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Kirchentheorie

Die Flüchtlingsfrage – in der ganzheitlichen Praxis vertane Chance für Diakonie und Kirche.

03/2016

Von Friedhelm Schneider

Eher selten äußert sich die geistliche Leitung der Landeskirchen gleichzeitig und unisono zu politischen Fragestellungen. Hinsichtlich der Flüchtlingsströme ist dies wohl zunächst aus einem humanitären Impuls heraus erfolgt. Einige Landeskirchen stellen sogar aus den sprudelnden
Kirchensteuern Finanzmittel für die Flüchlingsarbeit bereit. In diesen Fällen will man es also nicht bei Worten belassen, sondern wirken. Das geschieht an der Basis ohnehin in ertaunlich vielfältigen Aktivitäten, die Menschen den Flüchtlingen gegenüber entwickelt haben.

Hilfe für die Flüchtlinge heißt konkret: Unterkünfte, Verpflegung, Rechtsberatung, Sprachunterricht, Kommunikationsangebote. Das sind in der Regel staatliche Aufgaben. Allerdings kann (oder will) der Staat diese Leistungen nicht selbst erbringen, sondern stellt dafür die Finanzmittel zur Verfügung oder baut auf das Engagement Freiwilliger. Finanzmittel werden hauptsächlich für die Unterbringung bereitgestellt  damit freie Träger, Verbände, Investoren, Unternehmer diese Aufgaben erfüllen können.
Ist auch das eine Aufgabe der Kirchen? Eigentlich und auf den ersten Blick nicht. Man denkt dabei aber an freie Träger, also an die Diakonie. Inwieweit aber ist die Diakonie als
vertrauenswürdiger Akteur als Partner der staatlichen Stellen in den Kommunen und
Landratsämtern in Sachen Flüchtlingsunterkünften aktiv? Inwieweit kommt sie Ihrer Aufgabe nach? Wird die Aufgabe in der Diakonie überhaupt als Aufgabe wahrgenommen? Werden nicht nur die Aufgaben und Risiken, werden auch die Chancen, die humanitären wie auch die wirtschaftlichen Chancen wohlgemerkt, wahrgenommen? Seit Mitte letzten Jahres werden bei Investoren Hochglanzbroschüren für den Markt von Flüchtlingsunterkünften lanciert (z.B. Horinnzonte20xx; Dr. Klein Wohnungswirtschaftsplatttform 02/2015).. Aber bei der Diakonie herrscht – so der Eindruck – Desinteresse.

Ein aktuelles Beispiel aus Mittelfranken: der in die Jahre gekommene Eigentümer eines
Gasthofs an der romantischen Straße mit einer stattlichen Zahl von Fremdenzimmern will seinen Betrieb aus Altersgründen verkaufen. Als Kaufinteressenten treten auf mehrere Privatpersonen/-unternehmer, die das Haus für die Unterbringung von Flüchtlingen nutzen wollen. Die Mieterträge sind so hoch, dass sich die Investition in einem Jahr amortisiert hat. Das bringt auch windige Interessenten auf dem Plan, bei denen die Sachbearbeiter des Landratsamtes Magenschmerzen bekommen. Man kann sich vorstellen, wie erfreut man dort über entsprechende (wie gesagt:hochverzinsliche) Investitionen der Diakonie wäre. Allein:
seitens der Diakonie herrscht Funkstille. Die Arbeit – und das Geschäft – überlässt man
anderen. Das ist bürokratisierte Diakonie. Sie unterscheidet sich nicht von bürokratisierter
Kirche. Welche Synergien hätte Diakonie und Kirche in Kooperation in dieser
Aufgabenstellung entwickeln können? Diakonie investiert und betreibt, Kirche bietet
die Infrastruktur der Kommunikationsangebote. Besagter – auch kirchlich engagierter – Gasthofbesitzer hätte in einer diakonisch geführten Flüchtlingsunterkunft sogar selbst Integratiosangebote ehrenamtlich und uneigennützig angeboten und bereitgestellt. Er wäre sicher nicht der einzige aus der Kirchengemeinde gewesen.

