Archiv für den Monat: März 2015

Frauen, Männer, Blues und Glauben. Von Prof. Gary Burnett.

03/2015, von Gary Burnett

(Gary Burnett lebt und arbeitet in Nordirland. Der Theologe unterrichtet Neues Testament und neutestamentliches Griechisch am Queen‘s University Institute of Theology in Belfast.)

Ist Blues eigentlich sexistisch und frauenfeindlich? Der Theologe und Blues-Enthusiast Gary Burnett schlägt in seinem Beitrag den Bogen von den ersten Blueskünstlern und ihren Songtexten zurück bis zur Bibel und vorwärts in die Gegenwart…

Blues-Musik, wie vieles andere in der populären Kultur in den vergangenen 100 Jahren hat zeitweise Frauen ignoriert, sie zu Objekten degradiert oder sie verunglimpft. Und wenn Sie denken, dass dies alles zur „Alten Geschichte“ gehört und dass die feministische Bewegung der letzten 50 Jahre gesiegt hat: Sexismus und Frauenfeindlichkeit ist in allen möglichen Ausdrucksformen noch immer verbreitet von den Boulevarzeitungen über Hip-Hop-Texte und Videos bis hin zum Heavy Metal, der Filmbranche oder der Mode- und Kosmetikindustrie. Oxfam hat vor kurzem gesagt: „Von London bis nach Lahore besteht die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen fort.“ Zum Artikel.

Braucht das Christentum ein Opfer? Ein Diskurs über das Fremde im eigenen Glauben. Mit Prof. Hans-Martin Gutmann und Prof. Wilhelm Gräb.

Ein Diskurs über das Fremde im eigenen Glauben
Im Rahmen der Evangelischen Akademiewoche 2014

Der Gedanke des Opfertodes Christi ist vielen Menschen ein Ärgernis.
Christus starb für unsere Sünden, heißt es in der Liturgie zum Abendmahl.
Anders formuliert: Unser Heil wurde durch eine Gewalttat erworben.
Widerspricht das nicht der Liebe Gottes? Wie ist Christi Opfer zu verstehen?
Als Sühnopfer für unsere Schuld, als Hingabe seines Lebens oder
als Akt der Versöhnung der Menschen mit Gott?

Daraus hier wenige Auschnitte:

Prof. Hans-Martin Gutmann: Überlegungen zum „Opfer“

… In den Erzählungen von Jesu Leben, seiner Kreuzigung und der von seinen Freund/innen erfahrenen Auferstehung wird der traditionelle Gewaltopfer-Mythos vom rettenden Tod des schuldigen Opfers anders erzählt, umerzählt und verwandelt. Nicht die Tötung steht im Zentrum dieser Erzählung, sondern das Dabei – Bleiben Gottes in der Situation des Schreckens und die Lebenshingabe Jesu an seine Freundinnen und Freunde: …

Dies schließt nicht nur liturgische, sondern auch politische Konsequenzen ein: Widerspruch gegen Strukturen des Opfern -Müssens, wo immer heute ihre zerstörerische Macht aufscheint – in lebensgeschichtlichen und kommunikativen Mustern, in ökonomischen Konstellationen, in politischen und zivilreligiösen Mythen.
In scharfer Auseinandersetzung mit der vom Klerus der Kirche geförderten do-ut-des Mentalität entwickeln die Reformatoren, insbesondere Luther, eine Theologie des radikalen Umsonst…

Wilhelm Gräb: Braucht das Christentum ein Opfer?
(Thesen zum Gespräch mit Hans-Martin Gutmann)

1. Das Christentum braucht keine Opfer, wenn es sich von dem Menschen Jesus her versteht, dem Menschen, der mit Gott vollkommen in Liebe verbundenen war.
2. Gott hat nicht den Tod Jesu am Kreuz verlangt, um der die gesamte Schöpfung und alle Menschen liebende Gott sein zu können.
3. Es ist überhaupt nicht Gottes Wille, dass Opfer gebracht werden müssen. Gott will weder, dass Menschen gewaltsam zu Opfern werden, noch dass sie sie meinen, sich um anderer willen selbst opfern zu müssen.

Die vollständigen Beiträge.

 Vgl. zum Thema Sühnetodvorstellungen auch die Ausführungen bei Pfr. Günter Unger/München in seinem Buch „Das Glaubensbekenntnis“. Die Rezension finden Sie hier.

 

 

 

Substanzerhaltungsaufwand für Gebäude einer durchschnittlichen Kirchengemeinde bei rund 200.000 €/ Jahr (so Bistum Freiburg) ?

03/2015, von Friedhelm Schneider

In der Zeitschrift für Kirche und Recht (KuR, S. 515ff) erschien 2014 der Aufsatz „Bewertung und Bilanzierung kirchlicher Gebäude“ von Dipl. Finanzwirt Linus Becherer.

Der Autor bewertet den finanziellen Aufwand einer Kirchengemeinde für den herkömmlichen Gebäudebestand aus Kirche, Pfarrhaus, Gemeindehaus und Kindergarten und stellt die bilanziellen Folgen (und erwartete Wirkungen bei den Betroffenen) dar. Damit werden also auch die Absichten der an „kirchlichen Notwendigkeiten orientierte(n) vollständige(n) Bewertung und Bilanzierung der kirchlichen Immobilien bzw. des kirchlichen Vermögens und der Schulden“ deutlich. Das Ergebnis gilt selbstredend nicht allein für das Bistum Freiburg, sondern für alle katholischen Bistümer und evangelischen Landeskirchen, darüber hinaus aber auch für Kommunen und Staat in gleicher Weise.

