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Ein protestantisches Missverständnis: »ecclesia semper reformanda«

01/2017, Dirk Acksteiner, Pfarrer in Sonnefeld, in: Korrespondenzblatt Bayern
„…Gelassenheit und Gottvertrauen Wer heutzutage von einer ecclesia semper reformanda ausgeht, braucht sich eigentlich nicht wundern, wenn gerade die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Kirche früher oder später im Burnout landen. Das kirchliche Handeln wird oft von einer ziellosen Hektik geprägt: Die eine Reform ist noch nicht richtig auf den Weg gebracht, geschweige denn umgesetzt, da kommt schon die nächste. Obendrein sind wir gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausgesetzt, auf die wir keinen Einfluss haben. Zeitgeist und Heiliger Geist müssen mühsam auseinander gehalten werden. Wer unter diesen Bedingungen gut, gerne und wohlbehalten im Pfarramt leben und arbeiten will, sollte zuerst einmal abwarten lernen…“

Mehr dazu, vgl. S.9+10 des Januarheftes

 

Neuerscheinung: Kirche der Reformation? Anfragen an die evangelische Kirche zum Reformationsjubiläum 2017

06/2016, E x p o s é von Prof. Gisela Kittel (Hrsg.), Cover

Dieses Buch möchte die evangelische Kirche in Deutschland an ihre reformatorischen Wurzeln erinnern. Während die mancherlei Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum bei Beobachtern den Eindruck hinterlassen, hier ginge es den das Jubiläum Vorbereitenden vorrangig darum, die Evangelische Kirche nach außen, in der Öffentlichkeit, darzustellen und die Bedeutung des eigenen Erbes für das Heraufkommen der Moderne, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, hervorzuheben, richtet sich der Blick in diesem Buch nach innen. Hier wird die selbstkritische Frage gestellt, wie weit die heutige evangelische Kirche selbst noch von ihrem reformatorischen Erbe geprägt ist und ob sie sich von diesem Erbe in ihren Entscheidungen bestimmen lässt.

Dabei werden die Reform- und Umbauprozesse in den Blick genommen, denen die evangelischen Gemeinden und Kirchenkreise in den letzten 20 Jahren, spätestens aber seit dem Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ 2006, ausgesetzt sind. Erstmals kommen Stimmen der kirchlichen Basis – aus unterschiedlichen Landeskirchen – zu Wort, die beschreiben, was die durchgeführten Strukturreformen jetzt schon an der Basis mancher Gemeinden in ländlichen Gebieten, aber auch in einer Großstadt wie Berlin bewirken und was bei der Durchsetzung dieser Reformen auch in bisher noch nicht so betroffenen kirchlichen Regionen zu erwarten ist. Von einem „Wachsen gegen den Trend“ kann schon lange nicht mehr gesprochen werden. Eher hat sich das Gegenteil eingestellt. Gerade dort, wo Ortsgemeinden dem Druck zu Fusionierungen nachgeben mussten, wo unter dem Stichwort der „Regionalisierung“ Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse auf die regionale Ebene verschoben wurden, wo an die Stelle der früheren Ortskirchenvorstände Kreiskirchenvorstände traten, die das gemeindliche Leben vor Ort organisieren, hatte dies das Schwinden oder gar Erliegen gemeindlicher Aktivitäten vor Ort zur Folge. Auch Zentralgottesdienste, die an Stelle gering besuchter Gottesdienste in Dörfern oder Stadtteilen mal hier, mal dort angeboten werden, bringen nicht mehr Menschen sonntäglich in die Kirche, eher weniger.

Begründet wurde und wird der organisatorische Umbau der Kirche mit den immer wieder hervorgehobenen Sparnotwendigkeiten und der Prognose, dass sich bis zum Jahr 2030 die Zahl der Kirchenmitglieder auf die Hälfte reduzieren würde, somit auch die Kirchensteuereinnahmen um ca ein Drittel schrumpfen. Doch auch diese Rechnungen werden von fachlich versierten Leuten in Frage gestellt. Vornehmlich die Konsequenz, heute schon dringend benötigte Gelder in den Arbeiten an der Basis einzusparen, Kirchengebäude und Pfarrhäuser zu schließen, Pfarrstellen nicht mehr zu besetzen, weil man dies alles in ca 20 Jahren nicht mehr bezahlen kann, setzt eine sich selbst erfüllende Prophetie in Gang, die das Schrumpfen der Kirche verstärkt herbeiführt.

