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Der „wahre“ Islam und die Zumutung des Islamischen Staates. Von Martin Schuck.

Der Aufsatz ist zuerst erschienen als Editorial im Pfälzischen Pfarrerblatt 2/2015, 34-37.

Im Blick auf den islamistischen Terror taucht immer wieder die Versicherung auf, dieser habe nichts mit dem „wahren“ Islam zu tun. Begründet wird diese Behauptung damit, dass die überwiegende Mehrheit der Muslime Terror ablehne und in Frieden leben wolle. Diese Begründung ist allerdings wenig stichhaltig. Natürlich wollen die meisten Muslime, wie überhaupt die meisten Menschen, in Frieden leben. Auch in den Zeiten der Kreuzzüge im Mittelalter und in den Religionskriegen der frühen Neuzeit wollten die meisten Christen friedlich leben. Trotzdem werden gerade die Kreuzzüge von den Muslimen gerne als Argument herangezogen, um die friedliche Absicht des Christentums zu konterkarieren, und umgekehrt akzeptieren die Christen die Kreuzzüge als Teil ihrer nicht immer friedlichen Geschichte.
Allein dieser kurze Blick auf zwei widersprüchliche Sichtweisen macht deutlich: Das Friedenspotential einer Religion ist offensichtlich keine statische Größe, sondern unterliegt geschichtlichen Wandlungen. Weiterhin gibt es innerhalb einzelner geschichtlicher Epochen Ungleichzeitigkeiten innerhalb der Religion selbst. Im Falle des gegenwärtigen Islam widersprechen sich die kriegerische Erscheinungsweise in vielen Weltgegenden und der Friedenswille von 90 Prozent der Muslime keineswegs. Diese Ungleichzeitigkeit von Friedenswille und kriegerischer Absicht macht es unmöglich, verallgemeinernde Aussagen über das Verhältnis des Islam zu Krieg und Frieden, Terror und Gewaltlosigkeit sowie Despotismus und Rechtsstaatlichkeit zu treffen. All diese Phänomene existieren unter den anderthalb Milliarden Muslimen gleichzeitig, und auch die Frage der Mehrheitsverhältnisse ist nicht überall so eindeutig wie hierzulande; Rechtsstaatlichkeit etwa ist im gesamten Nahen und Mittleren Osten trotz einiger Versuche in der Vergangenheit bis heute weitgehend ein Fremdwort geblieben.
Irgendwo an der Grenze zwischen transnationaler Terrorbande und theokratischer Despotie ist der Islamische Staat (IS) anzusiedeln. Von einer reinen transnationalen Terrorbande wie Al-Qaida unterscheidet er sich durch die Strategie, zuerst die Umerziehung der „Ungläubigen“ in der muslimischen Welt vorzunehmen und dann erst den Dschihad in die restliche Welt zu tragen (während Al-Qaida mit dem Dschihad-Export beginnt). Mit einer theokratischen Despotie wie Saudi-Arabien verbindet den IS das Ziel eines islamischen Gottesstaates auf den Grundlagen der Scharia, und zwar in der denkbar strengsten Auslegung, wie sie nur von den wahhabitischen Rechtsschulen gelehrt wird. Der Unterschied zu Saudi-Arabien besteht eigentlich nur in den brutalen Methoden der Machtergreifung; diese Brutalität könnte jedoch nach einer Konsolidierungsphase geringer werden, wenn zur Machtsicherung die Zustimmung der Bevölkerung notwendig wird.
Wer theokratische Despotien wie Saudi-Arabien als gegenwärtige Verwirklichungsform des Islam akzeptiert – und die Nachrufe auf den kürzlich verstorbenen König Abdullah von den wichtigsten Politikern der westlichen Welt legen nahe, dass dies auf breiter Front der Fall ist –, kann kaum glaubhaft behaupten, dass der IS überhaupt nichts mit dem Islam zu tun haben soll. Blendet man einen Augenblick die Brutalität des IS aus, kann man Abu Bakr al- Baghdadi, den Führer des IS, beim Versuch beobachten, auf dem Gebiet zweier auseinanderfallender Staaten eine neue Form von Staatlichkeit wieder herzustellen. Um es deutlich zu sagen: Al-Baghdadi, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri heißt und 1971 im irakischen Samarra geboren wurde, kennt die Grundlagen des Islam besser als die meisten seiner Gegner. 2007 wurde er in Bagdad im Islamischen Recht promoviert, und er baut den IS mit dem großmäulig vorgetragenen Anspruch eines „Kalifats“ nach dem Muster anderer islamischer Staaten auf. Er hat mit Abu Ali al-Anbari und Abu Muslim al-Turkmani zwei ehemalige Generäle der Armee Saddam Husseins als Stellvertreter, die für die Provinzen in Syrien und Irak zuständig sind. Die drei Personen bilden zusammen das Emirat, dem neun Räte – mit Ministerien vergleichbar – unterstehen: der Führungsrat, der Schura-Rat (zuständig für religiöse Angelegenheiten), der Militärrat, der Rechtsrat, der Sicherheitsrat, der Geheimdienstrat, der Finanzrat, der Rat zur Unterstützung der Kämpfer sowie der Medienrat. Unterhalb dieser Regierungsebene gibt es zwölf Gouverneure in den sieben syrischen und fünf irakischen Provinzen des IS.