Die Ermittlung des Aufwandes zur Erhaltung der Gebäude erfolgte nach der Immobilienwertvordnung, ein Verfahren, das mit pauschalen Ansätzen operiert. Angeblich würde sich das rechnerische Ergebnis mit dem empirischen Befund aus der Praxis im Bistum Freiburg decken. Danach wird für die Erhaltung p.a. benötigt 
für eine Kirche (2235 qm BGF) 61.149 €
für ein Pfarrhaus (640 qm BGF) 20.121 €
für ein Kindergarten (1071 qm BGF) 48.709 €
für ein Gemeindehhaus (2031 qm BGF) 67.266 €

Fazit: „Somit müßte die Kirchengemeinde jährlich rund 200.000 € zurückstellen, um die langfristigen baulichen Verpflichtungen der Immobilien gerecht zu werden. Allerdings sind die Kirchengemeinden auf Grund ihrer finanziellen Gesamtsituation in der Regel gar nicht in der Lage diese Rückstellungen zu bilden und einzustellen. Deshalb obliegt es den örtlichen Gremien selbst einen Betrag festzulegen, der in der Bilanz berücksichtigt wird.“

Wie also geht die Kirchengemeinde mit dem Problem der Darstellung in der Bilanz um? In diesem Fallbeispiel stellt sie den größeren Teil des rechnerischen Betrages, der faktisch mit Haushaltsmitteln etc. nicht erbracht werden kann, auf der Passivseite als Fremdkapital ein (Verbindlichkeiten aus Bausbstanzerhaltung, im Beispiel: 110.000 €), auf der Aktivseite als „fehlendes Vermögen für Bausubstanzerhaltung“. Unterstellt wird also, die Kirchengemeinde könne 90.000 € tatsächlich als Finanzanlagen (aktiv) zurückstellen. Der größere Betrag wird als „fiktive  Verschuldung“ in die Bilanz eingestellt. Bei einem Wertansatz kirchlicher Gebäude mit 1 € pro Objekt ist die Kirchengemeinde damit schon bei der Eröffnungsbilanz in den Miesen.

Als wesentliches Ergebnis der Operation wird festgehalten

„Die wirtschaftliche Situation in der Bilanz der Kirchengemeinde wird transparent dargestellt, so dass sichtbar wird, ob und ggf. in welchem Umfang sie sich den heutigen Gebäudebestand noch leisten (fett und kursiv im Original!) kann.“

Solche Zahlen sagen also: die Kirchengemeinde kann sich den Gebäudebestand nicht leisten. Sie muss sich in der Folge von den „Lasten der Gebäude“ (das alte Thema der Kirche in neuem Gewand) befreien. Hätte man diese Bilanz vor 30 aufgestellt, was wäre dann passiert? Die Gemeinde hätte schon vor 30 Jahren angefangen, Ihre Immobilien zu verkaufen… In vielen Fällen hätte sie dann ihre Tafelsilber schon frühzeitig verscherbelt. Das gilt insbesondere für das Bistum Freiburg – einer Region mit den heute höchsten (und in den letzten Jahren mit am stärksten gestiegenen) Immobilienpreisen in Deutschland. Gut also, dass man auf die Idee der Bilanzierung erst heute kommt und nicht schon vor 30 Jahren kam. So wurden zumindest in der zurückliegenden Zeit Schäden durch unnötige Desinvestitionen verhindert. Denn die Wertsteigerungen der zurückliegenden Jahre hätten bei einem früheren Verkauf ja nicht realisiert werden können.

Hier geht es aber mehr noch um die Bewertung der Gebäude und ihres Instandhaltungsaufwandes. Dazu kann man aus drei Perspektiven Stellung nehmen.

1. Immobilienwirtschaftliche Perspektive.  Die Immobilienwirtschaftliche Perspektive unterscheidet sich von der finanzwirtschaftlichen dadurch, dass sie nicht pauschalen Ansätzen operiert, sondern auf der Basis von realen Daten vorauschauend kalkuliert. Zusätzliches Instrument ist dann die Definition von angestrebten Instandhaltungsniveaus für die Gebäude. Die Immobilien müssen nicht – wie die finanzwirtschaftliche Perspektive unterstellt – immer auf höchstem Niveau instand gehalten werden. Eine entsprechende Untersuchung in einem Kirchenkreis der EKiR (Kkrs Ottweiler) im Jahr 2005 von K.IM. Kirchliches Immobilienmanagement hat bestätigt, dass der Bestand auf der Basis der immobilienwirtschaftlichen Perspektive mit deutlich weniger finanziellem Aufwand auf ausreichendem Niveau gehalten werden kann als die doppische Pauschalbewertung/NKF rechnerisch fordert.  