Dem behaupteten Sparzwang sind in den letzten Jahren in überproportionalem Ausmaß Pfarrstellen zum Opfer gefallen und tun dies auch weiterhin. Diese Einsparungen gehen mit der Entwicklung eines neues Pfarrerleitbildes einher, nach dem Pfarrpersonen nicht mehr primär Prediger oder Predigerinnen, Seelsorger oder Seelsorgerinnen in ihren Gemeinden sind, sondern theologische Fachleute, die ehrenamtliche Kräfte schulen. Sie sollen Moderatoren für Kommunikationsprozesse sein, die nun auch besondere zusätzliche Eignungsprüfungen (Assessments) zu bestehen haben.

Angesichts all dieser im Gang befindlichen „Reform“-Prozesse fragt das geplante Buch nach den theologischen Grundlagen.

I. Das theologische Einleitungskapitel erinnert an die Luther und Calvin gemeinsamen reformatorischen Grundentscheidungen: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ (CA VII). Kirche ist also die konkrete Gemeinschaft derer, die sich um Wort und Sakrament versammeln, und nicht eine ferne Institution. Von den Reformatoren wird Gottes Wort verstanden als ein wirkkräftiges, schöpferisches Wort, das den Glauben erweckt und die Kirche schafft. Daher ist das Predigtamt unersetzlich, von Gott selbst gestiftet. Nach evangelischem Verständnis kann die Kirche daher auch nur im Hören auf dieses Wort geleitet werden – von der Gemeinschaft derer, die sich um dieses Wort versammeln. Alle institutionellen, auf Dauer gestellten Funktionen sind Hilfsfunktionen und dienen der Gemeinde. Eine Herrschaft der einen über die anderen kann es in der nach Gottes Wort erneuerten Kirche nicht geben.

II. Das zweite Kapitel hebt die Weichenstellungen des Impulspapiers „Kirche der Freiheit“ hervor. Der Einspruch, im Jahr 2010 formuliert, beschreibt die Vorgaben, nach denen der Reformprozess in Gang gesetzt wurde und weiter voranschreitet.

III A Die neuen kirchlichen Entwicklungen werden im zweiten Kapitel sehr konkret beschrieben. Es enthält Einzelberichte aus einzelnen Landeskirchen, von engagierten Pfarrern, aber auch den Vorsitzenden der Pfarrvereine des Rheinlands, Niedersachsens, der Nordkirche und dem Vorsitzenden des Gemeindebundes der EKBO (Evangelische Landeskirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz) verfasst. Unter den Stichworten „Ökonomisierung“, „Regionalisierung“, „Pfarrstellenabbau“, „Herrschaft von Menschen über Menschen“ wird berichtet, was sich nicht nur in diesen Kirchen entwickelt hat. Hier wird ein allgemeinerer Trend sichtbar, der auch die nicht genannten Landeskirchen berührt. Zu Willkür und Herrschaftsanmaßungen lädt insbesondere auch das inzwischen in alle Landeskirchen übernommene Pfarrdienstgesetz der EKD ein. Es macht in seinen Versetzungsparagrafen Pfarrer und Pfarrerinnen buchstäblich zum Freiwild ihnen missgünstig gesonnener einzelner Kirchenältester und Superintendenten. Ein paar aktuelle Beispiele sind aufgenommen.

III B Die theologischen Anfragen offenbaren einen Kontrast. Fragen, die hier gestellt werden, sind die nach Wesen und Gestalt der Kirche, ihrer Rolle in der Gesellschaft, ihrem Auftrag. Ist es die Aufgabe der Kirche, sich der Gesellschaft zu integrieren, ihre Prozesse zu kopieren und sich ihr gleich zu gestalten in der Hoffnung auf Akzeptanz und allgemeine Anerkennung? Muss sie nicht, geleitet durch Gottes Wort, wohl in der Gesellschaft leben, aber doch im kritischen Gegenüber zu ihr? Das viel zitierte Wort von der „ecclesia semper reformanda“ meint ja nicht die Kirche, die sich ständig der Welt anpasst, sondern jene, die sich nach Röm 12,2 auch in allen Umbruchsituationen immer wieder neu zu Jesus Christus zurückwenden, also „re-formieren“, lässt.