Die bisherige Entwicklung zeigt, dass der IS in seiner Entstehung ein Produkt des Irakkrieges und in seiner rasanten Ausbreitung im vergangenen Jahr eine Folge des syrischen Bürgerkrieges ist. Abu Bakr al-Baghdadi wurde 2004 für zehn Monate im US-Gefangenenlager Camp Bucca im Süden des Irak inhaftiert. Dort saß er zusammen mit Generälen und Geheimdienstleuten des Saddam-Regimes ein; fast die gesamte Führungsriege des IS lernte sich in Camp Bucca kennen. 2006 wurde dann im Irak der „Islamische Staat“ ausgerufen. Der Gründungsaufruf des ISI, wie sich die Gruppe fortan nannte, ist ein 16-Punkte-Katalog des klassischen Wahhabismus, in dem unter anderem betont wird, nach einem Spruch Mohammeds im Hadid, also der Überlieferung der Prophetensprüche, müssten Muslime von einem Muslim regiert werden. 2010 wurde Al-Baghdadi von seinen Gefährten zum Emir gewählt.
ISI verstand sich anfangs als Teil des Al-Qaida-Netzwerkes und vergrößerte sein Einflussgebiet im Irak. Im Syrien beteiligte sich Al-Qaida mit seiner Untergruppe Jabat al-Nusrah am Bürgerkrieg. Anfang 2013 mischte sich ISI ebenfalls in den syrischen Bürgerkrieg ein und nannte sich fortan ISIS. Im Oktober 2013 erklärte Al-Baghdadi den Zusammenschluss von ISIS und Al-Nusrah, gegen den Willen der Führung von Al-Nusrah und ohne Al-Qaida vorher gefragt zu haben. Nachdem der Aufruf des Al-Qaida-Führers Al-Zawahiri zur Einigung unerhört geblieben war, trennte sich Al-Qaida von ISIS. Seither distanziert sich Al-Qaida von der brutalen Unterdrückung der Bevölkerung durch ISIS. Am 29. Juni 2014 erklärte Al-Baghdadi das gesamte von ISIS besetzte Territorium zum Kalifat und nannte die Terrorgruppe um in IS, was den Anspruch untermauern sollte, den „Islamischen Staat“ eben nicht nur im Irak und in Syrien verwirklichen zu wollen, sondern weltweit.
Der IS ist ein neuer Machtfaktor im Nahen Osten, und sein Aufstieg zeigt deutlich, dass es sinnlos ist, unter dem Siegel des Islam auftretende radikale politische Verbände von einem „wahren“ Islam trennen zu wollen. Genauso wie das wahhabitische Saudi-Arabien und der schiitische Iran ist auch der „Islamische Staat“ im Norden Syriens und Iraks eine Realität, die den gegenwärtigen Machtanspruch des Islam abbildet und – wie der fast alle europäischen Länder betreffende Dschihad-Tourismus zeigt – eine enorme Anziehungskraft vor allem auf zum Islam konvertierte Jugendliche und junge Erwachsene ausübt. Soll der christlich-muslimische Dialog den Anspruch haben, über das reine Gespräch hinaus einen praktischen Nutzen zu bringen, muss er auch den dschihadistischen Islam als Realität akzeptieren – zumal diese Ausprägung des Islam auch das zukünftige Zusammenleben zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Bevölkerung hierzulande möglicherweise stärker prägen wird als dies gegenwärtig der Fall ist.
In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die These des US-amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington (1927 bis 2008) vom „Clash of Civilisations“ wieder neu in die Diskussion gekommen ist. Huntington hatte 1993 zunächst in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ und dann 1996 in einem voluminösen Buch die These vertreten, dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Weltpolitik nicht mehr von ideologischen Auseinandersetzungen bestimmt werde, sondern von Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen. „Die großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts heißen Liberalismus, Sozialismus, Anarchismus, Korporatismus, Marxismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Konservatismus, Nationalismus, Faschismus, christliche Demokratie. