Archiv für den Monat: Dezember 2014

Verrat an der Aufklärung. Prof. Dieter-Jürgen Löwisch und Petra Hitze zum BVG Urteil zum Arbeitsrecht der Kirchen.

Leserbrief von Prof. Dieter-Jürgen Löwisch und Petra Hitze, Düsseldorf in der SZ, 03.12.14 zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitsrecht der Kirchen.

Der Leserbrief bezieht sich auf die Artikel „Kirchen dürfen leichter kündigen“ und „Noch mal gewonnen“ vom 21. November in der SZ:

Was in Karlsruhe entschieden worden ist, ist für den geistesgeschichtlich Interessierten – trotz und gerade auch wegen Reichskonkordat und Landeskonkordat – ein Verrat an den Ergebnissen der weltwirksamen Aufklärungsepoche und zugleich eine Missbilligung der Menschenrechte. Es ist bekannt, dass formalrechtliche Entscheidungen nicht nur juristische Differenzen beenden, sondern dass auch der Jurist dabei ohne Moral auskommt. Und so heißt es auch konsequenterweise bei Matthias Drobinski, dass es in Karlsruhe ein erwartbarer Sieg für die Kirche war. Erwartbar, weil gegenwärtig Justiz wie Politik ihre jeweiligen Geschäfte mehr pragmatistisch verwalten statt innovativ inhaltlich gestalten. In diesem Fall wurden daher gegenseitige Rechtstitel auf pragmatisch formale Weise abgewogen, wobei es zu inhaltlichen Schieflagen kommen musste…. Zum Leserbrief.

Erstes Treffen von Konfessionsfreien und Verfassungsrichtern in Karlsruhe.

25.11.14, Säkulare beim Bundesverfassungsgericht

KARLSRUHE. (hpd) Am Montagnachmittag fand im Bundes­verfassungs­gericht in Karlsruhe das erste offizielle Treffen zwischen Verfassungs­richtern und Vertretern säkularer Verbände statt. Das Gespräch, das bereits vor Monaten in die Wege geleitet wurde, erhielt durch den aktuellen Beschluss des Gerichts zum kirchlichen Arbeits­recht zusätz­liche Brisanz.

In der Vergangen­heit haben sich die Karlsruher Verfassungs­richter immer wieder mit Vertretern der Religions­gemeinschaften, insbe­sondere der beiden christlichen Groß­kirchen, getroffen, um mit ihnen über Fragen des Religions­verfassungs­rechts zu diskutieren. Am Montag­nachmittag kam es erstmals zu einem Gespräch mit Repräsentanten der knapp 30 Millionen Menschen, die keiner Religions­gemeinschaft angehören…. Mehr dazu.

Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Lektüretipp von Heidemarie Wieczorek-Zeul:

Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, Piper 2013 –

Dieses Buch hat mich besonders berührt. Es zeichnet das Wirken des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer nach, der den Auschwitz-Prozess erstritten und in Frankfurt am Main von 1963 bis 1965 durchgeführt hat. Fritz Bauer war einer der wirkmächtigsten Juristen. ..

Niemand konnte sich mehr mit seinen Verbrechen während der Nazi-Barbarei auf angeblich geltendes Recht berufen. Vor Gericht wurde unmissverständlich klargestellt, dass diese Verbrechen im Sinne des überpositiven Rechtes Unrecht waren. Die zentralen Passagen in Steinkes Buch sind natürlich die, die sich auf den Auschwitz-Prozess beziehen… Zur Quelle.

„Im Labyrinth des Schweigens“. Ein Film schildert die Vorgeschichte des Auschwitzprozesses. Von Ludwig Greven

5. November 2014. Ein Staatsanwalt wehrt sich gegen das Vergessen: Der Film „Im Labyrinth des Schweigens“ schildert die Vorgeschichte des Auschwitzprozesses. von Ludwig Greven/ DIE ZEIT.