Wenn ich recht sehe, exisitert solches diakonisch-kirchliche Unternehmertum nicht. Und
dies Manko gereicht Diakonie und Kirche zum Schaden. Gerade wenn man prognostiziert, dass
die Kirchensteuern sinken werden, müsste man sich – aus unternehmerischer Sicht – mehr einfallen lassen als simples Downsizing, als das Schließen von Einrichtungen, das Herunterfahren von Angeboten, die Entlassung von Personal oder den Abbau von Stellen. So reagieren Verwaltungsjuristen. Woran es den Verwaltungen fehlt ist: unternehmerischer Geist, der nicht überall, aber doch gerade dort aktiv wird, wo die Kirche in Erfüllung humanitärer Aufgaben wirtschaftlich gewinnbringend handeln kann.Wenn man so denkt, dann kann die Flüchtlingsaufgabe auch als unternehmerische Chance, ja als Chance für die Organisationsentwicklung der eigenen, bürokratisierten Organisation selbst gesehen und wahrgenommen werden. Als Chance, seine originiäre Aufgabe zu erfüllen, dafür satt mit stattlichen Mitteln unterstützt zu werden und durch die Arbeit gesellschaftliche und staatliche Anerkennung zurückzugewinnen.

Eine ähnliche Situation gab es übrigens schon einmal, Anfang der 90iger Jahre. Damals war die Diakonie als Verband ebenfalls nicht aktiv. In die Lücke sprangen jedenfalls im Rhein-Main-Gebiet Kirchengemeinden. Sie haben genau die Aufgabe erfüllt, die oben beschrieben wurde. Sie wurden in der Kirche von keiner Seite unterstützt, sondern waren auf sich selbst gestellt. Doch sie hatten mit ihrer Arbeit Erfolg. Sie gründeten damals den Verband christlicher Flüchtlingshilfen im Rhein-Main-Gebiet. Der Träger Diakonie hätte das Modell also noch nicht einmal neu entwickeln müssen, die Erfahrungen und Kennzahlen waren vorhanden.
Für dies mal dürfte diese Chance des unternehmerischen Wirkens von Diakonie in Kooperation mit Kirche, also einer ganzheitlichen Herangehensweise an das Problem, verpasst sein. Nicht nur im Gasthof in Mittelfranken. Der wurde an einen Privatinvestor verkauft. Dem die Flüchtlinge egal sind. Der aber weiß, dass er mit den Mieterträgen eines Jahres den Gasthof schon finanziert hat. Ob und wann es ein nächstes Mal gibt – wer weiß. Ob die Diakonie dann aus den Erfahrungen gelernt haben wird…?

Abbau, Aufbau, Umbau – Evangelische Kirche im peripheren ländlichen Raum aus religionssoziologischer Perspektive. Von Prof. Dr. Detlef Pollack.

03/2016

Kirchenbilder – Lebensräume. 3. Land-KirchenKonferenz
der EKD, Kohren-Sahlis, 18. – 20.6.2015
„…
3. Fazit Was also kann die Religionssoziologie der Kirche raten?

1) Durch die Verbindung mit nichtreligiösen Bedürfnissen und Interessen die Kontaktflächen zur Gesellschaft zu verbeitern und durch Multifunktionalität ihre Resonanz in der Gesellschaft verstärken,

2) durch die Verbindung von Individualisierung und Vergemeinschaftung die Menschen in ihren individuellen Bedürfnissen ansprechen,

3) durch kommunikative Verdichtung und Aufgabenfokussierung soziale Bestätigung und Unterstützung mobilisieren!
Der vollständige Vortrag, vgl. S. 12ff

Kommentar F.S.: Das heißt: Die Rede von Kernkompetenzen ade! Auch: „Kirche der Freiheit“ in „Kirche der Verantwortung“ umschreiben.