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind Produkte der westlichen Kultur. Keine andere Kultur hat eine signifikante politische Ideologie erzeugt. Der Westen hingegen hat niemals eine große Religion hervorgebracht. Die großen Religionen der Welt sind ausnahmslos in nichtwestlichen Kulturen entstanden und in den meisten Fällen älter als die westliche Kultur. In dem Maße, wie die Welt ihre westliche Phase hinter sich lässt, verfallen die Ideologien, die für die späte westliche Zivilisation typisch waren, und an ihre Stelle treten Religionen und andere kulturell gestützte Formen von Identität und Bindung. Die im Westfälischen Frieden etablierte Trennung von Religion und internationaler Politik, ein ureigenes Ergebnis westlicher Kultur, geht zu Ende, und die Religion wird, wie Edward Mortimer vermutet, ‚mit zunehmender Wahrscheinlichkeit in die internationalen Angelegenheiten eindringen’. Die intrakulturelle Auseinandersetzung um die politischen Ideen aus dem Westen wird abgelöst von einer interkulturellen Auseinandersetzung um Kultur und Religion.“
Huntingtons Analyse lagen Beobachtung von sogenannten „Bruchlinienkriegen“ zugrunde in Regionen, wo verschiedene Kulturkreise aufeinanderstoßen. Dabei kam dem Islam aufgrund der signifikanten Häufigkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen eine Schlüsselstellung zu. Huntington formulierte in seinem Essay in „Foreign Affairs“ den Satz: „Der Islam hat blutige Grenzen.“ Aufgrund der Kritik, die ihm dieser Satz einbrachte, untersuchte Huntington sämtliche Konflikte der frühen 1990er Jahre und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: „Muslime waren 1993/94 an 26 von 50 ethnopolitischen Konflikten beteiligt […]. 20 dieser Konflikte spielten sich zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Kulturen ab, davon 15 zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Es gab dreimal so viele interkulturelle Konflikte, an denen Muslime beteiligt waren, als Konflikte zwischen sämtlichen nichtmuslimischen Kulturen. Auch die intrakulturellen Konflikte waren im Islam zahlreicher als in jeder anderen Kultur einschließlich afrikanischer Stammeskonflikte. […] Konflikte mit Beteiligung von Muslimen waren auch tendenziell besonders verlustreich.“ Am Ende steht das Fazit: „Muslimische Kriegslust und Gewaltbereitschaft sind Ende des 20. Jahrhunderts eine Tatsache, die weder Muslime noch Nichtmuslime leugnen können.“
Seltsamerweise wird Huntingtons These gerade im Blick auf den IS zu widerlegen versucht. So schreibt etwa Sebastian Harnisch in der Zeitschrift „Internationale Politik und Gesellschaft“, der „Konflikt mit ISIS in Syrien und im Irak“ sei „kein Zivilisationskonflikt – auch wenn ISIS das gerne so darstellt“. In erster Linie sei es eine Auseinandersetzung „mit einer transnationalen Rebellengruppe, die die bestehende staatliche Ordnung durch einen religiösen Kalifatsstaat fundamentalistischer Prägung ersetzen will. ISIS hat in der Vergangenheit wesentlich mehr gemäßigte Muslime anderer Konfessionen getötet als Angehörige anderer ‚Zivilisationen’.“
Harnisch hätte mit diesen Ausführungen Huntington dann widerlegt, wenn dieser den Islam als monolithischen Block betrachtet hätte. Tatsächlich sind jedoch die „intrakulturellen“ Konflikte innerhalb des Islam Teil seiner Analyse, wenn er etwa den Revolutionsexport aus dem wahhabitisch verfassten Saudi-Arabien nach Bosnien beschreibt. Die Radikalisierung des bis dahin gemäßigten bosnischen Islam wirkte im damaligen Krieg um die Neuordnung des zerfallenden Jugoslawien wie ein Brandbeschleuniger. Tatsächlich hatte Huntington vor 20 Jahren die damals bekannten Fakten richtig gedeutet: Nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung entstand ein ideologisches Vakuum, und in fast allen Ländern mit muslimischer Bevölkerung gab es früher oder später Versuche, islamistische Parteien oder von islamistischen Staaten finanzierte Milizen in die nationale Politik einzuschleusen. Taliban, Hamas und Hisbollah waren nicht der Anfang, genauso wenig wie Boko Haram in Nigeria, al-Shabaab in Somalia, Abu Sayyaf auf den Südinseln der Philippinen und der Islamische Staat das Ende sind – sie markieren lediglich eine neue Eskalationsstufe.