IV Das vorliegende Buch ist unter das Motto der ersten Ablassthese Martin Luthers aus dem Jahr 1517 gestellt. Damit erinnert es bewusst an das Datum, welches den Anlass zur Jubiläumsfeier im Jahr 2017 gibt. Mit Bezug auf die 1. These betont es die Notwendigkeit der Umkehr, der Buße.

Eine solche Umkehr hatte bereits im Jahr 1999 ein bayerischer Initiativkreis „Kirche in der Wettbewerbsgesellschaft“ gefordert. Dieser theologische Ruf zur Erneuerung wird hier noch einmal abgedruckt, da er heute noch brisanter und aktueller erscheint als vor sechszehn Jahren. Mit einem Ausblick „Schritte in eine andere Richtung“ endet das Buch. Während das „Wormser Wort“, formuliert im Umfeld des Pfarrertags in Worms im Herbst 2014, zum Innehalten aufruft, während es dringend nach einem Moratorium verlangt, „um den aktuellen Status schonungslos offen zu legen und zur Besinnung zu kommen“, versucht dieses Buch im Ausblick zu formulieren, welche Schritte in eine andere Richtung heute nötig sind.

Adressaten
Die Adressaten des Buches sind die Pfarrerschaft der evangelischen Landeskirchen, die Synodalen der EKD-Synode wie auch der Landes- und Kreissynoden, Presbyter, Mitglieder kritischer kirchlicher Gruppen wie „Gemeindebund“, „Kirche im Aufbruch“, „Gemeinde im Aufwind“, „D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V.“ und andere Initiativen, sowie engagierte Gemeindeglieder.

Aus Anlass des 10 Jahrestages wieder gelesen zum Thema Umbauprozess „Kirche der Freiheit“: Angst und Ausblendung. Begann mit dem Papier „Kirche der Freiheit“ ein Irrweg? Von Dr. Dieter Becker

06/2016

Die Publikation von „Kirche der Freiheit“ jährt sich zum 10. mal. Das ist Anlass, in den Wort-Meldungen frühere Artikel noch einmal neu aus der zeitlichen Entfernung zu lesen. Denn manches versteht man im Nachhinein und im Abstand besser.

Begann mit dem Papier „Kirche der Freiheit“ ein Irrweg?

Zu erinnern ist daran, dass das „Kirche-der-Freiheit-Papier“ und der Reformprozess nachhaltig vom  „Arbeitskreis Ev. Unternehmer“ AEU beeinflusst wurde. Der AEU… hatte sich um die Jahrtausendwende eine neue strategische Zielbestimmung gegeben,  … sollte nun eine aktive Beteiligung in den Kirchengremien erfolgen. Als Theologe, Betriebswirt und Mitglied des AEU seit Mitte der 90iger Jahre begrüßte ich diesen strategischen Wechsel. Doch inzwischen ist bei mir der Verdacht entstanden,  dass das AEU- Engagement in Verbindung mit gleichgesinnten EKD-Kräften einer Art von kirchlichem Reformbürokratismmus Vorschub geleistet hat, der für die Kirche eine einzige, alternativlose und zentral gesteuerte Lösung zu etablieren sucht… Dabei scheint mir mit Angstszenarien und systematischer Ausschaltung kritischer Stimmen gearbeitet zu werden…

Der vollständige Text aus „Zeitzeichen“ 2012.

Presbyter Klaus Vitt an die Schwestern und Brüder im Synodalvorstand: „Was braucht die Gemeinde in unseren Ortschaften denn wirklich? Was will und können die für Seelsorgedienst und Predigtamt Tätigen bei 3000 – 3500 Gemeindeglieder noch leisten…?