Prof. Paul Zulehner in einer Pastoralkonferenz über den Wandel der Kirche: „Wir leben nicht ein einer Ära des Wandels, sondern erleben einen Wandel in der Ära“.

26.-27.1.2016: Pastoralkonferenz

Teil 1 (Wir leben nicht ein einer Ära des Wandels, sondern erleben einen Wandel in der Ära – Papst Franziskus) MP4 | PDF
Teil 2 (Künftig werden unter den Katholikinnen mehr Christinnen sein) MP4 | PDF
Teil 3 (Man füllt keinen neuen Wein in alte Schläuche: Strukturwandl) MP4 | PDF

 

 „Wir leben nicht in einer Ära des Wandels,
sondern erleben einen Wandel der Ära.“ (Papst Franziskus)
 Die ererbte Kirchengestalt vergeht. Eine neue ist im Werden [„Seht her, nun mache ich
etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht? “ (Jes 43,19)] Die
Menschen sind wählerisch geworden. Es braucht attraktive „Gratifikationen“. Welche
birgt die Kirche für die Menschen in Kärnten heute?
 Es wird morgen unter den Katholikinnen mehr Christinnen geben.
 Worauf es ankommt: Es braucht zur Bildung von „Glutkernen“ Wege zur Annahme der
unvertretbaren Kirchenberufung bei „Hinzugefügten“. Förderung der Berufenen und ihrer
Begabungen. Ein mystagogischer Weg. Zur Förderung der Begabungen eignen sich
pastorale „Trüffelhunde“ bestens.
 Lokal und regional: zur strukturellen Weiterentwicklung der Diözese
 Für eine Reihe von pastoralen Projekten (Bildungsarbeit, Mitarbeiterbildung, Jugendarbeit,
Diakonie…) braucht es morgen Entwicklungsräume. In diesen wirken Pfarren und
kirchliche Einrichtungen (KA, Caritas, Schulen…) mit erhöhter Synergie zusammen.

Mehr dazu.

Veraltung und Verkrustung. Zur Gerontologie von Institutionen: „Konsistoriale Kirche oder Gemeindekirche“ – ein Vortrag von Prof. Eberhard Mechels.

11/2015
„Institutionen neigen zur Verkrustung … Sie werden zum Selbstzweck. Und darum muss ein konstruktiver Umgang mit Institutionen immer ein kritischer sein. Das ist vielleicht das wichtigste Merkmal der protestantischen Kirche als »Kirche der Freiheit«, dass sie sich immer wieder die Freiheit nimmt, sich kritisch zu ihrer eigenen Institutionalisierung zu verhalten. Diese Freiheit ist der evangelischen Kirche in die Wiege gelegt, und sie zeigt sich gegenwärtig im Aufstand der Gemeinden gegen eine selbstherrliche und übermächtig gewordene Kircheninstitution.“

Vor der Mitgliederversammlung unseres Vereins am 25. Oktober 2015 war Prof. Dr. Eberhard Mechels unser Gast in Rommerskirchen und hat einen erhellenden Vortrag zum Thema „Konsistoriale Kirche oder Gemeindekirche“ gehalten. Der vollständige Text steht hier als PDF zum Download bereit. Zum Vortrag ( pdf-download).

Fragen zum Kirchenverständnis im Reformprozess der EKD: »Zwo Kirchen«? Von Prof. Martin Honecker

10/2015, Deutsches Pfarrerblatt
Kirche ist nicht nur Institution, sondern auch Organisation. Doch gerade um die Ordnungen von Kirche bricht oft Streit aus. So auch im Rahmen des Reformprozesses der EKD. Martin Honecker greift auf Orientierungen bei Luther sowie bei der Konstituierung der EKD nach 1945 zurück und resümiert den Stand der Debatte um den Reformprozess.