Kann man sich noch eine Zeit vorstellen, in der Auschwitz nicht jedem eingebrannt war als Inbegriff des Bösen und unentrinnbarer deutscher Schuld? Es gab diese Zeit, sie reichte bis in die 1960er Jahre. Es war die scheinbar unbeschwerte Ära des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, von Petticoat, Nierentisch und fröhlicher Schlagermusik. Die Deutschen arbeiteten, feierten, konsumierten, als gäbe es kein Gestern, und sie bemühten sich mit aller Kraft, den Krieg, die Nazi-Zeit und ihre eigene Mitverantwortung für die NS-Verbrechen zu verdrängen.

Dann aber stieß der Frankfurter Journalist Thomas Gnielka 1958 auf Dokumente mit den Namen von KZ-Wachleuten. Fünf Jahre später begann der Frankfurter Auschwitzprozess, der größte und wohl wichtigste Prozess der bundesdeutschen Geschichte. Und ein Wendepunkt in der Aufarbeitung des Holocaust.
Anzeige

Kann man darüber und über die dramatische Vorgeschichte des Prozesses einen Spielfilm drehen, der dazu noch unterhält und nicht als bleischwere Geschichtsstunde daher kommt? Der Regisseur Giulio Ricciarelli und die Produzenten Uli Putz und Jakob Claussen haben es mit Im Labyrinth des Schweigens getan…  Mehr dazu.

Warum wir tun, was wir tun. Theologische Überlegungen zur Kirchenasylarbeit. Von Konrad Raiser

Vortrag bei der Konferenz der Ökum. AG Asyl in der Kirche am 9. Oktober 2010 in Berlin

…Daher ist es wichtig, dass sich die Kirchen verstärkt auf ihren prophetischen Auftrag besinnen, wie z.B. durch den Aufruf der Konferenz Europäischer Kirchen, den Weltflüchtlingstag am 20. Juni zu begehen als einen Tag des Gebets und Gedenkens an die Flüchtlinge und Migranten, die an den Außengrenzen Europas ums Leben gekommen sind bei dem Versuch, in Europa ein menschenwürdiges Leben zu finden. Unsere Konferenz findet im Anschluss an die seit 30 Jahren in Deutschland begangene „Interkulturelle Woche“ und den „Tag des Flüchtlings“ am 1. Oktober statt und das gemeinsame Wort der höchsten Repräsentanten der drei christlichen Kirchen in Deutschland hat Regierung und Öffentlichkeit deutlich an unsere Verantwortung gegenüber Flüchtlingen und Migranten erinnert. Der Vorschlag, die Charta von Groningen aus dem Jahr 1988 mit einer neuen Charta der „Sanctuary Bewegung in Europa“ weiter zu entwickeln und an die veränderten Bedingungen der Flüchtlings- und Asylarbeit heute anzupassen, kommt daher zur rechten Zeit und wird hoffentlich der Kirchenasylarbeit in Europa durch stärkere Vernetzung neue Impulse geben. Die Selbstverpflichtung des „new sanctuary movement“ in den USA und die im Entwurf der Charta enthaltenen Verpflichtungen sind nahezu identisch und zeugen von einer breiten ökumenischen Basis für die Zusammenarbeit mit dem Ziel, Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten durch die Verteidigung ihrer grundlegenden Rechte Schutz und zugleich Gastfreundschaft zu gewähren. … Der vollständige Text.

 

Charta der neuen „Sanctuary-Bewegung“ in Europa

Weil wir Fremde willkommen heißen wollen, haben wir diese Charta der neuen „Sanctuary-Bewegung“ in Europa beschlossen.

Die Lage der Migranten und Migrantinnen, die in Europa Aufnahme und Schutz suchen, ist alarmierend. Unser Kontinent hat sich zu einer Festung entwickelt, mit der Menschen abgewehrt werden, die vor politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung, vor Krieg oder Bürgerkrieg, vor Umweltzerstörung, Hunger oder Armut fliehen. Durch Militarisierung der Außengrenzen, nahezu unerfüllbare Auf- nahmebedingungen und abschreckende Lebensbedingungen im Inneren wird die Abwehr von Flüchtlingen fortwährend perfektioniert. Viele tausend Menschen hat bereits der Versuch, bei uns Schutz zu finden, das Leben gekostet. In unseren Gesellschaften aber begegnen Meldungen über Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, in Containerlastwagen ersticken oder sich in Abschiebehaftanstalten das Leben nehmen, dem „Fluch der Gleichgültigkeit“ (Hannah Arendt)…   Zum vollständigen Text.