11.Januar 2016

Liebe Schwestern und Brüder des Synodalvorstandes,

Ob in unserer Kirche Geld auf die Jahre genug vorhanden ist, da habe ich keine Sorge. Wir haben jetzt mindestens seit 2004/5 ständig um die große Sorge Geld gesprochen. In all den Jahren hat es bis zum heutigen Tag – auch nach Worten des Vizepräsidenten Klaus Winterhoff – immer einen dankenswerten guten Erfolg der Finanzen durch die positive Kirchensteuerentwicklung gegeben.

Dennoch glaube ich, sind wir nicht auf einem guten Weg.

„Kirche der Freiheit“, ein Schriftstück von über 100 Seiten, wurde 2006 von der EKD als Reformprogramm eingeführt. Was bedeutet denn da Freiheit? Ich habe etliches darin gelesen. Diese Schrift handelt von einem tief greifenden Umbau. Und dieser Umbau ist mit dem christlichsten Vokabular bereichert. Man verspürt, dass für die Zukunft unserer evangelischen Kirche eine zunehmende Hierarchie, eine wachsende Zentralisierung, dadurch eine verstärkte Bürokratisierung und eine Ökonomie gewollt sind, die sich komplett den Wirtschaftsunternehmen anpasst.

Das kann nicht unsere Aufgabe, Kirche zu sein, bedeuten. Die Kernaufgabe geht verloren. Wie viel Zeit wurde schon und wird seit Einführung dieses Jahrhundertprojektes für Doppik/NKF (Neues kirchliches Finanzsystem), Fusionen auf allen Ebenen, Kompetenzverlagerungen und der Zentralisierung benötigt. Dafür werden zusätzlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebraucht, die das alles umsetzen müssen. Presbyterien und Synoden sind für dies Projekt stetig in Gesprächen. Gemeinden wissen nur wenig darüber und fühlen sich vernachlässigt. Sie fragen sich auch, was das alles soll. Ist da die Zukunft unserer Kirche zu finden? Was ist zu tun? Wer weiß denn bei allem Planen, wie es im Papier „Kirche der Freiheit“ prognostiziert wird, was wirklich eintritt. Zunächst wird viel Geld für die Umsetzung verbraucht und nicht gering einzuschätzen die Spannung bis hin zur Verärgerung in den Gemeinden.

Jakobus schreibt in seinem Brief diesen Hinweis, nachdem er die Pläne der Menschen für heute oder morgen schon in Zweifel gezogen hat: „So Gott will und wir leben, wollen wir dies oder das tun.“ Die Kirche kann aber schon auf zwanzig Jahre planen. Für mich sehr erstaunlich! Obwohl bis heute ihre Prognosen nicht eingetreten sind.

Was braucht die Gemeinde in unseren Ortschaften denn wirklich?
Was will und können die für Seelsorgedienst und Predigtamt Tätigen bei 3000 – 3500 Gemeindeglieder noch leisten. Was für einen Dienstplan kann man noch von ihnen abverlangen?

Das verstehe ich als Aufgabe der Kirche:
Die Gemeinde braucht Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Zeit und Kraft haben, ihren Gemeindegliedern die großartige Botschaft Jesus Christus zu bieten.
Von unten muss die Gemeindearbeit mit Seelsorgern/Innen so gestaltet werden, das Glaube und Gehorsam mit der Botschaft des Evangeliums den Gliedern unserer Gemeinde verkündigt und gelebt wird. Die Liebe Jesu, der sich zum Sünder neigt und seine begnadigende Botschaft bietet, das gilt es zu bezeugen.

Dazu gehört der Besuch der älteren Gemeindeglieder, die nicht mehr zum Gottesdienst kommen können.

Dazu gehört, dass in den Hauptkirchen jeden Sonntag Gottesdienste angeboten werden und dass in Sonderheit auch in den abseits liegenden Ortschaften die Gelegenheit zumindest einmal im Monat die Gemeinschaft unter Gottes Wort geboten wird.
Dazu gehört vor allem auch die Wertschätzung unserer Pfarrer. Und das muss spürbar werden, indem einer Überbeanspruchung nicht weiter Vorschub geleistet wird.
Wenn immer mehr Pfarrstellen – von der Landessynode beschlossen – in den Gemeinden abgebaut werden, also kein Ersatz nach der Pensionierung erfolgt, kann ich mir vorstellen, dass noch mehr Mitglieder in den Gemeinden sich von unserer Kirche trennen. Was soll man in einer Gemeinde, wo der Hirte keine Zeit mehr hat und nur mehr das Dringendste leisten kann. Wobei sich die Frage stellt, was denn nun das Dringendste ist?
Was ist das für ein Zustand, wenn in Kirchen nur noch alle 14 Tage ein Gottesdienst geboten wird. Damit sagt man Gliedern der Gemeinde, dass die gottesdienstliche Gemeinschaft unter dem Wort nicht unbedingt nötig sei, geschweige denn gefordert wird.