vgl. den Artikel von Sebastian Harnisch: Clash of ignorance.

Reformationsfundamentalismus. Von Martin Schuck.

„Ein Impuls für die Zukunft der Kirche“ soll es sein, was zwölf Repräsentanten der evangelikalen Bewegung Anfang April unter dem Titel „Zeit zum Aufstehen“ veröffentlicht haben. Schon wenige Tage später gab es 365 Erstunterzeichner, mehrheitlich evangelikale Funktionsträger, aber auch den einen oder anderen Repräsentanten des landeskirchlichen Protestantismus, so etwa den Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche, Hans-Jürgen Abromeit, sowie die lutherischen Altbischöfe Ulrich Wilkens und Gerhard Müller.

Der Aufruf, laut „idea“ ein „Ruf zur Mitte in geistlichen und gesellschaftlichen Fragen“, gliedert sich in einen Vorspann und den eigentlichen Aufruf, der, eingerahmt von 1. Korinther 3,11 und Johannes 20,21, in sieben theologischen Thesen ein zeitgemäßes Bekenntnis gegen die zeitgeistige Verflachung des Protestantismus liefert, die in den vergangenen Monaten exemplarisch in der EKD-Orientierungshilfe zum Familienbild deutlich wurde.

Beim ersten Lesen klingt alles nach gediegenem Luthertum, hart entlang der Bekenntnisschriften. Die Argumentation wirkt ein wenig statisch, erscheint aber nicht falsch… Zum Beitrag im Pfälzer Pfarrerblatt.

Ein islamischer Doppelgänger des Opus Dei. Von Martin Schuck.

Im Katholizismus formte sich Ende des 19. Jahrhunderts ein modernitätskritisches Programm, das als Integralismus bekannt geworden ist. Dieser Integralismus teilt mit dem wenig später entstandenen Fundamentalismus die Gemeinsamkeit, dass er sich selbst als auf dem Boden der Moderne stehend begreift, diese Moderne mit ihren wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften grundsätzlich akzeptiert, aber ihre weltanschaulichen Implikationen ablehnt. Klassische Beispiele einer fundamentalistischen Haltung sind US-amerikanische Kreationisten, die sämtliche Ergebnisse moderner Evolutionstheorien kategorisch ablehnen, aber zur Verbreitung ihrer Botschaften selbstverständlich neueste Kommunikationstechniken benutzen; ebenso lehnen islamistische Dschihadisten die moderne Vorstellung einer Trennung von Religion und Politik ab, benutzen aber in ihrem Kampf für den islamischen Gottesstaat die neuesten Errungenschaften waffentechnischer Art. Zum Artikel.