Ein wesentliches Grundproblem ist inzwischen das Misstrauen gegen einen Vorschlag von oben, wie ihn das Impulspapier »Kirche der Freiheit« vorgelegt hat, und dem dadurch bedingten Einspruch von unten, der über mangelnde Partizipation klagt und sich von einer kirchenleitenden Macht beeinträchtigt fühlt. Damit ist ein Vertrauensverlust eingetreten. Der Vertrauensverlust kann keineswegs durch die Ausübung von Macht durch kirchenleitende Instanzen behoben werden. Denn nach Max Weber beruht Macht – im Unterschied zu Gewalt – in der Regel auf Zustimmung und Anerkennung von Autorität. Machtausübung kann eben nicht nur zur Stärkung und Legitimation von Herrschaft, sondern auch zum Vertrauensverlust und zur Schwächung von Macht führen. Zum Artikel.

Die Kirche ist irrelevant. Eine Empörung. Von Martin Lätzel, Autor und Publizist, Kulturverwaltung des Landes Schleswig-Holstein

10/2015

Warum empört ihr euch nicht? Eine Empörung.

Die Kirche ist irrelevant. Die Kirche ist relevant. Man kommt je nach Perspektive zu dem einen oder dem anderen Ergebnis.

Burkhard Spinnen, sonst eher wenig bekannt für kirchenkritische Äußerungen, bewegt er sich doch eher im konservativen Milieu und fordert auch gerne mal die lateinische Messe, hat jüngst in der Herder Korrespondenz mit einer lesenswerten Philippika gegen die katholische Kirche – seine Kirche – Aufsehen erregt. Eine Person aber wollte er von seiner Kritik dezidiert ausnehmen: Papst Franziskus. Dieser Papst nämlich verkörpere all das, was die Relevanz der Kirche wieder steigern könnte. Die Hinwendung zu den eigentlichen Kernthemen der Botschaft Jesu: Frieden, Gerechtigkeit und Wahrung der Schöpfung. Sein pastoraler Pragmatismus. Seine Fröhlichkeit und Umsichtigkeit. Die Bescheidenheit. Das gilt, meines Erachtens, für beide Kirchen. Erst wenn wieder die Kernbotschaft verkündet und glaubwürdig gelebt werden, gelegen oder ungelegen, wird die Kirche wieder gehört werden.

Zumindest in Deutschland ist sie zurzeit eine Institution wie die anderen, die Unterschiede zum ADAC marginal. Was wir brauchen, ist eine Botschaft, die aufhorchen lässt, die anders ist. Das gilt im Übrigen auch für die evangelische Kirche, die sich ebenso eingerichtet hat in ihren unüberschaubaren Strukturen und Gremien, Kirchenämtern und Werken, die sich in unzähligen gesellschaftliche Bereichen engagiert und leider auch verliert…  Mehr dazu.

Auftrag und Aufgaben der Kirche in der Welt. Von Prof. Uta Pohl-Patalong.

07/2015, Deutsches Pfarrrerblatt

In den aktuellen Debatten um die Zukunft der Kirche geht es immer wieder und häufig eher implizit darum, welchen Auftrag die Kirche hat und wie sich dieser im 21. Jh. konkretisiert. Uta Pohl-Patalong geht in ihrer Orientierung von der Formel »Kommunikation des Evangeliums« aus und weist der Kirche sechs konkrete Aufgabenbestimmungen zu.