Sicher, man kann die Gemeinde ermuntern, die Gottesdienstangebote im Fernsehbereich zu nutzen. Das wird ja auch heute von vielen genutzt. Dann kann man Gebäude und Kirchen in den Ruhestand stellen oder zum Verkauf anbieten.
Aber das ist nicht die Lösung. Die Apostel hatten reiche Treffen mit ihrer Gemeinde und hatten so Gemeinschaft im Namen Jesu.
Ich freue mich über die Gemeinden, die noch eine Vision haben, ein Gemeindehaus zu erweitern oder einen neuen Gottesdienstraum zu bauen, weil die vorhandenen Gebäude nicht ausreichen.
Auf einem solchen Weg sind wir nicht mehr. Die Sorge um unseren Reichtum lähmt die geistliche und seelsorgerliche Arbeit in den Gemeinden.

Es hört und liest sich in den Medien erschreckend an, wenn Kirchen und Gemeindehäuser, die unter großer Opferbereitschaft und Eigenleistung erstellt wurden, heute für einen „ Apfel und Ei“ auf dem freien Markt feilgeboten werden.
Das fördert noch die in unserer Kirche schon weit verbreitete Neigung, dem Gottesdienst fernzubleiben, und bei den Verantwortlichen den verständlichen Trend, sich bei der Vorbereitung und Durchführung nur auf einige Unentwegte einzustellen, also den Gottesdienst als Mitte der christlichen Gemeinde nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Ganz zu schweigen davon, dass in unserer Kirche kaum noch zum eigenständigen Lesen und Verstehen der Heiligen Schrift angeleitet und anhand von Bibel und Bekenntnis gefragt wird, worauf es im christlichen Glauben und Leben doch ankommt. Der Heidelberger Katechismus weißt auf diese wertvolle Aufgabe in Fragen und Antworten 54 + 55 hin. Dies gehört jedoch zu den ureigensten Aufgaben der zur öffentlichen Verkündigung Berufenen und entsprechend ausgebildeten Pfarrerinnen und Pfarrer, was bei einem Schlüssel von 3500 pro Pfarrstelle aber kaum realisierbar ist. Es fehlt schlicht die Zeit.

Mir macht der jetzt eingeschlagene Weg unserer Landeskirche, der mit aller Gewalt „durchgepeitscht“ werden muss, mehr als große Bedenken und Sorgen. Darum erhebe ich meine Stimme mit diesem Schreiben, weil ich spüre, warnende andere Meinungen prallen in der Synode, als wenn man sie nicht gehört hätte, einfach so ab.
Werden wir uns bewusst, Gemeinde– und Synodalarbeit besteht nicht aus der Gehorsamsleistung gegenüber der Landeskirche, wie erhalte und vermehre ich mein Vermögen. Die Kernbotschaft, was unsere Kirche ausmacht und was ihre Aufgabe ist, muss wieder im Mittelpunkt stehen.

Und das wünsche ich mir und gehe davon aus, in diesem Wunsch haben wir Einigkeit.

Darum gilt es neu aufzuarbeiten, was ist wirklich nötig und was ist überzogen.