2. Man vergleiche dazu die Erkenntnis der kirchlichen Bauämter der ehemaligen DDR. In Ostdeutschland lag die letzte Bau- und Sanierungsepoche kirchlicher Gebäude vor der Wende 80 Jahre zurück – es war die Kaiserzeit. Die empirisch belegte Erkenntnis:  gerade kirchliche Immobilien (historische Gebäude) müssen hinsichtlich der Substanzerhaltung nicht nur mit hohem Aufwand (s. die Berechnung einer reichen Diözese) auf höchstem Niveau erhalten werden, sondern können über Jahrzehnte auf niedrigem (bzw. in der DDR_Zeit niedrigstem) Stand mit geringstem Aufwand erhalten werden. (Darunter gäbe es dann als Strategie noch die sog. „Überwinterung“, die Erhaltung ohne Budget.) Nimmt man diese Erfahrung aus Ostdeutschland, dann entpuppen sich auf finanzwirtchaftliche Weise errechnete fiktive bilanzielle Millionenprobleme („fehlendes Vermögen für Bauinstandhaltung“) als reine Panikmache.

3. Näher und greifbarer als die beiden ersten Betrachtungen liegt dem Badener Bürger und Christ wahrscheinlich der Vergleich mit dem eigenen Häusle, für das er unter Berücksichtigung unterschiedlicher Größe gegenüber dem Pfarrhaus einen deutlich niedrigeren Ansatz im eigenen Budget einplant. Was er kopfrechnend selbst überschlagen und erkennen kann.

Fazit: Der Blick in die Bilanz reicht ganz offensichtlich nicht, um die Realität der Immobilienlage realitätsnah zu erkennen, darzustellen und daraus eine plausible Immobilienstrategie für die Kirche abzuleiten. Kein professioneller Immobilienbesitzer würde allein mit bilanziellen oder finanzwirtschaftlichen Zahlen seinen Bestand steuern. Auch die Kirche will dies nicht. Mit der Bilanz wird offensichtlich eine ganz andere, leicht durchschaubare  Absicht verfolgt. Aber: man erkennt die Absicht und man ist verstimmt. Leute mit gesundem Menschenverstand, von denen es vor Ort sehr viele Menschen gibt, werden sich durch solche bilanzielle Dramatisierungen und Panikmache also nicht blenden lassen. Was aber bei und mit solchen Operationen passieren wird: die betroffenen Menschen werden verstimmt, sie werden den Glauben verlieren. Nicht den Glauben an Gott, aber den Glauben an die (real existierende) Kirche. Man vergleiche dazu das Anwachsen der Kirchenmitglieder, die sich der Kirche nur noch wenig Verbundenen  in der 5. KMU (evangelischerseits) und die Kirchenaustrittszahlen. Diese Ergebnisse resultieren natürlich nicht hauptsächlich aus der aus der bilanziellen Darstellung abgeleiteten falschen Immobilienstrategie, aber sie werden dadurch gefördert.

Kirchenaustritte infolge der Kapitalertragskirchensteuer („Kirchenabgeltungssteuer“) vielerorts verdoppelt

Rheinland: Zahl der Kirchenaustritte hat sich verdoppelt
Von Claudia Kasemann

Wuppertal. Die Zahl der Kirchenaustritte in Wuppertal hat sich nahezu verdoppelt: „Bis 2009 waren es monatlich etwa 30 Austritte, im ganzen Jahr etwa 350 bis 400“, sagt Pastoralreferent Dr. Werner Kleine von der Katholischen Citykirche Wuppertal. Nun seien es 50 bis 60 Katholiken pro Monat, die sich von der Kirche abmeldeten. Allein im vergangenen Monat seien 43 katholische und 74 evangelische Christen ausgetreten. Im Januar waren es 47 Katholiken und 90 Protestanten.“…

EKM: Zahl der Kirchenaustritte verdoppelt sich

14.02.2015 

Halle (ots) – Die Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Ilse Junkermann, hat in einem Gespräch mit der in Halle (Saale) erscheinenden Mitteldeutschen Zeitung (Samstagausgabe) die Zahl der Austritte aus ihrer Kirche auf früher jährlich 5.000 beziffert. Durch die Irritation

Rheinland: Zahl der Kirchenaustritte hat sich verdoppelt
Von Claudia Kasemann

Wuppertal. Die Zahl der Kirchenaustritte in Wuppertal hat sich nahezu verdoppelt: „Bis 2009 waren es monatlich etwa 30 Austritte, im ganzen Jahr etwa 350 bis 400“, sagt Pastoralreferent Dr. Werner Kleine von der Katholischen Citykirche Wuppertal. Nun seien es 50 bis 60 Katholiken pro Monat, die sich von der Kirche abmeldeten. Allein im vergangenen Monat seien 43 katholische und 74 evangelische Christen ausgetreten. Im Januar waren es 47 Katholiken und 90 Protestanten.“…

EKM: Zahl der Kirchenaustritte verdoppelt sich

14.02.2015 

Halle (ots) – Die Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Ilse Junkermann, hat in einem Gespräch mit der in Halle (Saale) erscheinenden Mitteldeutschen Zeitung (Samstagausgabe) die Zahl der Austritte aus ihrer Kirche auf früher jährlich 5.000 beziffert. Durch die Irritation um Kirchensteuern auf Vermögen habe sich diese Zahl 2014 verdoppelt…