Grundrechte nur für Deutsche? Wie Flüchtlinge systematisch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden. Von Prof. Dr. Wolf-Dieter Just

… Wenn in Libyen Menschen gegen Gaddafi aufstehen, steigt an der Tankstelle um die Ecke der Spritpreis rasant an! Wir alle wissen: Zentrale Probleme der Menschheit wie Armut und Ernährung, Klimaschutz und Friedenssicherung, können nur noch auf globaler Ebene gelöst werden, durch gemeinsame Initiativen aller Staaten, durch Zusammenarbeit im „Geiste der Brüderlichkeit“. Zu diesen globalen Herausforderungen gehört aber auch das Weltflüchtlingsproblem. Wie kleinlich wirkt da das gegenwärtige Geschachere in der EU um Flüchtlinge aus Tunesien, Ägypten und bald Libyen – wie ein Land dem anderen vorrechnet, wie viele Flüchtlinge man schon aufgenommen hat, im Gegensatz zum Nachbarn. In Lampedusa sind 6.000 Flüchtlinge angekommen. Ägypten und Tunesien haben derzeit 180000 Flüchtlinge aus Libyen zu verkraften! Wer spricht darüber? – Derzeit liegt Deutschland im Europäischen Vergleich an 18. Stelle bei den Asylbewerberzugängen (0,3 % Antragsteller pro 1.000 Einwohner) – weit hinter den süd- und nordeuropäischen Ländern, aber auch hinter Frankreich und GB. Anstatt zu jubeln, dass in der arabischen Welt heute unsere Werte von Demokratie und Menschenrechten zu historischen Umwälzungen führen, ist man nur besorgt: Was bedeuten diese Veränderungen für unsere Versorgung mit Öl? Wer wird uns künftig die Flüchtlinge vom Hals halten,wenn Gaddafi weg ist? Ungenierter als bisher ertönt der Ruf nach mehr Frontex, mehr militärischer Abwehr von Flüchtlingen und mehr „Festung Europa“. Offenbar geht es uns weniger um unsere Werte von Demokratie und Menschenrechten, sondern nur um die Wohlstandssicherung um fast jeden Preis.
2. Die „Festung Europa“ (Folie
Was ist eigentlich mit der Rede von der „Festung Europa“ gemeint? Dahinter stecken drei unterschiedliche Strategien der Flüchtlingsabwehr.
1.
Zum einen wird die illegale Zuwanderung an den Außengrenzen der EU bekämpft – u.z. mit bewaffneten Grenzschützern der Nationalstaaten und mit „Frontex“, der europäischen Agentur zum Schutz der Außengrenzen, ausgerüstet mit Hubschraubern, Flugzeugen, Kriegsschiffen, Satelliten gestützter Luftaufklärung, modernster Wärmebild-Technik etc. Besonders bedenklich: Die Operationen von Frontext unterliegen keiner parlamentarischen Kontrolle, die Verantwortlichkeiten – gerade auch im Blick auf Menschenrechte – liegen in einer Grauzone.
2.
Wirksamer noch als Grenzzäune und Frontex sind allerdings die Zäune aus Paragraphen, mit denen illegale Einwanderung abgewehrt wird. Das Asylrecht wurde in den letzten Jahren EU-weit immer stärker eingeschränkt – einmal durch eine enge Definition des Begriffs der „politischen Verfolgung“; zum anderen durch Blockaden des Zugangs zu einem Asylverfahren: dazu gehören insbesondere Drittstaatenregelungen, das Konzept sogenannter „sicherer Herkunftsländer“, die Dublin II –Regelung (s.u.) und der Visumzwang. Die Einschränkungen des Asylrechts in Deutschland durch den sog. Asylkompromiss von 93 wurden weithin „europäisiert“. Auch in der EU wird nun formal am Asylrecht festgehalten, seine Inanspruchnahme aber nahezu unmöglich gemacht. Nach der Dublin II-Verordnung ist jeweils nur ein Staat für das Asylverfahren eines Flüchtlings zuständig – in der Regel der Staat, über den der Flüchtling zuerst in die EU eingereist ist – was zu einer Überforderung der Staaten an den südlichen und östlichen Außengrenzen führt und diese veranlasst, immer rigoroser gegen Flüchtlinge vorzugehen. Katastrophal ist die Lage derzeit in Griechenland, so dass entgegen der Dublin II-Verordnung der Bundesinnenminister sich gezwungen sah, einen einjähriger Abschiebestopp zu erlassen.
3. Eine dritte Strategie der Flüchtlingsabwehr besteht in abschreckenden Lebensbedingungen für die Flüchtlinge, die sich in Europa bereits aufhalten – in Deutschland z.B. durch Lagerunterbringung, Arbeitsverbote, Einschränkungen der Freizügigkeit (Residenzpflicht), das Asylbewerberleistungsgesetz, das Leistungen weit unter Sozialhilfeniveau (ca. 1/3 weniger) vorsieht, die zudem vorrangig in Sachleistungen anstatt Bargeld gewährt werden sollen. Außerdem wird Krankenhilfe nur noch „zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ geleistet (AsylbLG § 4). Das soll sich in d in den Herkunftsregionen herumsprechen und jeden Anreiz zur Flucht im Keim ersticken. Zum Text des Vortrags.