In brüderlicher Verbundenheit und Gottes Segen und Geleit für 2016

Ihr Klaus Vitt

Am Oberrain 11
57271 Hilchenbach

Kirchenpräsident Jung/EKHN: Parole „Wachsen gegen den Trend“ hat viel Druck gemacht und keinen Nutzen gebracht. Und: „Niemand wagt heute mehr eine Finanzprognose“

08/2015

„Die Parole „Wachsen gegen den Trend“ habe viel Druck gemacht und keinen Nutzen gebracht.“ Von Pollack zitiert er: „Weil ihr als Evangelische Kirche so gut und flexibel arbeitet hab ihr noch die Stärke, die ihr jetzt habt. In den Niederlanden gibt es keine Volkskirche mehr…“

Jung distanziert sich vom Impulspapier „Kirche der Freiheit“ und der darin enthaltenen „einfachen Formel“ wonach in einem gegebenen Jahr 2030 die Mitgliederzahl und Finanzkraft der Kirche sinken würden: „Niemand wagt heute mehr eine Finanzprognose. Die tatsächliche Entwicklung der Finanzkraft hat sich zum Glück nicht so bestätigt wie prognostiziert. Die Finanzkraft sei nicht nur von der Mitgliederzahl abhängig. Bei guter wirtschaftlicher Situation verzeichnet die ev. Kirche auch bei Mitgliederschwund hohe Einnahmen.“

Meine KP Jung in einem Vortrag vor der Dekanatssynode Darmstadt-Stadt am 12.06.15.

Anm. F.S.: Die geistliche Leitung glaube also nicht mehr an Finanzprognosen. Die Aussage mag für einige des Personenkreises zutreffen. Sie stimmt aber sicher nicht durchgängig. Erst im Juli hörte ich den Vortrag eines Personaldezernenten, dessen Präsentationsfolien noch völlig unberührt von derartigen neuen Erkenntnissen das Reformcredo der Finanzprognose repetierte. Und ob EKD Finanzchef Thomas Begrich seine Prognose-Charts, mit denen er jahrelang Kirchenversammlungen und Reformzirkel belehrte, in den Ordner „Museum Kirchenreform“ ablegt, sei auch noch dahingestellt. Die Formel ist leider so einfach, dass sie in jedes Hirn hineinpasste. Und über mehr als ein Jahrzehnt hin litaneiartig bei jeder möglichen oder unmöglichen Gelegenheit als Frohbotschaft verkündet wurde. Sie wird also noch lange in den Köpfen kirchendepressionsfördernd wirken.

Wichtiger als schnell aus der Depression herauszukommen, ist aber zunächst mal eine klare Analyse. Erkannt wurde von einigen: die Finanzprognosen sind empirisch nicht zutreffend. Das ist aber gar nicht die entscheidende Frage! Die entscheidende Frage, das entscheidende Problem liegt doch darin, dass man darauf, auf Prognosen also,  eine Managementstrategie aufgebaut hat.  Ein solches Managementkonzept wäre auch falsch, wenn die Prognosen eingetroffen wären! Wir erinnern noch einmal die einfache Formel: im Jahr 2030 sind wir Evangelischen viel kleiner (noch 70% Mitglieder). Managementkonzept:  bauen wir doch schon mal heute das Personal entsprechend ab, reduzieren wir doch schon mal heute die Kirchen, Gemeindehäuser, Pfarrhäuser, Kindergärten, Tagungshäuser etc. . Konzentrieren uns auf Kernkompetenzen und Strukturreformen (Peter Barrenstein, McKinsey).  Übertragen auf ein Unternehmen wie VW würde das heißen: auf die (fiktive) Prognose, dass im Jahr 2030 das Absatz des Golf um 30% zurückgeht, hätte VW- Chef Winterkorn schon 2010/2005 angefangen, die Produktionsstätten des Golf drastisch abzubauen. Was wäre daraufhin bei VW  passiert?  Winterkorn hätte seinen Hut nehmen müssen, und zwar sofort. In der Kirche läuft das anders… Verantwortung? War da was…? Die Verantwortlichen gehen eh bald in Ruhestand…

Die alte, einfache, zu einfache Strategie auf der Basis der Prognosen ist also empirisch durch die Kirchensteuerentwicklung falsifiziert. Was aber fehlt ist eine der evangelischen Tradition, der evangelischen Kultur wie auch den Anforderungen der heutigen Zeit (digitale Welt) angemessene Kirchenstrategie. Man darf gespannt sein, wie lange es braucht, bis eine solche entwickelt sein wird. Erst mal sind wir ja mit dem Reformationsjubiläum beschäftigt. Danach…?