01/2016
Paris und Brüssel im Ausnahmezustand. Die Angriffe und Bedrohungen islamistischer Terroristen zielen ins Herz moderner Gesellschaften und ihrer Werte. Dass es sich dabei immer auch um einen Konflikt zwischen Religion und Moderne handele, hält Ulrich Finckh für vordergründig. Das Problem sind eher die auftretenden Ungleichzeitigkeiten in einer globalen Welt.
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Was in Anlehnung an Huntingtons These von der Konfrontation der Kulturen allmählich als allgemeine Meinung zu gelten scheint, ist zumindest in Deutschland irreführend. Wichtiger scheint mir derzeit die Ungleichzeitigkeit gegenüber weiten Teilen der islamischen Welt. Viel, was uns an Muslimen auffällt, war vor 150 Jahren auch bei uns normal. Hier nur einige Beispiele: Die Frauen, vor allem die auf dem Land, trugen Kopftücher im Sommer wegen der manchmal staubigen Arbeit, im Winter wegen Kälte, Regen und Schnee. Dass über die Ehen, vor allem die der Töchter, die Eltern entschieden, war selbstverständlich. In der Gesellschaft, ganz besonders in Ehe und Familie, hatten die Männer das Sagen. Arbeit von Frauen war Arbeit im Haushalt oder Mitarbeit im Familienbetrieb. Die Großfamilie hatte erheblichen Einfluss auf das individuelle Denken und Tun….
Nüchtern betrachtet muss man feststellen, dass nicht religiöse Gegensätze sondern ganz andere Gründe maßgebend sind. Was hat denn dazu geführt, dass die säkulare Gegenwart so anders gegenüber früheren Zeiten geworden sind, dass es viele Menschen verunsichert oder gar empört und sie Zuflucht bei alten Texten und Traditionen suchen lässt? Soweit ich das beurteilen kann, ist es die veränderte Wirtschafts- und Berufswelt. Die Familienbetriebe, die früher die Gesellschaft vom Fürstenhaus bis zum kleinsten Bauern und Handwerker prägten, sind in Nordamerika und Europa, Japan und Australien sowie den meisten Großstädten weltweit bis auf Restbestände durch Großbetriebe abgelöst worden. Die Änderung beeinflusst das Verhalten und ist ein wichtiger Grund für die Ablehnung der Moderne, insbesondere der westlichen Bildung und Lebensführung von Seiten der Traditionalisten. …
Ein Beispiel für die Schwierigkeiten des Umdenkens: Da die katholische Kirche in der Welt der Familienbetriebe die Ehe als Sakrament verstanden hatte, hat sie nun große Schwierigkeiten, sich mit der veränderten Situation zu arrangieren und sich darauf einzustellen, dass die rein privat gewordene Ehe, die nur auf der unsicheren Basis der Liebe beruht, zerbrechlich ist und aufgelöst werden kann und muss, wenn aus Liebe Verdruss und Gleichgültigkeit wird oder die Liebe gar in Hass umschlägt. Wie schwierig das Umdenken ist, zeigt sich an der merkwürdigen Bewertung, dass ein Seitensprung gebeichtet werden kann und dann keine weiteren Probleme macht, aber eine ordentliche Scheidung und neue Ehe Katholiken von den Sakramenten ausschließt. …
Wo an einer vergangenen Gesellschaftsstruktur hängende Werte bewusst religiös begründet werden, weil das inzwischen die einzige funktionierende Begründung ist, erhält diese eine besondere Bedeutung. Es entsteht ein Fundamentalismus, der die jahrtausendealten Lehren nicht nur wörtlich nimmt, sondern nun bewusst als Glaubensartikel propagiert. Das geschieht, da Glaubensfragen Menschen über das Rationale hinaus bewegen, oft mit unglaublicher Härte und kann bis zu blindwütigem Fanatismus gehen….
Vergiftet werden die Streitereien, wenn sie mit Machtfragen verquickt werden. In vielen Staaten setzen Regierungen Religion als Mittel der eigenen Legitimation ein. Dabei gibt es nicht wenig Heuchelei, wenn etwa Staatspräsidenten nach Paris kommen, um sich an dem Trauerzug nach den Morden an den Karikaturisten von »Charlie Hebdo« zu beteiligen, während sie im eigenen Land jede Kritik blutig verfolgen. Auf der anderen Seite muss man allerdings sagen, dass der »Westen«, der für die Moderne steht, die Auseinandersetzung seit 9/11 auch nicht fair führt. Die Diffamierung der Andersdenkenden in der westlichen Welt ist höchst unerfreulich….
Als Christen brauchen wir eine unserer Zeit entsprechende Darstellung, warum die Botschaft Jesu von mitfühlender Liebe, Frieden, Offenheit, Verständnis und Vergebungsbereitschaft auch für die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse unserer modernen Welt wichtig ist, und vor allem, was sie für unser Leben und Handeln bedeutet. Mit Paulus gefragt, was das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene in unserer Zeit ist. Die dafür notwendige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Fundamentalismus muss den verschiedenen Konfessionen überlassen, aber energisch von ihnen eingefordert werden. Für die evangelischen Kirchen bedeutet das, dass man die Verkündigung, also die Jugendarbeit, den Konfirmandenunterricht, die Predigten und Bibelseminare der Gemeindepfarrer fördern und ausbauen muss, statt nach Leuchttürmen zu suchen und Organisationsfragen im Großen zur Aufgabe zu machen. Nur Gemeinden, die mit der Bibel verständig umgehen können, sind vor Abgleiten in Fundamentalismus und überhebliche Rechthaberei gefeit. Und wo die Religion zum Machterhalt missbraucht wird, muss deutlich gemacht werden, dass nicht die Religion sondern der Machtmissbrauch der Herrschenden das Übel ist. Zum Aufsatz.