25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention und die Frage: von welchen Ländern kann Deutschland lernen?

Fünf Fragen an die SPD-Kinderbeauftragte Susann Rüthrich

Am 20. November 1989 verabschiedete die UN-Generalversammlung die UN-Kinderrechtskonvention. Demnächst feiert sie also 25-jähriges Jubiläum. Haben wir Grund zum Feiern?


Von welchen Ländern können und müssen wir in Deutschland lernen, um Kinderrechte langfristig stärker zu etablieren?

Die Umsetzung der Kinderrechte in Schweden beeindruckt mich immer wieder. Hier haben Kinder und Jugendliche nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf lokaler Ebene die Möglichkeit, sich an unabhängige Kinderbeauftragte und Ombudsstellen zu wenden. Auch der Einfluss des nationalen Kinderbeauftragten auf Regierungsvorhaben dient mir als Vorbild… Zum Wortlaut des Interviews.

National Center on Familiy Homelessness zu Kinderarmut in den USA

Washington – In den USA sind fast 2,5 Millionen Kinder obdachlos. Die Zahl der Minderjährigen ohne eigene Wohnung ist damit so hoch wie nie zuvor, wie aus einem Bericht des National Center on Family Homelessness hervorgeht. Gründe dafür sind demnach die hohe Armutsquote, zu wenig bezahlbarer Wohnraum und die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Weitere Faktoren seien die Herkunft der Kinder sowie alleinerziehender Mütter oder Väter.

„Ohne entschlossenes Handeln und die Bereitstellung ausreichender Mittel wird die Nation daran scheitern, das Regierungsziel von einem Ende der Familien-Obdachlosigkeit bis 2020 zu erreichen“, schreiben die Autoren der Studie. Sie warnen vor einem „dauerhaften Dritte-Welt-Amerika“.
Statistisch gesehen hat der Untersuchung zufolge jedes 30. Kind in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr kein Zuhause gehabt. Landesweit sei die Zahl der Betroffenen im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozentpunkte gestiegen, heißt es zudem. Zur Quelle.

Poet und Revolutionär. Der fast 90-jährige nicaraguanische Theologe und Schriftsteller Ernesto Cardenal ist auf Deutschlandtournee

23.11.2014, Bayer. Sonntagsblatt

Er sucht das Paradies nicht im Jenseits, seine Verse sind politisch: Der nicaraguanische Theologe und Schriftsteller Ernesto Cardenal hat in Bremen kurz vor seinem 90. Geburtstag eine Konzertlesereihe gestartet. Widerständig und mit scharfem Geist. Mehr dazu.

Prof. Olivier Roy, Heilige Einfalt: Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen.