Die dritte Barmer These und die „Kirche der Freiheit“

von Martin Schuck

In diesen Tagen ist wieder Barmen-Jubiläum. Es gehört zu den Ritualen der EKD und einiger Landeskirchen, dass die Barmer Theologische Erklärung und das Stuttgarter Schuldbekenntnis im Zehnjahresabstand mit Jubiläumsfeierlichkeiten oder zumindest einzelnen Gedenkveranstaltungen bedacht werden. Im Falle der Barmer Theologischen Erklärung ist es interessant, sich die unterschiedlichen Akzentuierungen in den einzelnen Jahrzehnten anzuschauen.
Beim großen Barmen-Jubiläum 1984 stand die zweite These im Mittelpunkt. Das erklärt sich einerseits aus dem Grad der Politisierung des damaligen Protestantismus, wo es um die großen Themen Frieden und weltweite Gerechtigkeit ging – am Horizont tauchte auch die Ökologie, damals symbolisiert durch das „Waldsterben“, auf –, andererseits aber aus den Versuchen des letzten Aufgebots des Barthianismus, noch einmal die „Systemfrage“ zu stellen und die „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“ zu proklamieren.
Zehn Jahre später war es zum 60. Jahrestag die fünfte These, die besonderes Interesse auf sich zog. Nach dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung 1990 stand, kurzzeitig herausgefordert durch die Erfahrung der Kirchen in der DDR, das Staat-Kirche-Verhältnis im Mittelpunkt der Debatten, und „Barmen“ diente als mahnendes Wort angesichts des längst in die Wege geleiteten „Weiter so“.
Zum 80. Jahrestag erfreut sich die dritte These, in der die Kirche vorgestellt wird als „die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“, besonderer Aufmerksamkeit. Diese Gemeinde habe mit ihrem Glauben, ihrem Gehorsam, ihrer Botschaft und mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass „sie allein sein Eigentum ist“. Die Frage stellt sich, ob es irgendeinen Anhaltspunkt in den aktuellen Debatten für die Gültigkeit dieses Kirchenverständnisses gibt. Irgendwie erscheint diese These im Blick auf die gegenwärtige „Kirche im Reformstress“ (Isolde Karle) nur noch als theologische Lyrik für die Sonntagsreden.
Die gegenwärtige Richtung, so sagen die Kritiker, werde eher durch den Verwerfungssatz der dritten These beschrieben: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“ Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Kirche nicht nur durch ihre Botschaft, sondern auch durch ihre Ordnung das Evangelium Jesu Christi bezeugt. Für die Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus war das unmittelbar einleuchtend. Ein Pfarrer, der Teil des nationalsozialistischen Machtapparates ist, kann nicht glaubwürdig über die in Christus geschenkte Freiheit predigen.
Schwerer zu verstehen ist jedoch, warum für die Kirche im demokratischen Staat das gleiche gilt. Aber ein – wie in „Kirche der Freiheit“ geforderter – Umbau der Kirche nach den Vorstellungen von Unternehmensberatern, die zu möglichst effizienten Führungsstrukturen auf Kosten der Mitbestimmung in den Synoden raten, kann auch die frohe Botschaft verdunkeln. Wie sollte ein Angestellter des Unternehmens Kirche glaubhaft über den Barmen III vorgestellten Text Eph 4, 15-16 predigen?
Es ist nun mal so eine Sache mit den Erklärungen und Bekenntnissen der Alten. Man erinnert immer wieder gerne an sie und vor allem an die Heldentaten derer, die sie damals formuliert haben. Man macht sich aber selten klar, dass sie das Ergebnis realer Auseinandersetzungen sind und mit dem Ende dieser Auseinandersetzungen zwar nichts von ihrer grundsätzlichen Richtigkeit, aber eben doch ihre damalige Passgenauigkeit verloren haben. Versuche wie etwa 1984, gegenüber dem demokratischen Staat „bekennende Kirche“ zu simulieren, wirkten genauso hilflos wie heutige Versuche, das in „Kirche der Freiheit“ propagierte Reformprogramm als reformatorisches Kirchenverständnis im Sinne von Barmen III zu verkaufen.

