirche vor Ort begründet ist. Wichtig sind Gottesdienste, Kasualien und die diakonische Arbeit vor Ort, das sind die Kindertagesstätten, die Diakoniestationen u.v.a.m. Die Begegnung mit dem Pfarrer vor Ort ist eine der entscheidenden Qualitäten, die das Verhältnis zur Kirche und zum Glauben prägen. Professor Pollack, einer der wissenschaftlichen Begleiter der Studie, weist auf diesen Zusammenhang eindrücklich hin: „Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme ist der Glaube jedoch kein von der Institution Kirche isolierter rein individueller Akt. Er bedarf vielmehr der institutionellen Unterstützung, und er verkümmert, wenn ihm die kommunikative Unterstützung durch Interaktionen im Raum der Kirche, durch Kontakte zum Pfarrer, durch den Gottesdienst fehlt. Das haben unsere Analysen, die repräsentativ sind und höchsten sozialwissenschaftlichen Standards genügen, immer wieder gezeigt: Intensive kirchliche Praxis und das Bekenntnis zum Glauben an Gott korrelieren hoch.“
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Jung resümiert entsprechend: „Bricht personale kirchliche »Interaktionspraxis« ab, so sinkt nicht nur das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche, sondern auch die individuelle Religiosität wird abgeschwächt. Man kann also sagen: Auch die als privat reklamierte, unkirchliche Frömmigkeit lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen hat.“ Wie wichtig die personale Begegnung ist, zeigt auch, dass digitale Medien gemäß der Studie nur eine geringe Bedeutung für die Weitergabe des Glaubens haben.
Thies Gundlach, Cheftheologe der EKD, hat es pointiert zusammengefasst: „Kirche – das ist der Pfarrer vor Ort.“ Wenn das gilt, dann müsste die Kirche alles dafür tun, um vor Ort präsent zu bleiben und noch präsenter zu werden. Doch genau das tut sie nicht.
Als die erste Mitgliedschaftsstudie erschien, zog der Initiator der Studie, der damalige hessen-nassauische Kirchenpräsident Hild, klare Konsequenzen. Damals nämlich schon war die Idee aufgekommen, die Kirche vor Ort ließe sich besser und effizienter gestalten, wenn Pfarrer im Teampfarramt arbeiteten, die Kirche über große Institutionen präsent wäre und das Kleinklein der pastoralen Praxis vor Ort durch qualifizierte großflächige Angebote ersetzt würde. Pfarrverbünde und Auflösung der kleinen Parochien waren damals schon gefordert. Hild brach diese Experimente ab. Einer seiner Nachfolger griff sie wieder auf. Seitdem gilt in der EKHN: Alles, was das Kirche vor Ort schadet, ist gut. So wurden die Finanzausstattungen der Gemeinde in den letzten 20 Jahren deutlich zurückgefahren. Gerade darf die Synode der EKHN mal wieder über ein Zuweisungssystem beraten, das vielen kleinen Gemeinden endgültig die Luft zum Atmen nehmen wird. Die sollen sich dann zu größeren Einheiten zusammenschließen. Dafür freilich wird wieder Geld zur Verfügung gestellt werden, solange bis die nächste Fusionsrunde kommt. Das ist geplant und wird zielstrebig umgesetzt: Weniger Geld für die Gemeinde, weniger Pfarrer in den Gemeinden, Loslösung von Kindertagesstätten und Diakoniestationen aus dem gemeindlichen Umfeld in größere angeblich finanziell sinnvollere Einheiten. Bei der Pfarrstellenbemessung etwa hat man konsequenterweise die Kindertagesstätten ausgeklammert, was dazu führt, dass Gemeinden, deren Pfarrstellen deswegen reduziert werden müssen, die Kindertagesstätten an die Kommunen zurückgeben. Die Ergebnisse der Studie, dass über die spätere Kirchenbindung gerade in der Kindheit und Jugendzeit entschieden wird, ist für die Kirchenleitung kein Problem: Die Kirche muss sich gesund schrumpfen.
Angesichts hoher Kirchensteuerüberschüsse in den letzten Jahren in Hessen weist die Kirchenleitung immerhin nicht fälschlich darauf hin, dass die Kirche leider zu arm sei, um noch ihre bisherigen Verpflichtungen wahrnehmen zu können. Für diesmal hat sich die Kirchenleitung noch geschickter verhalten. Sie verhindert, dass junge Menschen zum Theologiestudium ermuntert werden und stellt nach Potentialanalyse und bestandenem Examen viele Vikare gar nicht erst ein. Damit erhöht sie den Druck auf die Gemeinden, sich von ihren Pfarrstellen zu trennen. Bei weniger Pfarrern ist demnächst auch das Inhaberrecht, das bisher mit Pfarrstellen verbunden ist, in Frage gestellt. Anders wird man nämlich die flächendeckende Versorgung nicht mehr aufrecht erhalten können. Damit kappt man die letzten rechtlichen Bindungen eines Pfarrers an seine Gemeinde. Gemeindearbeit wird zunehmend unattraktiv. Auch das liegt im Interesse der Kirchenleitung. Denn die Zukunft der Kirche liegt in der Region – selbst wenn die Mitgliederstudie das Gegenteil zeigt.
Satt dessen steckt die Kirche ihr Geld z. Bsp. in große Immobilien in guter Lage. Jüngst hat sie z.B. ein Studentenwohnheim in Darmstadt erstanden. Es ist keine 10 Jahre her, da war die lang diskutierte und dann beschlossene Konzeption, möglichst wenige solcher Heime zu besitzen. Das Beispiel ließe sich durch viele andere ersetzen, die alle zeigen, wie munter in der Kirche ein Projekt nach dem anderen – wie das berühmte Schweinchen durchs Dorf getrieben wird – Geld spielt im Ernstfall dabei keine Rolle. Auch das gehört zu den Konsequenzen der Mitgliedschaftsstudie: Wenn man sich auf die Kernaufgaben vor Ort konzentrieren würde, bräuchte man viele der kirchenleitenden Funktionäre nicht, die allenthalben neue Konzeptionen entwickeln und umsetzen müssen. Und damit ist auch klar, warum die Kirchenleitungen auch diese Studie nicht ernst zu nehmen werden. Es gibt inzwischen eine erstaunlich mächtige und gut vernetzte Schicht von Kirchenfunktionären und Technokraten, die verhindern werden, dass die Ergebnisse der Studie auch nur im Entferntesten beachtet werden. Das nämlich würde ihre Bedeutung mindern und ihre Macht beschränken.
Schneider hat sich jedenfalls klug verhalten. Sein Hinweis, dass die Studie möglicherweise nicht beachtet wird, nimmt mögliche Kritik vorweg. Schließlich gehört er selbst zu jenen, die beharrlich und erfolgreich an den empirischen Erkenntnissen solcher Studien vorbeigearbeitet haben. cb.