„…
3. Konsequenzen für die Strukturen der Kirche

Die sechs beschriebenen Aufgabenbereiche sind unabhängig von Organisationsformen und -strukturen zu denken, sie gelten für die gegenwärtige Gestalt der Kirche ebenso wie für alternative Modelle wie die kirchlichen Orte. In den exemplarisch angeführten Handlungsfeldern wurden vorrangig Beispiele vertrauter kirchlicher Formen gewählt, um die Anschlussfähigkeit zu erhöhen und die Verbindung zur kirchlichen Praxis zu erleichtern….
Insofern haben die Überlegungen zu den Aufgaben der Kirche auch wieder Konsequenzen für die kirchlichen Strukturen und Organisationsformen, auch wenn sie nicht nur für eine einzige Organisationsform gelten. Das kann auch nicht anders sein, weil diese immer eine dienende Funktion besitzen: Sie sind ausgerichtet auf die Kommunikation des Evangeliums und müssen daran gemessen werden, wie sie dieser bestmöglich dienen. Getragen sind die Überlegungen von der Vision einer lebendigen, pluralen und offenen Kirche, die sich mit ihren Traditionen so beschäftigt, dass sie sich zugleich mit den Herausforderungen der Gegenwart mutig und konstruktiv auseinandersetzt. Zum Artikel.

‚Kirche der Freiheit‘ hat „die biblische und reformatorische Weite von „Ekklesia“ vergessen“. Aus der „Praktischen Theologie“ von Prof. Dr. Christoph Grethlein

Prof. Dr. Christoph Grethlein

Praktische Theologie, Berlin 2012; anstelle einer Rezension ein Zitat zu „Kirche der Freiheit“:

„Auffällig ist bei dem Papier dier weitgehende Verzicht auf theologische Reflexion (s. Hermelink…). Ein undeutlicher Religionsbegriff leistet keine inhaltliche Klärung.
So ist der Text Ausdruck kirchenamtlicher Orientierungslosigkeit angesichts der nicht zu leugnenden Herausforderungen. Soziologisch formuliert: Es wird versucht, Unorganisierbares zu organisieren, ohne dies Dilemma zu reflektieren. Dadurch kommt es zu einer Überforderung der kirchlichen Organisation, konkret der kirchlichen Mitarbeiter/innen. Der Hauptgrund dafür ist ein auf die kirchliche Organisation verengtes Kirchenverständnis, das die biblische und reformatorische Weite von „Ekklesia“ vergessen hat.“ (S. 410)

Societas fidei – Die Kirche als Gesellschaft des Glaubens

Vor ein paar Jahren gab es einmal den Vorschlag, am Heiligen Abend in den überfüllten oder zumindest sehr, sehr gut gefüllten Kirchen die Plätze für die ständigen Kirchgänger zu reservieren, damit diese ihren Platz nicht streitig gemacht bekommen von denen, die nur an Weihnachten in die Kirche gehen oder die möglicherweise sogar aus der Kirche ausgetreten sind. Die Weihnachtschristen oder „U-Boot-Christen“, wie es in einem wahrlich gehässigen Wort immer mal wieder heißt, müssten dann eben schauen, wo sie ihren Platz bekommen.