Müller, Marx und der kurze Dienstweg in den Vatikan

Von Martin Schuck

Reinhard Marx kokettiert gerne mit seinem Familiennamen. 2008, da war er gerade als Erzbischof von München und Freising eingeführt, veröffentlichte er ein Buch mit dem sinnigen Titel „Das Kapital“. „Statt einer Einleitung“ gab es einen fiktiven Brief „Marx schreibt an Marx“, in dem der Namensvetter Karl über die Vorzüge seines Zeitgenossen Wilhelm Emmanuel von Ketteler aufgeklärt wurde. Ketteler wurde 1850 Bischof von Mainz und ging als „Arbeiterbischof“ in die Geschichte ein. Marx (Karl), auch das erfahren wir bei Marx (Reinhard), fühlte sich durch Ketteler gehörig genervt, denn er schrieb 1869 nach einer Reise durch das Rheinland an Friedrich Engels: „Bei dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und Fahrt den Rhein herauf, habe ich mich überzeugt, dass energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. Ich werde in diesem Sinne durch die Internationale wirken. Die Hunde kokettieren (z.B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage.“
Der Ausgang dieser Geschichte ist bekannt. Das Kokettieren der – nennen wir sie so: Pfaffen – mit der Arbeiterfrage führte zu einigen sehr respektablen Ergebnissen, die sich im katholischen Bereich nicht nur in mehreren Enzykliken und zahlreichen Sozialworten niederschlugen, sondern auch eine katholische Arbeitnehmerbewegung und zahlreiche weitere Organisationen im Laienkatholizismus zuwege brachte. Im außereuropäischen Bereich entstanden Bewegungen wie die Theologie der Befreiung in Lateinamerika, die nicht nur auf das säkulare Wirtschaftsleben Einfluss ausübten, sondern die Kirche selbst zu verändern versuchten.
Als vorläufiges Fazit dieser Entwicklung kann festgehalten werden, dass der Marxismus zwar kurzzeitig das Gesicht der Welt verändern konnte, aber seine Rolle als sozialpolitischer Antreiber verloren hat; die katholische Kirche dagegen konnte mit ihrer Soziallehre nur selten alleine etwas erreichen, gilt dafür aber auch heute noch in zahlreichen Gesellschaften als wichtiger Impulsgeber – und sei es nur für die Sonntagsreden, in denen den vom neoliberalen Reformalltag gestressten Politikern Mut zum Durchhalten gemacht werden soll. Und damit kommen wir zur Rolle, die Reinhard Marx als Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz spielen wird.
In der Führungsetage der römisch-katholischen Kirche wird seit der Wahl von Papst Franziskus vor einem Jahr ein neuer Stil gepflegt. Der Papst selbst trägt eine erkennbare Bescheidenheit als Markenzeichen vor sich her; das verunsicherte zunächst die Würdenträger innerhalb der Kurie, denn es war völlig unklar, wer seine Ämter behalten durfte und wer gehen musste. Spätestens mit der Ernennung des von Benedikt XVI. in das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation beförderten Gerhard Ludwig Müller zum Kardinal ist allerdings ein deutliches Zeichen gesetzt: In den Fragen der kirchlichen Lehre wird Franziskus keinen Deut von der konservativen Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils abweichen, sondern sogar die Müller’schen Zuspitzungen zumindest tolerieren. In den Fragen der Soziallehre jedoch gilt der Weg, den der Papst als Kardinal Bergoglio bereits erfolgreich eingeschlagen hat: persönliche Bescheidenheit und karitative Zuwendung, sozusagen die Pflege der unpolitischen Restbestände der Theologie der Befreiung – eben das, was nach der Zerschlagung des politischen Kerns dieser Bewegung durch die Personalpolitik Johannes Pauls II. übrig geblieben ist. Hier genau passen Bergoglio und Müller zu mehr als hundert Prozent zusammen, denn auch der hierzulande als konservativ bis reaktionär verschrieene Müller hat seine besten Freunde genau dort, wo man sie nicht vermuten würde, etwa beim „Vater der Befreiungstheologie“, Gustavo Gutièrrez, der Müller wegen seines sozialen Engagements in den Armenvierteln von Lima über alle Maßen lobt und sogar mit ihm gemeinsam ein Buch geschrieben hat.
Auch Reinhard Marx passt formvollendet in dieses Profil des lehramtstreuen, sozialkaritativen Katholizismus. Unvergessen ist sein hartes Vorgehen gegen Gotthold Hasenhüttl nach dem Ersten Ökumenischen Kirchentag 2003, als er dafür sorgte, dass diesen seine offene Einladung zur Eucharistie an alle Christen zuerst das Priesteramt und dann die Lehrerlaubnis kostete. Unabhängig davon gilt Marx als mahnende Stimme gegen den enthemmten Kapitalismus und als Kämpfer für eine Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft alter Prägung. In seinem Buch „Das Kapital“ betont er, ein „Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit“ habe „keine Moral und auch keine Zukunft“. Das sind Sätze, die sich nach dem Rheinischen Kapitalismus zurücksehnen, die sich von Franziskus aber auch gut in den südamerikanischen Kontext übersetzen lassen.
Man kann somit feststellen, dass die deutschen Bischöfe, die den kurzen Schock nach dem Amtsverzicht ihres Kollegen überwunden haben, den kurzen Dienstweg in den Vatikan wieder herstellen. Neben Müller ist Marx einer der engsten Mitarbeiter des Papstes; schon zu Beginn seines Pontifikats berief dieser Marx als einzigen Europäer in seinen achtköpfigen Kardinals-Beraterstab, und erst vor wenigen Wochen ernannte er ihn zum Koordinator des neugegründeten vatikanischen Wirtschaftsrates. Schon bevor der Rücktritt Benedikts XVI. absehbar war, kaufte Marx in Rom für fast zehn Millionen Euro eine stattliche Villa, weil das Erzbistum München-Freising schließlich eine Repräsentanz nahe beim Vatikan braucht.
Für die deutschen Bischöfe werden die häufigen Aufenthalte ihres Sprechers in Rom kein Schaden sein. In unsicheren Zeiten können sie darauf bauen, dass Marx dafür sorgen wird, dass die Kirche der Armen, von der der Papst aus Südamerika immer redet, schon nicht so schlimm wird. So etwas wie Limburg geht ja schon heute nicht mehr gut, und für die den Bischöfen wichtigen Fragen wie die Beibehaltung des Status quo beim Priesteramt und der Eucharistie interessiert sich dieser Papst nicht wirklich.