HEIDENHEIM/Württemberg: Zahl der Kirchenaustritte hat sich verdoppelt
| 01.01.2015

…175 evangelische, 129 katholische und ein neuapostolischer Christ haben vergangenes Jahr ihren Kirchen Ade gesagt. Das bedeutet in Summe 305 kirchlich Gebundene weniger im Standesamtsbezirk, die damit überhaupt keine Kirchensteuer mehr bezahlen. Dabei war bereits im Jahr 2013, in dem die Geldverschwendung für den Kirchenbau in Münster durch Bischof Tebartz-van Elst für Schlagzeilen gesorgt hatte, die Zahl der Kirchenaustritte erheblich gestiegen. 209 Christen kehrten ihrer Kirche den Rücken. Im Jahr 2012 hatte es gerade 149 Kirchenaustritte gegeben…

EKHN: Viele Kirchenaustritte

23.01.2015 

Gießen (si). In der Stadt und dem Landkreis Gießen sind im vergangenen Jahr genau 1816 Menschen aus den beiden großen christlichen Kirchen ausgetreten – 400 mehr als im »Rekordjahr« 2013. Gegenüber 2012 hat sich der Wert sogar verdoppelt.

Das zeigen die aktuellen Daten der Nachlass- und Registerabteilung des Gießener Amtsgerichts, das im Bezirk für die Kirchenaustritte zuständig ist.

um Kirchensteuern auf Vermögen habe sich diese Zahl 2014 verdoppelt…

HEIDENHEIM/Württemberg: Zahl der Kirchenaustritte hat sich verdoppelt
| 01.01.2015

…175 evangelische, 129 katholische und ein neuapostolischer Christ haben vergangenes Jahr ihren Kirchen Ade gesagt. Das bedeutet in Summe 305 kirchlich Gebundene weniger im Standesamtsbezirk, die damit überhaupt keine Kirchensteuer mehr bezahlen. Dabei war bereits im Jahr 2013, in dem die Geldverschwendung für den Kirchenbau in Münster durch Bischof Tebartz-van Elst für Schlagzeilen gesorgt hatte, die Zahl der Kirchenaustritte erheblich gestiegen. 209 Christen kehrten ihrer Kirche den Rücken. Im Jahr 2012 hatte es gerade 149 Kirchenaustritte gegeben…

EKHN: Viele Kirchenaustritte

23.01.2015 

Gießen (si). In der Stadt und dem Landkreis Gießen sind im vergangenen Jahr genau 1816 Menschen aus den beiden großen christlichen Kirchen ausgetreten – 400 mehr als im »Rekordjahr« 2013. Gegenüber 2012 hat sich der Wert sogar verdoppelt.

Das zeigen die aktuellen Daten der Nachlass- und Registerabteilung des Gießener Amtsgerichts, das im Bezirk für die Kirchenaustritte zuständig ist.

Veränderte Herausforderungen für Pfarrerinnen und Mitarbeiter im Verkündigungsdienst

Der Vortrag wurde vom Vorsitzenden des Thüringer Pfarrvereins Pfarrer Martin Michaelis auf Einladung des Generalbischofs der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der Slowakei Miloš Klátik während der jährlich stattfindenden Studientagung der Dreikirchenpartnerschaft am 10. Oktober 2014 in Belušské Slatiny, Slowakei gehalten. Die Studientagung stand unter dem Thema: „Veränderte Herausforderungen für Pfarrerinnen und Mitarbeiter im Verkündigungsdienst“.

Der Vortrag wird auf Wunsch der Teilnehmer der gastgebenden Kirche in slowakischer Sprache auch im Informationsheft des slowakischen Pfarrvereins „Melanchthon“ erscheinen.

1. Erscheinungsbilder unserer Zeit
Was ist das: unsere Zeit? Die Zeit in der ich bisher gelebt habe. Die Zukunft kenne ich noch nicht. Aufgewachsen und ausgebildet in der DDR mit anschließender Dienstzeit im Pfarramt in den 25 Jahren nach der Wende, versuche ich mir zu erklären, was da geschehen ist und geschieht.
Die Zeit im Sozialismus haben wir zu überdauern, manche auch zu überstehen gesucht, eben angepasst oder standhaft. Es war ein Weg zwischen Protest und Anpassung, sich in die Gegebenheiten fügen oder doch etwas anderes wenigstens versuchen, oder beides, eigentlich immer in dem Gefühl, dass ein solches System nicht von Dauer sein kann, wenngleich den Ideologen ein Nach-dem-Sozialismus/Kommunismus undenkbar war. Den langen Atem der Kirchengeschichte empfand ich damals als das Durchtragende, Verlässliche, auch Hoffnung Gebende.
Die Kirchen gehörten mehr und mehr in gesellschaftliche Nischen. Manche wollten dort nicht sein, andere zog es genau dahin. Es gab einen dem politischen Druck geschuldeten nie dagewesenen Mitgliederschwund in den Gemeinden. Geradezu trotzig haben wir an Glauben und Kirche festgehalten. Kirchen nutzbar und Pfarrhäuser bewohnbar gehalten, soweit das irgend ging. Kaum eine Pfarrstelle wurde aufgegeben, allenfalls gab es sogenannte Dauervakanzen. Wir wollten alles für die Zeit danach erhalten, irgendwie. Sich in geringe Entlohnung fügend gab es fast genug Nachwuchs, darunter so manchen etwas ausgefallenen Pfarrer.
Dann kam die Wende mit ihren ungeahnten und überwältigenden Möglichkeiten, mit Kirchensteuern und endlich höheren Gehältern, der Konzentration auf die Sanierung der Gebäude. Zwischen Größenwahn und Zukunftsangst wurden Projekte begonnen.
Bald darauf machte der Begriff von der Spaßgesellschaft die Runde. Nur wer witzig ist, sollte andere animieren können und damit ein Recht zum Überleben haben. Die FDP schrieb sich als Wahlziel die 18% auf die Schuhsohlen, verzehrte sich in zahllosen Gags, um zuletzt mit dem Wahlslogan „Wir sind dann mal weg, wie die Zensuren.“ auch dem letzten Wähler klar zu machen, wo man kein Kreuz mehr zu machen braucht. Sich selbst erfüllende Prophezeiungen nennt man das wohl.
Nun macht die Rede vom „demographischen Wandel“ die Runde. Kein Politiker und keine Kirchenleitung kommen um diese Worte herum.