Die Diskussion, die sich an diesem Vorschlag entzündete, war durchaus bezeichnend für den Umgang mit der Frage: Wer gehört eigentlich zur Kirche dazu und wer nicht? Sie macht auch deutlich, wie groß an vielen Stellen die Sehnsucht nach der Kirche immer noch ist. Und sie zeigt ein wahrgenommenes hierarchisches Gefälle zwischen denen, die augenscheinlich dazugehören und denen, die dazukommen oder sich entfernt von der Kirche halten.
Die Gemeinden unserer Kirche, gemeint sind hier vor allem die Ortsgemeinden, die Menschen ihres Wohnortes wegen zusammenbringt, sind ausgesprochen komplexe und umfassende Gebilde. Sie sind eigene Gesellschaften, verwoben aus allen Teilen der örtlichen Bevölkerung. Es gehören Menschen beiderlei Geschlechts, unterschiedlichster Herkunft und Abstammung, unterschiedlichster Bildungsgrade und Lebenseinstellungen, unterschiedlichsten Alters und Berufs dazu. Ein Blick in den sonntäglichen Gottesdienst reicht, um dies auszumachen. Das gilt genauso für die Chöre und Musikgruppen wie für unsere Gesprächskreise und gerade auch für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das gibt es in unserem Land, in Europa, vielleicht in der ganzen Welt nicht besonders häufig, wenn es das so überhaupt noch irgendwo gibt.
Das macht die Gemeinden aus sich heraus so besonders wertvoll und zukunftsfähig, weil in ihr nicht Partikular- oder Einzelinteressen bedient werden, sondern der Individualisierung unserer Gesellschaft eine echte Gemeinschaft aller Menschen entgegengesetzt werden kann und häufig auch entgegengesetzt wird. Die Kirche und der Glaube sind eine Sache aller.
Gleichzeitig wird deutlich, dass sich manche Menschen vermehrt in der Kirche wiederfinden. Andere hingegen nur vereinzelt vorkommen. Da spielen persönliche Vorlieben in Musik und Lebensgestaltung eine Rolle. Da sind auch die berufliche Belastung und die familiäre Situation entscheidend. Wer etwa am Sonntagmorgen den einzigen gemeinsamen Familientermin in der Woche hat, wird sich schwer tun, eine oder eineinhalb Stunden davon für den Gottesdienst zu opfern.
Seit vielen Jahren schon macht sich nun die Kirche Gedanken darüber, wie mit diesem Befund umzugehen ist. Die Bevölkerung wird aus soziologischer Sicht betrachtet. Auch in diesen Untersuchungen wird deutlich, dass es einen unterschiedlich starken Umgang in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus mit der Kirche gibt und dass manche Gruppen in den einzelnen Gemeinden überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein scheinen. Sie gehören nicht dazu. Oder sie fühlen sich trotz Kirchengliedschaft nicht zugehörig. Aber sie sind da. Sie leben in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche. Die Verbindungslinien aber schwinden.
Wer gehört dazu? Wer nicht? Wer will dazu gehören? Wer möchte von der Kirche eigentlich lieber in Ruhe gelassen werden? Wessen Interesse ist schon komplett erloschen?
Es würde den Rahmen des Artikels sprengen, hier die verschiedenen Milieus vorzustellen, mit denen die Wissenschaftler und Kirchenleitungen derzeit arbeiten und versuchen, die Kirche auf neue Füße zu stellen, damit sie auch in Zukunft sein kann. Diese erkannten Milieus sind über die Internetseite http://www.milieus-kirche.de/ einsehbar. Besonders auch die fünfte Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD hat erhellendes beizutragen (http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5.html).
Tatsächlich aber scheint mir in der ganzen Diskussion ums Dazugehören zur Kirche auch der alte reformatorische, von Philipp Melanchthon in seiner Apologie der Augsburgischen Konfession gesetzte Begriff der societas fidei, der Gesellschaft des Glaubens, in Verbindung mit neuen Erkenntnissen über die Zusammensetzung unserer Gemeinden viel zielführender und für die kirchliche Arbeit hilfreicher zu sein.
Das liegt vor allem daran, dass dieser Begriff keinen trennenden, sondern einen sehr stark verbindenden Charakter hat und deswegen die Menschen nicht ausdifferenziert, sondern in einer Einheit sieht bei allen Unterschieden, die wir Menschen haben. Dass es diese Unterschiede gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Dazu muss man nur die verschiedenen Lebensformen und Wohnorte innerhalb unserer Gemeinden betrachten, mit offenen Augen und Ohren durch die Dörfer, Städte oder Stadtteile gehen, die Menschen wahrnehmen und sehen, wie diese geprägt sind und wie ihr Leben ist.