Islamische Phobien

Martin Schuck

Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide hat ein ernstes Problem. Wie die Rheinpfalz am 19. November berichtete, werfen ihm muslimische Verbände vor, Irrlehren zu verbreiten. Normalerweise kann man über einen solchen Vorwurf lachen oder sich gemäß dem Motto „Viel Feind, viel Ehr“ geehrt fühlen; das Problem des Mouhanad Khorchide besteht aber darin, dass er an der Universität Münster am Zentrum für Islamische Theologie angehende Lehrer für das Schulfach Islamische Religionslehre ausbilden soll. Damit gerät er direkt in die Schlingen des deutschen Staatskirchenrechts, und an seinem Fall wird exemplarisch klar, dass es sich eben um ein Staatskirchenrecht handelt und nicht, wie sich manche wünschen, um ein Religionsverfassungsrecht, das gleiche gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten für alle Religionen anstrebt.

Betrachtet man die Debatte um die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts, wie sie seit fast zwei Jahrzehnten geführt wird, fallen drei unterschiedliche Interessenlagen auf. Zum ersten, aus der Sicht der muslimischen Verbände, geht es um die Teilhabe an einem Privileg, das direkt aus dem Körperschaftsstatus der christlichen Kirchen folgt und durch diesen begründet wird. Zum zweiten, aus der Sicht der Kirchen, geht es um die Hoffnung, dass die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts wie eine Lebensversicherung für den eigenen konfessionellen Religionsunterricht wirkt. Zum dritten, aus der Sicht des politischen Systems, geht es um die befriedende Wirkung für das Gemeinwesen, die einem islamischen Religionsunterricht zugeschrieben wird; in einem Unterricht, gehalten in deutscher Sprache von einer an einer deutschen Universität ausgebildeten Lehrkraft, wird ein anderer Islam gelehrt als in einer fundamentalismusanfälligen Moschee, so das Hauptargument. Zum Artikel.

Gedanken zu einem Interview mit Papst Franziskus – Mittelklasse der Heiligkeit (Thema des Monats )

Von: Martin Schuck

Der Vatikankorrespondent Andreas Englisch bezeichnete vor einigen Wochen in einer Fernsehsendung Jorge Mario Bergoglio als »Albtraum der Kurie«. Tatsächlich bricht dieser seit seiner Wahl zum Papst Denkblockaden und Diskussionsverbote auf. Deutlich wurde das nicht nur in dem Interview vom 19. August 2013 mit dem Jesuitenpater Antonio Spadaro, das weltweit in allen jesuitischen Zeitschriften veröffentlicht wurde, sondern schon bald nach seinem Amtsantritt durch die Berufung einer Expertengruppe von acht Kardinälen aus allen Kontinenten und aktuell durch sein erstes apostolisches Schreiben »Evangelii gaudium«.