Olivier Roy, französischer Protestant, Jahrgang 1949, lehrt am European University Institute in Fiesole. Sein Buch „Heilige Einfalt: Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“ gilt als Pflichtlektüre. Es liefert eine von der Meinung vieler Medien abweichende Erklärung über die Entstehung von Dschihadismus und Fundamentalismus. Bericht und Leseproben.

29.11.14, Bericht über einen Artikel der SZ in pro:

Beim Dschihadismus geht es nicht um Islam, sagt der Orientalist Oliver Roy. Den Zulauf zu Terrororganisationen wie zum IS bezeichnet er außerdem als Jugendbewegung und er ist für ihn ein Zeichen, dass Integration funktioniert.

Fundamentalismus entstehe, wenn eine Religion aus ihrer Kultur herausgelöst werde. Religion und Gesellschaft könnten sich dann nicht mehr gegenseitig formen und korrigieren, sagte Roy im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Der Orientalist erforscht am European University Institute im italienischen Fiesole die Ursprünge des Fundamentalismus. Er selbst ist Protestant. In seinem Buch „Heilige Einfalt“ erklärt er seine Idee, dass Kultur und Religion sich gegenseitig beeinflussen müssten, um gut zu funktionieren. Nur so bekomme n Fundamentalismendie Gesellschaft eine Werte-Basis und die Religion passe sich den Anforderungen des Lebens an.

Genau das sei beim islamischen – und auch beim christlichen – Fundamentalismus aber nicht gegeben… Mehr dazu.

Zur Vertiefung die Buchempfehlung, Rezension der NZZ und zwei Leseproben:

Olivier Roy, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen

Rezensionsnotiz dazu in der Neuen Zürcher Zeitung, 24.07.2010
„Luzide“ findet Rezensent Clemens Klünemann diese Analyse des religiösen Fundamentalismus von Olivier Roy. Das Buch macht für ihn deutlich, wie die aktuellen Debatten um Burka und Schleier oder früher Gehorsamsgelübde gegenüber der Katholischen Kirche genuin zu den westlichen Gesellschaften gehören und diese mitgeprägt haben. Roys Beschreibung der Entkoppelung von Religion und Kultur im Prozess der Säkularisierung ist in Klünemanns Augen besonders erhellend. Danach nutzen die Religiösen die Abtrennung von der Kultur, um alle gesellschaftlichen Veränderungen zu ignorieren und sich auf dem Markt der Religionen deutlich sichtbar positionieren zu können.

Leseprobe I zu Olivier Roy: Heilige Einfalt.

Kultur und Religion: Der Bruch

Wenn Gläubige und Ungläubige in derselben Kultur zusammenkommen

Die Unmöglichkeit einer religiösen Gesellschaft

Das Religiöse schafft, meistens implizit, ein kulturelles Umfeld, weil die Religion auch als eine Kultur erlebt wird. Dass die Religion folgenreich für die Kultur ist, ist unvermeidlich, denn keine Gesellschaft kann sich ausschließlich mittels eines expliziten Glaubens behaupten. Die Herrschaftsausübung kann nur funktionieren, wenn die dominierende Religion sich zu einer Kultur entwickelt, das heißt zu einem symbolischen und imaginären System, das die gesellschaftliche und politische Ordnung legitimiert, aber den Glauben nicht zu einer Bedingung des Zusammenlebens macht. Konformität und nicht Glaube begründet eine Gesellschaft, das ist der Unterschied zwischen einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft.

Leseprobe II

Die Orthopraxie: Wenn Laien und Religiöse sich darüber verständigen, was richtig ist

Die Säkularisierung bedeutet nicht unbedingt einen Konflikt, nicht einmal die Trennung vom Religiösen. Eine säkularisierte Gesellschaft kann weiter im Einklang mit einer religiösen Kultur und religiösen Werten bleiben. Die Säkularisierung betrifft den Glauben, aber nicht notwendigerweise die Werte. Wenn die Säkularisierung die Politik berührt und das Thema der Trennung von Religion und Staat auf den Plan ruft, verlangt sie nicht unbedingt eine Debatte über moralische Werte: Klerikale und antiklerikale Kräfte können dieselbe Vorstellung von Moral haben, und Veränderungen der Sitten führen nicht automatisch zu einem Konflikt zwischen Religion und Kultur…