Societas fidei taucht bei Melanchthon zuerst auf, um den Begriff der Versammlung zu verdeutlichen, den er in der Augsburgischen Konfession (CA) benennt. Diese Versammlung der Heiligen (congregatio sanctorum) führt er weitergehend als Gesellschaft des Glaubens aus und stellt damit selbst einen umfassenden und in die Soziologie hineinführenden Begriff ein. Nachdem er den Kirchenbegriff in der CA durch die Nutzung des Wortes Versammlung einen Inhalt der Bewegung gegeben hat (die Kirche ist da, wo sich Menschen um Gottes Wort versammeln), verweltlicht er den Begriff in gewisser Weise, löst die Kirche damit aus der hierarchischen Umklammerung des Papsttums und entmystisiert sie dadurch. Er gibt ihr eine klare Grundlage bei jeder und jedem Einzelnen. Es geht in der Kirche um die Menschen des Glaubens.
Der Glaube wird also zum entscheidenden Begriff des Kircheseins und damit auch des Dazugehörens zur Kirche. Wer glaubt, der gehört dazu. Wer nicht glaubt, eben nicht. Aber Richter über den Glauben kann niemand sein als Gott allein. Nicht einmal ich selbst.
Der Glaube aber unterliegt durchaus unterschiedlichen Ausformungen und Lebensweisen. Das heißt für die Kirche, dass sie sich darum mühen muss, für diese unterschiedlichen Menschen einen Platz in ihr zu finden und sich offen zu zeigen, ohne diese Grundlage des Glaubens zu verleugnen. Die Kirche muss immer wieder deutlich machen, dass und wie der Glaube an Jesus Christus etwas mit dem Leben der Menschen zu tun hat. Die Anforderungen sind gewaltig. Das macht der Blick in die Gesellschaft klar.
Zugleich ist es nötig, um diesem umfassenden Bild der Gesellschaft des einen Glaubens zu entsprechen, den Anspruch, ein Dach und eine Verbindung für alle Menschen zu sein, nicht fallen zu lassen. So wie die Liebe Gottes allen Menschen gilt, ist der Ort dieser Liebe für alle Menschen herzustellen und zu gestalten. Vielleicht werden gerade aus diesem Grund die Weihnachtsgottesdienste so gut besucht, weil sie eben als solche Orte erfahrbar und lebensnah sind.
Insgesamt gelingt das über das Jahr aber nur, wenn Menschen sich auch als gegenseitig bereichernd und stärkend wahrnehmen und von außen wahrgenommen werden. Das gelingt nur, wenn nicht immer weiter vereinzelt und ausdifferenziert wird. Es gibt in der Kirche nur eine Zielgruppe. Das ist die sich um das Wort Gottes sammelnde Gemeinde.
Da hat die Kirche gerade in ihrem Bewusstsein, eine Gesellschaft nicht der Welt, sondern eine Gesellschaft des einen Glaubens zu sein, die Aufgabe eines Gegenpols. Das hat übrigens auch gesamtgesellschaftlich eine hohe Funktion, weil es deutlich macht, dass eine andere Form des Zusammenlebens möglich ist.
Gelingt das nicht, haben und bekommen wir Gemeinden, die ihren je eigenen Glauben, ihre je eigene Grundlage und letztlich ihr je eigenes Gottesbild pflegen. Da ist es zur Spaltung und Trennung nicht mehr weit, weil der Schritt zum Dienst am je eigenen Gott der nächste ist.
Die Aufgabe heißt: Diejenigen, die kommen, werden angenommen. Diejenigen, die sich am Rand aufhalten, gehören dazu. Diejenigen, die sich gerade nicht zur Kirche bekennen mögen, brauchen offene Türen, durch die sie jederzeit gehen können. Diejenigen, die nichts mehr vom Glauben und der Kirche wissen, müssen eine Chance haben, ihr überhaupt zu begegnen. Diejenigen, die ihre Beziehung zur Kirche pflegen und erhalten, diejenigen, die sich ihres Glaubens bewusst sind, die also auch in ihrem eigenen Selbstverständnis dazugehören, sind dabei nicht nur in der Verantwortung das Haus des Glaubens in Ordnung zu halten, sondern haben auch die Gewähr, dass sie in diesem Haus schon geborgen, beschützt und gemeinschaftlich in Hoffnung und Liebe verbunden sind.
Das aber macht sich nicht an einem Sitzplatz im Heiligabendgottesdienst fest, sondern an dem Bewusstsein, in Gottes Gegenwart durch das Leben zu gehen.
Maximilian Heßlein