Alles wird in Geld umgerechnet. Die im Umlauf befindliche Geldmenge übertrifft bei weitem das Bruttosozialprodukt, also das, was tatsächlich geleistet werden kann. Das Geld- und Anlagesystem, auf das wir uns bisher verlassen haben, steht kurz vor dem Kollaps, vielleicht. Genau weiß man das immer erst hinterher.

Alten- und Pflegeheime schießen wie Pilze aus dem Boden. Krankenhäuser werden zu Konzernen. Alles muss sich rechnen. Wir teilen die Gesellschaft in Gesunde, Kranke, Behinderte und Sterbende. Hier hat jeder seinen Platz, da lassen wir uns nichts nachsagen. Der Gesunde am Arbeitsplatz, der Kranke im Krankenhaus, der Behinderte in der Einrichtung, die Alten im Altersheim und die Sterbenden im Hospiz. Jeder hat seinen Platz. Da gehört er dann auch hin. Woanders möchten wir sie nicht sehen.

2. Die Reaktionen der evangelischen Kirche
Der Freude über die Grenzöffnung und dem Aufbruch folgte bald der Finanzdruck, der damit verbundene Zwang, den vermeintlich versäumten Pfarrstellenabbau nachzuholen, das Berechnen von Pfarrstellen, von Arbeitszeiten und Gemeindegliederzahlen, Dinge, die uns zuvor kaum interessiert hatten. Dem Bevölkerungsschwund und der veränderten Altersstruktur muss Rechnung getragen werden. Wir berechnen die Zukunft mit ihren finanziellen Möglichkeiten und noch wichtiger, dem, was nicht mehr möglich sein wird. Das wichtigste Hilfsmittel ist das Lineal, das nicht etwa an die tatsächlichen Einnahmen, sondern an die vorausberechnete Tendenz für die letzten Jahre angelegt und in die nächsten Jahrzehnte verlängert wird. Wer mit dem Geld und der Zukunft argumentiert, hat die Definitionshoheit. In nie dagewesenem Ausmaß werden Pfarrstellen gestrichen und Pfarrhäuser verkauft. Es scheint dazu keine Alternative zu geben. Wir begeben uns in eine Kürzungs- und Fusionshysterie, die weder vor Landeskirchen, noch vor Gemeinden und kirchlichen Werken halt macht.

der vollständige Text, vgl. S. 5ff

Ich unterzeichne aus Sorge um die zunehmende Neoliberalisierung in unserer Kirche. Neue Komentare zur Petition „Wormser Wort“.

 Seit 29.12.14 steht das Wormser Wort als Online-Petition im Netz. An dieser Stelle veröffentlichen wir schon zuvor dort angebrachte Kommentare und neue Kommentare.  Wir setzen die Veröffentlichung heute mit Teil V fort: 

Dorothea J.

Es ist unverantwortlich, den Gemeindepfarrern immer mehr Dorfgemeinden zuzuteilen, die sie kaputt machen.

Volker D.
Weil nicht die Kirchenbürokratie bestimmen darf, wie Kirche zu sein hat.

Erhard W.
ich unterzeichne aus Sorge um die zunehmende Neoliberalisierung in unserer Kirche.

Ute S.
Wegen der Anpassung der EKD an den neoliberalen Trend und der damit verbundenen Preisgabe von Inhalt und Sinn bei gleichzeitigem Druck auf die in den Gemeinden angestellt und ehrenamtlich arbeitenden Menschen.

Karola G.
Ich arbeite mit in Gemeinde in Berlin. Wir sind durch die Halbtagsstelle unserer Pastorin sehr eingeschränkt.

Matthias W.
meine Sorge ist, dass die Landeskirchenämter sich immer mehr von Juristen bestimmen und leiten lassen.

Heinz-Udo K.
meine Sorge ist, dass unsere eigentlichen Kernaufgaben durch immer mehr Verwaltungstätigkeit von Pfarrern in den Hintergrund geraten.

„Führungskräfte, die ihren Mitarbeitern klar signalisieren: Ich stehe hinter dir… agieren extrem gesundheitsförderlich.“ Interview mit der Biologin Carola Kleinschmitt in der FAZ.