Der achtköpfige Kardinalsrat hat den Auftrag, Franziskus bei der Umstrukturierung der röm.-kath. Kirche zu beraten; da mit Giuseppe Bertello, dem früheren Nuntius von Mexiko, nur ein einziger Kurienkardinal dieser Gruppe angehört, deutet sich ein Perspektivenwechsel an: Seit dem Pontifikat Pius’ IX. (1846-1878) wurde vom Vatikan aus die Architektur der Weltkirche bestimmt, jetzt aber sollen Vertreter aus den einzelnen Regionen dieser Kirche die Architektur des Vatikan neu ordnen. Die Tatsache, dass mit dem Münchner Erzbischof Reinhard Marx ein konservativer Vertreter scholastischer Lehramtstheologie in diesem Gremium sitzt, deutet darauf hin, dass keine revolutionären Umwälzungen in der Theologie zu erwarten sind. Bei genauerem Hinsehen verkörpert Marx das europäische Pendant des Südamerikaners Bergoglio: konservativ in der Auslegung katholischer Morallehre, aber mit einem Blick für strukturelle Ungerechtigkeit der gegenwärtigen turbokapitalistischen Wirtschafts- und Finanz­ordnung.

Als Papst Franziskus hat Bergoglio rasch begonnen, die Kirche mit dem Maßstab des Lateinamerikaners zu vermessen. Bergoglio ist ein Vertreter derjenigen Generation von Bischöfen, die von Johannes Paul II. eingesetzt wurden, um mit der Theologie der Befreiung aufzuräumen. Die nicht ganz einfache Mission dieser in den späten 1980er und 1990er Jahren eingesetzten Bischöfe bestand darin, die lateinamerikanische Kirche, deren Bischofskonferenz sich bei ihrer Vollversammlung in Medellin 1968 in ihrem Handeln für eine »vorrangige Option für die Armen« verpflichtet hatte, glaubhaft zu repräsentieren, ohne dabei theologisch von der Linie des Lehramtes abzuweichen und politisch auf linke Abwege zu geraten. Dieses Kunststück ist Bergoglio hervorragend gelungen, indem er persönliche Bescheidenheit mit Dialogbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit zu verbinden wusste.
Der vollständige Artikel.

 

Zentralisierung in der evangelischen Publizistik

In keinem kirchlichen Arbeitsbereich sind die Zentralisierungsbestrebungen in Richtung EKD, wie sie im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ 2006 gefordert wurden, so weit fortgeschritten wie im Bereich der evangelischen Gebietspresse und Publizistik. Kurz nach dem Beschluss zur Gründung des Magazins Chrismon setzte ab 2000 eine Tendenz ein, die man als „Chrismonisierung der EKD-Publizistik“ beschreiben könnte.

Traditionsreiche kirchliche Wochenblätter wurden aufgegeben und durch von den Stabstellen für Öffentlichkeitsarbeit der Landeskirchen produzierte regionale Chrismon-Plus-Ausgaben ersetzt. In der Badischen Landeskirche wurde der unabhängige Presseverband schon vor Jahren aufgelöst, in der Rheinischen Landeskirche wird er derzeit abgewickelt. Allerdings ist auch in beiden Landeskirchen das Experiment „Chrismon Plus“ bereits gescheitert. Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit ist eben doch etwas kategorial anderes als unabhängiger Journalismus.

All diese Entwicklungen werden angestoßen vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP), das längst kein Gemeinschaftswerk der Landeskirchen und kirchlichen Werke und Verbände mehr ist, sondern nur noch einen einzigen Gesellschafter hat: die EKD.

Martin Schuck

Kirche im Neoliberalismus

…10. Bereits 1972, lange vor dem Beginn des neoliberalen Zeitalters, unterschied Martin Niemöller zwischen dem wahren und dem wirklichen Herrn der Kirche. Der wahre Herr, so Niemöller damals, sei Christus, der wirkliche Herr sei der Mammon. Die restlose Verdrängung des wahren durch den wirklichen Herrn ist zwar nicht das Ziel, aber der leichtfertig in Kauf genommene Kollateralschaden vieler Reformprogramme der Kirche im Neoliberalismus. Lesen Sie den Artikel Kirche im Neoliberalismus von Pfr. Dr. Marin Schuck, Speyer.