05.01.2015, FAZ, Interview mit der Biologin Carola Kleinschmidt.

„…

Frau Kleinschmidt, Sie beschäftigen sich mit neuen Erkenntnissen aus der Stressmedizin. Was hat Sie am meisten überrascht?

Es ist erstaunlich, wie sehr Druck am Arbeitsplatz mit unserem Gefühlsleben zusammenhängt. Wenn ich beispielsweise unter Zeitdruck an einer anspruchsvollen Aufgabe sitze, macht mich jeder, der mich stört, ärgerlich oder sogar richtig wütend. Ich möchte auf keinen Fall scheitern. Da kommen deutlich mehr negative als positive Gefühle auf, übrigens auch bei tollen Projekten…

Also geht es wieder um das große Thema Wertschätzung im Beruf?
Vor allem darum, dass die Anerkennung letztlich ein Signal für die wichtigere Botschaft ist: Du gehörst dazu. Der Düsseldorfer Medizinsoziologe Johannes Siegrist (vgl. Die Ursache für Burnout liegt in der Arbeitswelt) hat das mit seinen Studien zur „Gratifikationskrise“ belegt, in die geraten Menschen, wenn erstens die Anerkennung durch die direkte Führungskraft ausbleibt, sie zweitens nicht den Eindruck haben, das Gehalt sei angemessen für ihren Einsatz, oder sie drittens zu wenig persönliche Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Dazu gibt es beeindruckende Zahlen. Menschen mit einer Gratifikationskrise haben ein doppelt so hohes Risiko für einen Herzinfarkt oder eine Depression. Führungskräfte, die ihren Mitarbeitern klar signalisieren: Ich stehe hinter dir, schätze deine Leistung und stärke dich, damit du deine Arbeit gut machen kannst, agieren extrem gesundheitsförderlich…“  Zum vollständigen Text.

Der „wahre“ Islam und die Zumutung des Islamischen Staates. Von Martin Schuck.

Der Aufsatz ist zuerst erschienen als Editorial im Pfälzischen Pfarrerblatt 2/2015, 34-37.

Im Blick auf den islamistischen Terror taucht immer wieder die Versicherung auf, dieser habe nichts mit dem „wahren“ Islam zu tun. Begründet wird diese Behauptung damit, dass die überwiegende Mehrheit der Muslime Terror ablehne und in Frieden leben wolle. Diese Begründung ist allerdings wenig stichhaltig. Natürlich wollen die meisten Muslime, wie überhaupt die meisten Menschen, in Frieden leben. Auch in den Zeiten der Kreuzzüge im Mittelalter und in den Religionskriegen der frühen Neuzeit wollten die meisten Christen friedlich leben. Trotzdem werden gerade die Kreuzzüge von den Muslimen gerne als Argument herangezogen, um die friedliche Absicht des Christentums zu konterkarieren, und umgekehrt akzeptieren die Christen die Kreuzzüge als Teil ihrer nicht immer friedlichen Geschichte.
Allein dieser kurze Blick auf zwei widersprüchliche Sichtweisen macht deutlich: Das Friedenspotential einer Religion ist offensichtlich keine statische Größe, sondern unterliegt geschichtlichen Wandlungen. Weiterhin gibt es innerhalb einzelner geschichtlicher Epochen Ungleichzeitigkeiten innerhalb der Religion selbst. Im Falle des gegenwärtigen Islam widersprechen sich die kriegerische Erscheinungsweise in vielen Weltgegenden und der Friedenswille von 90 Prozent der Muslime keineswegs. Diese Ungleichzeitigkeit von Friedenswille und kriegerischer Absicht macht es unmöglich, verallgemeinernde Aussagen über das Verhältnis des Islam zu Krieg und Frieden, Terror und Gewaltlosigkeit sowie Despotismus und Rechtsstaatlichkeit zu treffen. All diese Phänomene existieren unter den anderthalb Milliarden Muslimen gleichzeitig, und auch die Frage der Mehrheitsverhältnisse ist nicht überall so eindeutig wie hierzulande; Rechtsstaatlichkeit etwa ist im gesamten Nahen und Mittleren Osten trotz einiger Versuche in der Vergangenheit bis heute weitgehend ein Fremdwort geblieben.
Irgendwo an der Grenze zwischen transnationaler Terrorbande und theokratischer Despotie ist der Islamische Staat (IS) anzusiedeln. Von einer reinen transnationalen Terrorbande wie Al-Qaida unterscheidet er sich durch die Strategie, zuerst die Umerziehung der „Ungläubigen“ in der muslimischen Welt vorzunehmen und dann erst den Dschihad in die restliche Welt zu tragen (während Al-Qaida mit dem Dschihad-Export beginnt). Mit einer theokratischen Despotie wie Saudi-Arabien verbindet den IS das Ziel eines islamischen Gottesstaates auf den Grundlagen der Scharia, und zwar in der denkbar strengsten Auslegung, wie sie nur von den wahhabitischen Rechtsschulen gelehrt wird. Der Unterschied zu Saudi-Arabien besteht eigentlich nur in den brutalen Methoden der Machtergreifung; diese Brutalität könnte jedoch nach einer Konsolidierungsphase geringer werden, wenn zur Machtsicherung die Zustimmung der Bevölkerung notwendig wird.
Wer theokratische Despotien wie Saudi-Arabien als gegenwärtige Verwirklichungsform des Islam akzeptiert – und die Nachrufe auf den kürzlich verstorbenen König Abdullah von den wichtigsten Politikern der westlichen Welt legen nahe, dass dies auf breiter Front der Fall ist –, kann kaum glaubhaft behaupten, dass der IS überhaupt nichts mit dem Islam zu tun haben soll. Blendet man einen Augenblick die Brutalität des IS aus, kann man Abu Bakr al- Baghdadi, den Führer des IS, beim Versuch beobachten, auf dem Gebiet zweier auseinanderfallender Staaten eine neue Form von Staatlichkeit wieder herzustellen. Um es deutlich zu sagen: Al-Baghdadi, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri heißt und 1971 im irakischen Samarra geboren wurde, kennt die Grundlagen des Islam besser als die meisten seiner Gegner. 2007 wurde er in Bagdad im Islamischen Recht promoviert, und er baut den IS mit dem großmäulig vorgetragenen Anspruch eines „Kalifats“ nach dem Muster anderer islamischer Staaten auf. Er hat mit Abu Ali al-Anbari und Abu Muslim al-Turkmani zwei ehemalige Generäle der Armee Saddam Husseins als Stellvertreter, die für die Provinzen in Syrien und Irak zuständig sind. Die drei Personen bilden zusammen das Emirat, dem neun Räte – mit Ministerien vergleichbar – unterstehen: der Führungsrat, der Schura-Rat (zuständig für religiöse Angelegenheiten), der Militärrat, der Rechtsrat, der Sicherheitsrat, der Geheimdienstrat, der Finanzrat, der Rat zur Unterstützung der Kämpfer sowie der Medienrat. Unterhalb dieser Regierungsebene gibt es zwölf Gouverneure in den sieben syrischen und fünf irakischen Provinzen des IS.
Die bisherige Entwicklung zeigt, dass der IS in seiner Entstehung ein Produkt des Irakkrieges und in seiner rasanten Ausbreitung im vergangenen Jahr eine Folge des syrischen Bürgerkrieges ist. Abu Bakr al-Baghdadi wurde 2004 für zehn Monate im US-Gefangenenlager Camp Bucca im Süden des Irak inhaftiert. Dort saß er zusammen mit Generälen und Geheimdienstleuten des Saddam-Regimes ein; fast die gesamte Führungsriege des IS lernte sich in Camp Bucca kennen. 2006 wurde dann im Irak der „Islamische Staat“ ausgerufen. Der Gründungsaufruf des ISI, wie sich die Gruppe fortan nannte, ist ein 16-Punkte-Katalog des klassischen Wahhabismus, in dem unter anderem betont wird, nach einem Spruch Mohammeds im Hadid, also der Überlieferung der Prophetensprüche, müssten Muslime von einem Muslim regiert werden. 2010 wurde Al-Baghdadi von seinen Gefährten zum Emir gewählt.
ISI verstand sich anfangs als Teil des Al-Qaida-Netzwerkes und vergrößerte sein Einflussgebiet im Irak. Im Syrien beteiligte sich Al-Qaida mit seiner Untergruppe Jabat al-Nusrah am Bürgerkrieg. Anfang 2013 mischte sich ISI ebenfalls in den syrischen Bürgerkrieg ein und nannte sich fortan ISIS. Im Oktober 2013 erklärte Al-Baghdadi den Zusammenschluss von ISIS und Al-Nusrah, gegen den Willen der Führung von Al-Nusrah und ohne Al-Qaida vorher gefragt zu haben. Nachdem der Aufruf des Al-Qaida-Führers Al-Zawahiri zur Einigung unerhört geblieben war, trennte sich Al-Qaida von ISIS. Seither distanziert sich Al-Qaida von der brutalen Unterdrückung der Bevölkerung durch ISIS. Am 29. Juni 2014 erklärte Al-Baghdadi das gesamte von ISIS besetzte Territorium zum Kalifat und nannte die Terrorgruppe um in IS, was den Anspruch untermauern sollte, den „Islamischen Staat“ eben nicht nur im Irak und in Syrien verwirklichen zu wollen, sondern weltweit.
Der IS ist ein neuer Machtfaktor im Nahen Osten, und sein Aufstieg zeigt deutlich, dass es sinnlos ist, unter dem Siegel des Islam auftretende radikale politische Verbände von einem „wahren“ Islam trennen zu wollen. Genauso wie das wahhabitische Saudi-Arabien und der schiitische Iran ist auch der „Islamische Staat“ im Norden Syriens und Iraks eine Realität, die den gegenwärtigen Machtanspruch des Islam abbildet und – wie der fast alle europäischen Länder betreffende Dschihad-Tourismus zeigt – eine enorme Anziehungskraft vor allem auf zum Islam konvertierte Jugendliche und junge Erwachsene ausübt. Soll der christlich-muslimische Dialog den Anspruch haben, über das reine Gespräch hinaus einen praktischen Nutzen zu bringen, muss er auch den dschihadistischen Islam als Realität akzeptieren – zumal diese Ausprägung des Islam auch das zukünftige Zusammenleben zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Bevölkerung hierzulande möglicherweise stärker prägen wird als dies gegenwärtig der Fall ist.
In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die These des US-amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington (1927 bis 2008) vom „Clash of Civilisations“ wieder neu in die Diskussion gekommen ist. Huntington hatte 1993 zunächst in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ und dann 1996 in einem voluminösen Buch die These vertreten, dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Weltpolitik nicht mehr von ideologischen Auseinandersetzungen bestimmt werde, sondern von Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen. „Die großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts heißen Liberalismus, Sozialismus, Anarchismus, Korporatismus, Marxismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Konservatismus, Nationalismus, Faschismus, christliche Demokratie. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind Produkte der westlichen Kultur. Keine andere Kultur hat eine signifikante politische Ideologie erzeugt. Der Westen hingegen hat niemals eine große Religion hervorgebracht. Die großen Religionen der Welt sind ausnahmslos in nichtwestlichen Kulturen entstanden und in den meisten Fällen älter als die westliche Kultur. In dem Maße, wie die Welt ihre westliche Phase hinter sich lässt, verfallen die Ideologien, die für die späte westliche Zivilisation typisch waren, und an ihre Stelle treten Religionen und andere kulturell gestützte Formen von Identität und Bindung. Die im Westfälischen Frieden etablierte Trennung von Religion und internationaler Politik, ein ureigenes Ergebnis westlicher Kultur, geht zu Ende, und die Religion wird, wie Edward Mortimer vermutet, ‚mit zunehmender Wahrscheinlichkeit in die internationalen Angelegenheiten eindringen’. Die intrakulturelle Auseinandersetzung um die politischen Ideen aus dem Westen wird abgelöst von einer interkulturellen Auseinandersetzung um Kultur und Religion.“
Huntingtons Analyse lagen Beobachtung von sogenannten „Bruchlinienkriegen“ zugrunde in Regionen, wo verschiedene Kulturkreise aufeinanderstoßen. Dabei kam dem Islam aufgrund der signifikanten Häufigkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen eine Schlüsselstellung zu. Huntington formulierte in seinem Essay in „Foreign Affairs“ den Satz: „Der Islam hat blutige Grenzen.“ Aufgrund der Kritik, die ihm dieser Satz einbrachte, untersuchte Huntington sämtliche Konflikte der frühen 1990er Jahre und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: „Muslime waren 1993/94 an 26 von 50 ethnopolitischen Konflikten beteiligt […]. 20 dieser Konflikte spielten sich zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Kulturen ab, davon 15 zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Es gab dreimal so viele interkulturelle Konflikte, an denen Muslime beteiligt waren, als Konflikte zwischen sämtlichen nichtmuslimischen Kulturen. Auch die intrakulturellen Konflikte waren im Islam zahlreicher als in jeder anderen Kultur einschließlich afrikanischer Stammeskonflikte. […] Konflikte mit Beteiligung von Muslimen waren auch tendenziell besonders verlustreich.“ Am Ende steht das Fazit: „Muslimische Kriegslust und Gewaltbereitschaft sind Ende des 20. Jahrhunderts eine Tatsache, die weder Muslime noch Nichtmuslime leugnen können.“
Seltsamerweise wird Huntingtons These gerade im Blick auf den IS zu widerlegen versucht. So schreibt etwa Sebastian Harnisch in der Zeitschrift „Internationale Politik und Gesellschaft“, der „Konflikt mit ISIS in Syrien und im Irak“ sei „kein Zivilisationskonflikt – auch wenn ISIS das gerne so darstellt“. In erster Linie sei es eine Auseinandersetzung „mit einer transnationalen Rebellengruppe, die die bestehende staatliche Ordnung durch einen religiösen Kalifatsstaat fundamentalistischer Prägung ersetzen will. ISIS hat in der Vergangenheit wesentlich mehr gemäßigte Muslime anderer Konfessionen getötet als Angehörige anderer ‚Zivilisationen’.“
Harnisch hätte mit diesen Ausführungen Huntington dann widerlegt, wenn dieser den Islam als monolithischen Block betrachtet hätte. Tatsächlich sind jedoch die „intrakulturellen“ Konflikte innerhalb des Islam Teil seiner Analyse, wenn er etwa den Revolutionsexport aus dem wahhabitisch verfassten Saudi-Arabien nach Bosnien beschreibt. Die Radikalisierung des bis dahin gemäßigten bosnischen Islam wirkte im damaligen Krieg um die Neuordnung des zerfallenden Jugoslawien wie ein Brandbeschleuniger. Tatsächlich hatte Huntington vor 20 Jahren die damals bekannten Fakten richtig gedeutet: Nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung entstand ein ideologisches Vakuum, und in fast allen Ländern mit muslimischer Bevölkerung gab es früher oder später Versuche, islamistische Parteien oder von islamistischen Staaten finanzierte Milizen in die nationale Politik einzuschleusen. Taliban, Hamas und Hisbollah waren nicht der Anfang, genauso wenig wie Boko Haram in Nigeria, al-Shabaab in Somalia, Abu Sayyaf auf den Südinseln der Philippinen und der Islamische Staat das Ende sind – sie markieren lediglich eine neue Eskalationsstufe.

vgl. den Artikel von Sebastian Harnisch: Clash of ignorance.